Titel
Die Stunde der Wahrheit?. Vom Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft


Autor(en)
Weingart, Peter
Erschienen
Weilerswist 2001: Velbrück Wissenschaft
Anzahl Seiten
397 S.
Preis
DM 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Prehn, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Schulterblatt 36, D-20357 Hamburg

An der Schwelle des ausgehenden 20. zum beginnenden 21. Jahrhundert vollzog sich - und vollzieht sich noch - die fortschreitende Legitimationskrise der Wissenschaft, gleichsam als Signum der modernen Wissensgesellschaft. Schlägt nun den Wissenschaften angesichts der für sie charakteristischen immer enger werdenden Anbindung der Erkenntnisproduktion an soziale Anwendungskontexte und der damit einhergehenden Gefährdung der Produktionsbedingungen von überprüfbarem, ‚objektivem’, gesichertem Wissen die ‚Stunde der Wahrheit’? Diese Frage stellt der Bielefelder Wissenschaftssoziologe Peter Weingart in seiner neuesten Studie, in der er die schwindende Distanz der Wissenschaft zur Politik, zur Wirtschaft und zu den Medien und die weitreichenden Folgen eines solchen Wandels der Wissensgesellschaft im ‚postindustriellen’ Zeitalter in den Blick nimmt.

Selbst diejenigen Historiker, deren für die Möglichkeiten und Ergebnisse inter- bzw. transdisziplinärer Forschungsansätze zuständiges Auge aufgrund prinzipieller Voreingenommenheit lange erblindet ist, müssten, sollten sie Weingarts Werk wider Erwarten doch wahrnehmen, eingestehen, dass der Autor nicht nur eine scharfsinnige wissenschaftssoziologische Analyse vorgelegt hat, sondern auch mit seinen - wenn auch zumeist knapp gehaltenen - auf soliden Kenntnissen beruhenden wissenschafts- und diskursgeschichtlichen Ausführungen zu überzeugen weiß.

1. Verwissenschaftlichung von Politik oder Politisierung der Wissenschaft?

Weingarts zentraler Befund hinsichtlich der Transformation der Wissensordnung, des „Ensemble[s] gesellschaftlicher Arrangements also, das Produktion und Diffusion von Wissen reguliert“, (16) ist schnell benannt: Infolge einer risikofixierten Technikernüchterung und der Erschütterung des szientistischen Optimismus im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts sieht Weingart die Wissensgesellschaft auf dem Weg einer zunehmenden „Institutionalisierung reflexiver Mechanismen in allen funktional spezifischen Teilbereichen sozialer Ordnung“ (16 f.). Dieser Wandel vollziehe sich in zwei interdependenten Prozessen, nämlich der Verwissenschaftlichung von Politik und der Politisierung der Wissenschaft (140), auf die Weingart bereits in einem 1983 erschienenen Aufsatz 1 hingewiesen hatte.

Die zu konstatierende institutionelle wie operative Verflechtung von Wissenschaft und Politik habe, so Weingart, zu der lediglich bei oberflächlicher Betrachtung zutreffenden Diagnose einer „Hybridisierung“ von Wissenschaft und Politik, einer „Verwischung der Grenzen“ (‚blurring of boundaries’) geführt. In terminologischer Hinsicht favorisiert Weingart den etwas blasseren, dafür jedoch allzweckwaffenartig einzusetzenden Begriff der „Kopplung von Wissenschaft und Politik“ als Beschreibung eines wechselseitig angetriebenen dynamischen Prozesses, als dessen Ergebnis ein zunehmender Distanzverlust zwischen Wissenschaft und Politik (Kap. 4 und 7 in Weingarts Studie) auszumachen sei. (159) Darüber hinaus untersucht er in jeweils eigenständigen Kapiteln (5 und 6) das immer enger werdende Verhältnis der Wissenschaft zur Wirtschaft und zu den Medien.

Grundlage der als Kopplung beschriebenen Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik ist (und bleibt), daran erinnert Weingart, „der Austausch von Ressourcen für die Wissenschaft gegen gesichertes Wissen für die Politik.“ (168) Der Kopplungsprozess führe jedoch auf verschiedenen Ebenen zu paradoxen gesellschaftlichen Entwicklungen: 1. zur Inflationierung wissenschaftlicher Expertise mit dem gleichzeitigen Effekt der zunehmenden Verunsicherung derjenigen Institutionen und Personen (Richter, Verwaltungsbeamte, Politiker), die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die vorrangigen Akteure im Prozess der öffentlichen Regulierungspraxis mit der immer dominanter werdenden Zielsetzung der gesellschaftlichen Risikoprävention darstellten und insofern verstärkt auf Ergebnisse etwa der Technikfolgenabschätzung oder Untersuchungen zur Umwelt- oder Sozialverträglichkeit angewiesen waren (151 ff.); 2. zur relativen Stabilität des zwischen Politikern und wissenschaftlichen ‚Experten’ bestehenden Beratungsarrangements trotz eines „allgemein anerkannten Autoritätsverlusts wissenschaftlicher Expertise“. (162)

