G. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa

Cover
Titel
Die Geschichte des Rassismus in Europa.


Autor(en)
Mosse, George L.
Reihe
Fischer Geschichte 16770
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: S. Fischer
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 12,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Barth, Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Als 1978 George L. Mosse sein Buch „Toward the Final Solution. A History of European Racism“ publizierte, sagten die „Annals of the American Academy of Political and Social Science“ in einer Rezension voraus, dass dieses Buch noch Jahrzehnte später von Geschichtsstudent/innen mit Gewinn gelesen werden würde. Damals wurde das Buch noch im selben Jahr auf deutsch bei Athenäum publiziert. 1990 veröffentlichte der S. Fischer Verlag eine zweite Auflage, die seit langem vergriffen ist. Seit Anfang 2006 ist das Buch unverändert erneut bei Fischer erhältlich. Wie bespricht man nun ein Buch, das vor fast 30 Jahren geschrieben worden ist und das eine erhebliche Wirkungsgeschichte aufzuweisen hat? Die klassische Methode, Form und Inhalt den Leser/innen kapitelweise gerafft vorzustellen, macht hier sicherlich wenig Sinn. Stattdessen sollen im Folgenden vier Aspekte herausgegriffen werden, die inzwischen angesichts neuerer Forschungen entweder als problematisch, oder immer noch als aktuell erscheinen.

1. Mosse beurteilt den wissenschaftlichen Rassismus nicht als groteske Verirrung und Anhäufung von dumpfen Vorurteilen, sondern nimmt ihn als gedankliches System sehr ernst. Hier unterscheidet er sich von vielen seiner Vorgänger/innen in den 1960er und 1970er-Jahren, die den Rassismus des 19. Jahrhunderts lediglich als obskuren pseudowissenschaftlichen Unsinn einiger esoterischer oder okkulter Außenseiter/innen abtaten, der letztlich nur durch ökonomische Krisenerscheinungen erklärbar sei. Mosse hingegen ist der Meinung, dass der westliche Rassismus ein umfassendes System wie Konservatismus, Liberalismus oder Sozialismus mit eigener Struktur und eigenen typischen Denkformen gewesen sei. Hieraus folgt, dass nicht nur die Rassentheorien selbst betrachtet, sondern auch viele nur scheinbar untergeordnete Nebenaspekte thematisiert werden müssen. Hierzu gehören zum Beispiel Gender-Aspekte wie Vorstellungen von Männlichkeit und Normalität, bestimmte Grundannahmen über die Natur von Sprache oder Geschichte, moralische Kategorien, die neben Vorurteilen auch Sexualität, irrationale Ängste, Tugenden und Idealbilder von Ehrbarkeit beinhalten oder scheinbar harmlose Stereotype von Schönheit und Hässlichkeit, deren Ambivalenzen bereits in der Aufklärung entstanden sind. Vor allem eine nur schwer greifbare sexuelle Dimension habe entstehende rassistische Stereotype vertieft. Beim Erscheinen des Buches fiel es vielen Historiker/innen schwer, diese eher „weichen“ Faktoren für die vorherrschende „harte“ Politikgeschichte nutzbar zu machen. Heute hingegen ist ein Zusammenhang zwischen Rassismus und Gender-Aspekten weitgehend akzeptiert, so dass Mosses Programm weitgehend eingelöst und fast nur noch von historiografischer Bedeutung ist.

