H Gerndt u.a. (Hgg.): Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaf

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Titel
Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft


Herausgeber
Gerndt, Helge; Haibl, Michaela
Reihe
Münchner Beiträge zur Volkskunde 33
Erschienen
Münster 2005: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nora Mathys, Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie, Universität Basel

Im Zeichen des ‚pictorial turn‘ und der damit verbundenen Hinwendung zur visuellen Kultur sind in den letzten zehn Jahren zahlreiche Publikationen erschienen und ist ein virtuelles ‚Institut der Bildwissenschaft‘ ins Leben gerufen worden, an dem sich neben der Kunstgeschichte zahlreiche der bisher für visuelle Phänomene weniger empfänglichen Fächer der Geistes- und Sozialwissenschaften beteiligen. 1 Der hier zu besprechende Sammelband, der aus einer im Februar 2004 in München veranstalteten gleichnamigen Tagung hervorgegangen ist, ist ein Beitrag der Volkskunde zu der sich formierenden interdisziplinären Bildwissenschaft und kann als Versuch verstanden werden, ihr einen festen Platz in diesem Rahmen zu sichern.

Die insgesamt 24 hier versammelten Aufsätze sind in sechs Kapitel eingeteilt („Das Interesse am Bild“, „Die Historische Dimension der Bilder“, „Bildvermittlung im modernen Alltag“, „Der Umgang mit den Bildern“, „Das Lesen von Bildern“ und „Fragen der visuellen Kultur“), die jeweils mit einer kurzen Zusammenfassung der Texte eingeleitet werden. Die Themenblöcke sind erkennbar abstrakt und weit gefasst, so dass die Gliederung bisweilen etwas beliebig wirkt, da viele der Texte ebenso gut in einem anderen Teil hätten Platz finden können. Die zentralen Fragen des Bandes sind der thematischen und theoretisch-methodischen Breite des Faches entsprechend offen formuliert: Inwieweit ist der ‚iconic turn‘ für die Volkskunde ein neues Forschungsparadigma? Wie sieht eine volkskundliche Bildwissenschaft aus? Welches sind ihre spezifischen Beiträge und Interessen?

Antworten auf die Frage nach dem Foschungsparadigma sind in mehreren Aufsätzen zu finden; den Band durchzieht jedoch der allgemeine Tenor, dass die Volkskunde mit ihrer weit zurück reichenden Tradition, sich mit popularen Bildern auseinanderzusetzen, geradezu dazu prädestiniert sei, einen Beitrag zur Bildwissenschaft zu leisten. Verwiesen wird dabei vor allem auf die für das Fach grundlegenden Arbeiten von Nils-Arvid Bringéus, Leopold Kretzenbacher, Martin Scharfe und Wolfgang Brückner aus den 1960er, 1970er und 1980er-Jahren. 2 Zugleich erklingen mehrere Voten, die die Notwendigkeit einer methodischen und theoretischen Weiterführung sowie einer Erneuerung der Auseinandersetzung mit Bildern hervorheben. Insbesondere Ulrich Hägele (S. 375-388) fordert die Volkskunde auf, „aus ihren Startlöchern herauszukommen“ (S. 381), da sie ansonsten von anderen Fächern, die sich inzwischen auch der alltäglichen Bilder annähmen, überrollt werde. Gerade die methodische Breite und Offenheit der Volkskunde bildeten gute Voraussetzungen für die Erforschung der alltäglichen Bilderwelten. In eine ähnliche Richtung argumentiert Helge Gerndt (S. 13-34): Durch die zunehmende Bedeutung der Bilder im Alltag sei ein Paradigmenwechsel erforderlich, da die Volkskunde diejenige Wissenschaft sei, „die von den Alltagserscheinungen ausgeht“ (S. 31). Konsequent fordert er in seiner Skizze einer volkskundlichen Bildwissenschaft „entschieden mehr als nur eine additive Erweiterung des alten Sachkanons oder einen formalen Schwenk vom Wort zum Bild“ (S. 32). Sein Programm ist dementsprechend umfassend: Bildtheorie, Bildüberlieferung, Bildkommunikation, Bildpragmatik, Bildsemantik und -syntax sowie die Bildwahrnehmung sind feste Bestandteile. Das spezifisch volkskundliche seines Entwurfs ist der Fokus auf die Alltagsbilder und den Bilderalltag.