Ausgehend von Foucaults Macht/Wissen-Konzept analysiert Weingart die Ambivalenzen der Ausdehnung von „Verwissenschaftlichungsprojekten“ (25) in gesellschaftliche Bereiche, die sich, etwa ab Mitte des 20. Jahrhunderts, als nicht mehr in herkömmlicher Weise normierbar erwiesen. Als paradigmatisch für diese neue Phase von Verwissenschaftlichung benennt er die so genannte friedliche Nutzung der Kernenergie, die als ein Beispiel für die „Einbettung von ‚großen’ und als riskant erfahrenen Technologien in komplexe soziale Gebilde“, also - um mit Michel Houellebecq zu sprechen - für eine Art ‚Ausweitung der Kampfzone’ der Diskurszusammenhänge, aber auch als zeitgenössisches Indiz für die Gefährdung der privilegierten Definitionsmacht von Wissenschaft anzusehen sei: Die ‚Distanz’ zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, so betont Weingart, sei mit der Entwicklung der industrialisierten Gesellschaften zu Massendemokratien immer weiter zusammengeschrumpft. (26) So sei im massendemokratischen Zeitalter überdies auf die wachsende Vielfalt von Funktionen wissenschaftlicher Expertisen zu verweisen: „Legitimierung, Überzeugung, Verzögerung oder Vermeidung von Entscheidungen, Rechtfertigung unpopulärer Entscheidungen, Schlichtung von Disputen und Klärung konfligierender Interessen“. (142 f.)

Insgesamt vollziehe sich der Trend zur Politisierung der Wissenschaft auf der Grundlage der gesteigerten Nachfrage der Politik nach gesichertem Wissen zur Lösung von Problemen und/oder zur Legitimierung von Entscheidungen. Neben dem bereits erwähnten Prozess der Inflationierung von Expertise kann als Folge der Politisierung von Wissenschaft ein Wandel ihrer Zielvorstellungen und -vorgaben ausgemacht werden; im ausgehenden 20. Jahrhundert manifestiert sich Wissenschaft als „Vorstoß in den Bereich des noch kontroversen, nicht konsentierten Wissens“ (168). So zielt eine aufgabenbezogene wissenschaftliche Forschung verstärkt auf die Herstellung strategischer Handlungsfähigkeit im politischen Bereich ab; Zukunft soll „durch hypothetische Entwürfe, Simulationen und Modelle vorweggenommen“ werden. (17) Als Entstehungskontext einer solchen Verwissenschaftlichung der Politik benennt Weingart die (potenziell grenzenlose) Zunahme des produzierten Wissens infolge gesteigerter Ressourcen, um deren Erlangung die Wissensproduzenten in einen immer härteren Konkurrenzkampf treten. Eine beinahe grenzenlos erscheinende Produktion von Wissen ermögliche, so Weingart weiter, die Lieferung instrumenteller Problemlösungen und Legitimation für politische Entscheidungen durch wissenschaftliche ‚Experten’, erzeuge jedoch zugleich „politische Erwartungen, Bedrohungen der Legitimität und folglich Handlungsimperative“, konkret: Maßnahmen, die durch selektive Verfahren eine Kontraktion der Wissensnachfrage bewirken (sollen), möglicherweise gar die Einführung institutioneller Hierarchien durch die Politik. Innerhalb der Wissenschaft bedeute diese Selektion die „Zusammenführung bzw. Monopolisierung von Expertise“ (168). Insgesamt also ein mithilfe vergleichsweise farb- und harmlos klingender Begriffe beschriebener Prozess - jedoch mit vielfältigen Implikationen und weitreichenden Folgen!

2. Öffentlichkeit oder ‚Wahrheit’?