2. Mosse stellt programmatisch fest, dass jedes Buch über den Rassismus nicht mit den Anfängen, sondern mit dem Ende, das heißt der Ermordung von sechs Millionen Juden beginnen müsse. Die Shoah stellt für Mosse den definitiven Endpunkt einer rassistischen Denkweise dar, die er konsequent aus zwei Jahrhunderten Geschichte entwickeln möchte. Hier soll nicht die Frage der Teleologie kritisiert werden, die mit diesem Ansatz verknüpft ist. In das Buch gehen aber durch die Fixierung auf den Zielpunkt Auschwitz gleichzeitig zwei Vorannahmen ein, die heute kaum noch haltbar sind: Erstens beschränkt sich Mosse auf die Entstehung des europäischen (!) Rassismus, wobei die europäische Expansion fast völlig ausgeblendet wird, und zweitens setzt er die Anfänge rassistischen Denkens bewusst mit der Aufklärung an. Eine kaum noch übersehbare Menge an Literatur hat inzwischen eindeutig gezeigt, dass zumindest die Grundzüge typischer rassischer Denkkategorien in der Begegnung der Europäer mit Völkern in der überseeischen Welt und im kolonialen Kontext entstanden sind. Mosses Trennung in einen historisch ‚wichtigen’ europäischen Rassismus und einen geschichtlich eher ‚unwichtigen’ in den USA oder in Afrika scheint dem Rezensenten angesichts des heutigen Forschungsstandes eine unzulässige Verkürzung darzustellen. Ferner hat Mosse eine wirkliche Pionierleistung vollbracht, weil er einen bis dahin fast völlig übersehenen Zusammenhang zwischen den Schönheitsidealen der Aufklärung und der Entstehung rassischer Stereotypen im westlichen Europa erstmals thematisierte. Inzwischen haben aber viele Untersuchungen gezeigt, wie stark die Aufklärung auch hier durch die Auseinandersetzung mit der außereuropäischen Welt geprägt war. Erwähnt sei nur das kluge Buch von David Bindman (Ape to Apollo. Aesthetics and the Idea of Race in the 18th Century, London 2002) das den Leser/innen anstelle von Mosses inzwischen veraltetem Ansatz empfohlen sei.

3. Ambivalent stellt sich die vorwiegend geistesgeschichtliche methodische Herangehensweise dar. Mosse verfügt über einen weiten Horizont und über eine umfassende Bildung: Er kennt die französische Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts genauso gut wie die englische und deutsche, und kann dadurch eine wirkliche europäische Perspektive erstellen.

Mosse schildert treffend die Gedankenwelt der „Klassiker“ des Rassismus wie Gobineau, Vacher de Lapouge, die Folgen von Darwin, Knox, die Eugeniker, Galton und andere. Auch die häufig wirre und inkonsistente Gedankenwelt zweitrangiger rassistischer Autoren hat Mosse mit großem Fleiß der Vergessenheit entrissen und den Inhalt ihrer Pamphlete knapp und präzise dargestellt. Deshalb ist das Buch immer noch eine Fundgrube auch für die Werke abgelegener Schreiberlinge. Eine Schwäche des Buches ist demgegenüber aber seine soziale Unbestimmtheit. Gänzlich unklar bleibt, wie die konkrete gesellschaftliche Wirkung einzelner Autoren einzuschätzen ist und welche sozialen Gruppen sich aus welchen Gründen als anfällig für Rassentheorien erwiesen haben. Wenn beispielsweise konstatiert wird, dass die Wirkung eines bestimmten Autors in Frankreich höher als in England gewesen sei, so ist dies ebenso richtig wie banal. Aber in welcher sozialen Schicht dieser Autor warum gelesen und rezipiert wurde wird demgegenüber nur wenig untersucht. Auch stellt die Entwicklung des Rassismus keineswegs einen linearen Aufstiegsprozess dar, denn theoretisierende Rassisten aller Couleur stießen stets auch auf vehementen intellektuellen Widerstand. Sie befanden sich deshalb immer auch in einer diskursiven Auseinandersetzung mit wirklichen oder imaginären Gegnern, ein Aspekt, der bei Mosse etwas zu sehr am Rande abgehandelt wird.

4. Mosse verwendet den Begriff „Rassismus“ vor allem in der zweiten Hälfte des Buches fast synonym mit dem Terminus „Antisemitismus“, weil er zeigen will, wie aus scheinbar harmlosen geistesgeschichtlichen Anfängen das gigantische nationalsozialistische Mordprogramm entstehen konnte. Mosse verfügt über umfassende und fundierte Kenntnisse der internationalen antisemitischen Literatur, und auch heute noch wird jeder, der sich mit der Entwicklung des Antisemitismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert beschäftigt, diese Kapitel mit Gewinn lesen. Mosses Ansatz liefert zwar keine ausreichende Erklärung für das vielfältige und schillernde Phänomen des Rassismus insgesamt, sehr wohl aber zeichnet er einen von mehreren geistesgeschichtlichen Wegen nach, der im Nationalsozialismus, der wohl extremsten Form des europäischen Rassismus, endete.

Fazit: Dem Fischer-Verlag ist zu danken, dass er diesen Klassiker in einer preisgünstigen Version erneut einem breiteren Publikum zugänglich gemacht hat. Auch wenn vieles heute veraltet oder zumindest kritikwürdig ist, so handelt es sich doch um ein grundlegendes und immer noch anregendes Buch, das im keiner Bibliothek fehlen darf.

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