In seinem sehr anregenden Beitrag weist Gottfried Korff (S. 49-65) Anknüpfungspunkte an Aby Warburgs „Engramme“ auf. Demnach seien Bilder als Externalisierung und Objektivierung von Leidenschaften, Ängsten und Erfahrungen in ihrer materialisierten Form und Gestalt zu untersuchen. Dabei macht Korff deutlich, dass das „Sehen“ kulturell bedingt und somit historisch variabel ist. Um die „Kollektivgeistigkeit“ (S. 60) und Zeitabhängigkeit der Bilder zu rekonstruieren, sei es wichtig, die „Strategie[n] und Folgen der Sichtbarmachung“ und die „Probleme des ‚kulturellen Sehen[s]‘“ (S. 53) zu untersuchen. Die Beschäftigung mit Bildern erfordere zudem einen langen und genauen Blick auf eben diese, die nur im Zusammenhang mit der „symbolischen longue durée“ (S. 63) der Bildkulturen und der Reflexion über das Wechselverhältnis von Bild und Text zu entschlüsseln seien. Wolfgang Brückners (S. 35-48) Beitrag widmet sich dem Verhältnis der Wissenschaften zu Text und Bild. Er sieht die Vernachlässigung der Bildquellen in der abendländischen Tradition begründet, die sich Erkenntnis lediglich aus „Gedanken“ (S. 36) versprochen habe. Erst mit dem Poststrukturalismus sei erkannt worden, dass Texte ebenso wie Bilder Konstrukte sind, die spezifische Vorstellungen der Welt repräsentieren. Daher setzt er die Bilder den Texten gleich und fordert dazu auf, sie zu lesen, denn als historische Kulturwissenschaft besitze die Volkskunde „mit der Empirie systematischer Quellensuche und erprobter Quellenkritik [...] noch immer Kompetenz und Konzepte genug“ (S. 46), um die Erforschung der visuellen Kultur angehen zu können.

Neue Ansätze aus der Literaturwissenschaft und den ‚Cultural Studies‘ werden insbesondere in den Beiträgen von Irene Götz und Franziska Schürch aufgenommen und für die Volkskunde nutzbar gemacht. Das bildanalytische Konzept der „Visiotype“ von Uwe Pörksen ist nach Irene Götz (S. 187-198) eine fruchtbare Erweiterung des volkskundlichen Zugangs zu den Bildern im Medienzeitalter, das seinerseits jedoch mit den volkskundlichen Methoden der ethnografischen Beschreibung der Kontexte und biografischer Interviews zu ergänzen ist, damit der alltäglichen Umgang mit öffentlichen Bildern erfasst werden könne. Auf die fruchtbare Verbindung zwischen James Cliffords Kunst-Kultur-System, der Sachkultur- und der Bildforschung macht insbesondere Franziska Schürch (S. 367-373) aufmerksam. Sie lenkt den Blick auf den prozessualen Charakter der Bewertung und Bewegung von Artefakten und interpretiert die Mensch-Ding-Beziehung als dynamischen und wechselseitigen Prozess. Volkskunst werde so nicht nur in das bewertende System der Kunst eingegliedert, sondern der Umgang mit Kunst als eine „Organisation der Differenz“ (S. 367) verstanden und so als kulturelle Praxis erfasst, über die „zeitgenössische soziale Werte und Normen und ihre Verwurzelung in verschiedenen Institutionen“ (S. 369) sichtbar würden. Es wäre hilfreich gewesen, hätten die beiden Autorinnen an exemplarisch ausgewähltem Material aufgezeigt, wie ein solcher Methodenmix praktisch aussehen könnte.