Insbesondere weiß Weingarts Untersuchung des Wandels, dem sich der heutige, hochgradig ausdifferenzierte Wissenschaftsbetrieb hinsichtlich seiner Wirkung in den öffentlichen Raum hinein sowie bezüglich der ‚Rückwirkungen’ verstärkter öffentlicher Wahrnehmung und Kontrolle auf Selbstwahrnehmung und Funktion von Wissenschaft unterworfen sieht, in den Abschnitten zu überzeugen, in denen der Autor die Rolle der Medien als Vermittlungsinstanz wissenschaftlicher Erkenntnisse beleuchtet. Mit dem sich im 20. Jahrhundert vollziehenden Strukturwandel hin zu einer massendemokratischen Öffentlichkeit ging vor allem die ‚Popularisierung’ der im öffentlichen Diskurs noch immer als ‚überlegen’ erachteten Wissensform des wissenschaftlichen (‚wahren’) Wissens in den Medien einher. Allerdings bedeute ein medial vermitteltes, ‚popularisiertes’ Wissen in der Binnenperspektive vieler Wissenschaftler, so Weingart, auch heute noch im besten Fall lediglich die „Vereinfachung, im schlimmsten Fall Verunreinigung“ des von ihnen produzierten Wissens (233), wobei dieser Trend - wenn auch meist nur für einen kurzen Zeitraum - einzelnen geschickt agierenden Vertretern eine relativ große mediale Präsenz ermöglicht.

Weitaus nachhaltiger stellt sich eine andere Gefahr dar, die für die Wissenschaft, ihre Validierungskritierien sowie ihre Selbstregulierungsinstanzen und -mechanismen von der ‚Popularisierung’ wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgeht: „Die Zustimmung von ‚außen’, der leicht erheischte Massenapplaus, verfälscht unter Umständen das unbequeme und kritische Urteil der Fachkollegenschaft“ (235), in der medialen Berichterstattung über Wissenschaft, das zeigt Weingart etwa am Beispiel der Goldhagen-Debatte in Deutschland (267 ff.) eindrücklich, tritt „mediale Prominenz potenziell in Konkurrenz zu wissenschaftlicher Reputation“. (239) Das Prinzip des „peer review“, der Begutachtung und Bewertung von Publikationen und Forschungsanträgen durch die dazu allein kompetenten Kollegen („peers“), und letztlich die Autonomie der Wissenschaft, ist damit potenziell bedroht. Die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Neutralität werde überdies gefährdet durch die ‚verlockende’ Möglichkeit für die Wissenschaft - insbesondere die in akute Legitimierungskrisen geratenen Disziplinen -, die Medien mit dem Ziel der Akzeptanzbeschaffung zu instrumentalisieren. (248)

Mit dem Bedeutungszuwachs der Medien ging jedoch auch ein Bedeutungsverlust patriarchalischer Formen wissenschaftlicher Aufklärung ‚von oben’ einher. Diese Entwicklung ist als ein Teilprozess des grundlegenden Wandels von Öffentlichkeit (und damit auch des Öffentlichkeitsbegriffs) im 20./21. Jahrhundert zu begreifen: Weingart weist mit Recht darauf hin, „dass es DIE Öffentlichkeit, die in ihren Interessen homogen ist und wissensbegierig auf die Informationen der Wissenschaft wartet, nicht (mehr) gibt“. (249) Vielmehr beschreibt er den Wandel der Kommunikation von Wissenschaft in die Öffentlichkeit als „Wissenschaft-Medien-Kopplung“, woraus er die These von der „Medialisierung der Wissenschaft“ ableitet. (252) Wie im Hinblick auf die Politik komme den Medien auch in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft eine legitimatorische Funktion zu, welche im Zusammenspiel mit dem „konstruktive[n] Effekt der medienspezifischen Verarbeitung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse zur Entstehung großer politisch relevanter Themenkomplexe führen [könne], die der Tendenz zu einer auf die Erlangung von Aufmerksamkeit gerichteten diskursiven Überbietungsdynamik“ - unter dem inflationär gebrauchten Rubrum ‚der neueste Stand der Forschung’ - folgen. (253)

Mit Blick auf den Wahrheitsanspruch der Wissenschaft skizziert Weingart die Gefahren ihrer zunehmenden Kopplung an die Medien, doch hält er sich in der Beurteilung der Folgen dieses Distanzverlusts und ihres Ausmaßes zurück: Die entscheidende Frage laute, „ob die Medien indirekten Einfluss auf die (bzw. in Konkurrenz zu den) Selbststeuerungsmechanismen der Wissenschaft gewinnen, das heißt, ob der Bezug auf Öffentlichkeit ein größeres Gewicht erhält als der Bezug auf ‚Wahrheit’.“ (282) Auch wenn der endgültige Beweis für eine solche Tendenz nicht erbracht sei, so sieht Weingart doch eine Vielzahl von Indizien für eine tendenziell beunruhigende, durch zunehmende Interdependenzen und paradoxe Entwicklungen gekennzeichnete Veränderung der politischen, der Medien- und der Wissenschaftslandschaft. Ausdruck eines solchen Wandels sei ein - offenbar unumkehrbarer - Trend: die stärker werdende „Interferenz des (wissenschaftlichen) Kontexts der Rechtfertigung des Wissens (context of justification) und des (politischen) Bedeutungskontexts (context of relevance)“. (328)

3. „Peer review“ oder Externalisierung der Leistungsbewertung?

Das bereits erwähnte „Peer-review“-System, in der öffentlichen Debatte bisweilen verkürzend als eine Art (‚Wahrheits’-)TÜV-Plakette der Fachzeitschriften charakterisiert, wird in Wahrheit in drei unterschiedlichen Kontexten als Beurteilungsinstrument eingesetzt, und zwar: 1. bezüglich der Qualität wissenschaftlicher Arbeiten vor deren Veröffentlichung, 2. im Hinblick auf Projektanträge an Förderorganisationen zur Forschungsfinanzierung und 3., um Forschungsergebnisse zu beurteilen und zu interpretieren, die als Grundlage für politische Maßnahmen dienen sollen. Die Schwächen und Grenzen des Systems sind in den letzten Jahren durch die Aufdeckung einiger spektakulärer Betrugsfälle evident geworden; ein Befund, der erst kürzlich durch einschlägige Berichte von Redakteuren einer Reihe wichtiger biomedizinischer Fachjournale erneute Bestätigung gefunden hat. 2

Zwar drückt „peer review“ den Anspruch der „scientific community“ auf professionelle Autonomie aus; bewusste Unredlichkeit und andere Formen der Abweichung vom ‚Ethos der Wissenschaft’ führen jedoch unweigerlich zu einem Vertrauensverlust der Öffentlichkeit in selbige, bisweilen zur Unterminierung des Vertrauensverhältnisses innerhalb der „scientific community“ selbst. So glich die Externalisierung der Leistungsevaluation in den verschiedenen Phasen ihrer Umsetzung, u. A. durch die Einführung von Zitationsanalysen und anderen quantitativen Methoden (Erhebung von Publikationsziffern etc.), bisweilen einem scheinobjektiven Wissenschafts-„Controlling“ und hat(te) mithin vorrangig eine legitimatorische Funktion - jedoch auch Folgen sowohl in organisatorischer als auch epistemischer, die wissenschaftliche Kommunikation selbst betreffender Hinsicht: Der Trend zur Evaluation von außen, so Weingart, habe durchaus zur Professionalisierung von Leitungsfunktionen in den Universitäten, zu einer Ausdifferenzierung des Wissenschaftsmanagements geführt. (319) Auf die Einführung eines Systems von ‚Belohnung’ und ‚Bestrafung’ reagierten die Wissenschaftler in zunehmendem Maße strategisch, etwa in ihrem Publikationsverhalten: Hier geht der Trend zur Veröffentlichung möglichst kleiner Einheiten, im Fachjargon „least publishable units“. Externe Evaluierungen, so Weingarts schlichtes Resümee, könnten nun einmal nicht unabhängig von den Einschätzungen der Wissenschaftler selbst funktionieren. So mögen die Wissenschaften, lange Zeit eine Sphäre weitreichender selbstgewählter Abschottung von anderen gesellschaftlichen Sektoren, infolge verstärkter medialer Aufmerksamkeit und zunehmender öffentlicher Kontrolle die ‚Intimsphäre’ des Elfenbeinturmes verlieren, jedoch wohl kaum das Privileg der Selbstevaluation.

4. Elitäre Wissenschaft oder „Demokratisierung“ der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft?

In seiner Gesamtinterpretation modifiziert Weingart die nicht mehr ganz taufrische These des amerikanischen Soziologen Robert K. Merton, der bereits in den 1940er und 50er Jahren die demokratische Gesellschaftsformation als Entstehungszusammenhang des ‚Siegeszuges’ der modernen, universalistischen Kriterien folgenden Wissenschaft benannt hatte 3, nur insofern, als er die fortschreitende Tendenz zur „Politisierung der Wissenschaft“ als „untrennbar mit der Demokratisierung der Gesellschaft [...] verbunden“ betrachtet. (329) So zeigt Weingart mit den Stichworten „Politisierung“, „Kommerzialisierung“ und „Medialisierung“ der Wissenschaft zwar durchaus die Ambivalenzen dieses ‚Siegeszuges’ der Wissenschaft auf und weist nachdrücklich die Gefahren und Folgen ihres Autoritätsverlusts sowie ihres kaum mehr einzulösenden Exklusivitätsanspruchs hin. Gleichwohl konstatiert er nüchtern: „Es gibt keine Alternative zu wissenschaftlicher Expertise, um politische Entscheidungen mit einer instrumentell verlässlicheren Grundlage und damit einer höheren Legitimität zu versehen.“ (169)

Folgt man Weingarts schlüssiger Analyse, so stehen wir erst am Anfang einer Entwicklung, in der durch zunehmende politische Instrumentalisierung die Grenze zwischen gesichertem und hypothetischem Wissen mehr und mehr verwischt wird. Gleichzeitig wächst durch die bereits im Produktionsstadium einsetzende öffentliche, d. h. mediale Beobachtung von Wissen (‚public science’) die Bedeutung von öffentlichen Repräsentationen und Symbolen; seit Jahren ist eine steigende Konjunktur von ‚Public-Relations’-Agenturen, von Instanzen also, die zwischen einem breiten externen Publikum und der Wissenschaft vermitteln, zu beobachten. Ein solches „PR-Management“ ist aus Weingarts Sicht „ein Produkt der engen Kopplungen, ein funktionales Äquivalent für Distanz“, kurz: „die derzeitige Form der Re-Integration der Wissenschaft in die Gesellschaft“. (354) So wird sich Wissenschaft unter den geänderten Vorzeichen einer neuen Wissensordnung der ‚postindustriellen’ Informationsgesellschaft auch jener neuen Formen des PR-Managements bedienen müssen, um in der Konkurrenz um Vertrauen und Glaubwürdigkeit bestehen und weiterhin den Prozess der ‚Wahrheits’-Kommunikation gewährleisten zu können.

In Übereinstimmung mit dem Münsteraner Soziologen Uwe H. Bittlingmayer seien jedoch Zweifel und partieller Einspruch in Bezug auf die - bei Weingart, wenn überhaupt, nur unterschwellig anklingende - These angemeldet, „der zufolge Wissensgesellschaften sich durch eine bereits durchgesetzte Leistungsgerechtigkeit [...] sowie durch gesamtgesellschaftlich gestiegene Handlungsoptionen auszeichneten“, was mittelfristig zu einer Nivellierung sozialer Ungleichheit, insbesondere im Hinblick auf das angeblich ‚demokratiserend’ und kulturell ‚enthierarchisierend’ wirkende Medium Internet, führe. 4 Allerdings trifft diese Kritik im Kern eher auf die neueren Arbeiten des in Kanada lehrenden Soziologen Nico Stehr zu. 5 Demgegenüber besteht die Stärke von Weingarts Ansatz darin, dass er, obwohl er vorwiegend die Makrostrukturen der modernen Wissensgesellschaft beleuchtet, anhand einer Vielzahl von Fallbeispielen eben auch die Handlungskontexte, -motive, und -strategien der für die Ausgestaltung der heutigen (und künftigen) ‚Ordnungen’ der Wissens- und Informationsgesellschaft maßgeblich verantwortlichen Akteure in den Blick rückt. Nicht zuletzt bestimmt das zwischen den beiden Polen „Wahrheitsorientierung der Wissenschaft“ und „Demokratisierung der ‚postindustriellen’ Gesellschaften“ (354) bestehende Spannungsverhältnis den Handlungskontext der aus den verschiedenen sozialen Sektoren heraus agierenden Institutionen und Einzelpersonen. Ein Spiel, in dem es um einiges geht - und die Distanz zwischen den Mitspielern schwindet zusehends.

Anmkerkungen:
1 Peter Weingart, Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Politisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 12 (1983), S. 225-241.
2 Vgl. hierzu den Artikel von Klaus Koch, Zeitschriften unter der Lupe, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 221 vom 25. September 2001. Für die Diskussion über Qualitätsstandards in der sozialwissenschaftlichen Forschung vgl. neuerdings: Franz Breuer/Jo Reichertz, Wissenschafts-Kriterien: Eine Moderation, in: Forum Qualitative Sozialforschung / Qualitative Social Research [Online Journal] 2 (2001), no. 3; verfügbar über:
http://www.qualitative-research.net/fqs/fqshtm
3 Vgl. etwa Robert K. Merton, Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur [1957], in: Peter Weingart (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie 1: Wissenschaftliche Entwicklung als sozialer Prozess, Frankfurt/Main 1972, S. 45-59, hier vor allem S. 48-50.
4 Zur Kritik an diesem Ansatz siehe Uwe H. Bittlingmayer, „Spätkapitalismus“ oder „Wissensgesellschaft“?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/2001, S. 15-23, Zitat: S. 15.
5 Vgl. Nico Stehr, Moderne Wissensgesellschaften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/2001, S. 7-14, hier vor allem S. 12 f.

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