Die facheigene Bildproduktion kommt alleine bei Friedemann Schmoll (S. 233-250) zur Sprache: Er legt am Beispiel des ‚Atlas der deutschen Volkskunde‘ dar, wie Vertreter der Disziplin die Visualisierung als „Strategie der disziplinären Etablierung“ (S. 249) nutzten, indem sie wissenschaftliche Aussagen zum Zusammenhang von ethnischer Kultur und geografischem Raum durch ihre Sichtbarmachung belegten. Andere im Fach verwendete Visualisierungstechniken, wie z.B. die Fotografie 3, werden leider in keinem der Beiträge behandelt. Eine breite Reflexion der eigenen Bildproduktion und des eigenen Umgangs mit Bildern wäre aber zweifellos ein wichtiger Aspekt für eine volkskundliche Bildwissenschaft.

Einigkeit herrscht unter den Autoren/innen darüber, dass der Bildbegriff weit zu fassen sei; innere Bilder gehören ebenso wie Sprachbilder, virtuelle, technische und ‚traditionelle’ sowie dreidimensionale Bilder zum Forschungsfeld. Eine Hierarchisierung oder Bewertung der verschiedenen Bildgattungen wird dabei durchgehend als erkenntnishemmend abgelehnt. Die spezifischen Interessensfelder der volkskundlichen Bildwissenschaft sind der Umgang mit alltäglichen Bildern – insbesondere deren Produktion und Rezeption – sowie ihre Identifikations- und Orientierungsfunktionen. Dementsprechend nehmen viele der Beiträge die Bildpraxis, insbesondere die Bildrezeption, in den Blick. Dabei wird die Breite und Vielfältigkeit der Auseinandersetzung mit visuellen Phänomenen im Fach deutlich: Der aus- und eingrenzende Umgang mit Bildern in Wissenschaft und Gesellschaft und ihre normierenden Wirkungsweisen wird von Walter Leimgruber (S. 213-232) am Beispiel der Darstellung des menschlichen Körpers erläutert. Michaela Haibl (S. 275-295) fordert Ausstellungsmacher und Wissenschaftler auf, ihren Umgang mit „Artefakten aus Konzentrationslagern“ zu überdenken und die Bilder stärker als „Zeichen und Ausdruck“ (S. 295) von Menschen in Extremsituationen zu deuten. Den wissenschaftlichen Umgang mit den so genannten ‚neuen Medien‘ problematisiert Christoph Köck (S. 199-209): Er diagnostiziert einen grundlegenden Wandel von der linearen zur navigierenden Wahrnehmung im Zusammenhang mit den neuen Medien. Daniel Drascek (S. 121-133) untersucht die kulturellen Techniken, über die der Dialog zwischen historischen Bildern und den modernen Bilderwelten hergestellt wird, und macht einen „Modus der Visualisierung“ aus, der „Weltverstehen und Alltagshandeln“ strukturiert (S. 131). In eine ähnliche Richtung argumentiert Albrecht Lehmann (S. 157-168), indem er die Bedeutung des Bildgedächtnisses für die „Orientierung in der Welt“ (S. 161) hervorhebt. Er zeigt an Landschaftsbildern auf, wie die über Bilder verinnerlichten Kenntnisse über Form und Stimmung der Landschaften in Erzählungen als Wissen wiedergegeben werden. Silke Göttsch (S. 107-119) führt vor, wie über von Laien produzierte Bilder visuelle Strategien der Aneignung von fremden Welten freigelegt werden können: So werden über Zeichnungen Raum und Zeit erschlossen und die Tier- und Pflanzenwelt systematisch geordnet und angeeignet. 4

Im Überblick spiegelt der Band also die für die Volkskunde charakteristische Vielfalt von Themen, Zugängen und Methoden wider. Der übergreifende Bezugspunkt gerät dabei allerdings stellenweise aus dem Blickfeld. Trotz der Varianz der Texte in ihrem Reflexionsgrad und in Hinblick auf den Einbezug von interdisziplinären Ansätzen der Bildanalyse gibt das Gesamtwerk dennoch einen guten Einblick in die aktuellen volkskundlichen Arbeiten im Bereich der visuellen Kultur. Neben dieser Standortbestimmung erhalten die Leser/innen erste Hinweise für mögliche Weiterführungen der volkskundlichen Bildforschung. Es wird aber auch deutlich, dass die Erforschung des Bilderalltags noch in den Anfängen steckt.

Anmerkungen:
1 Vergleiche die Homepage des „Virtuellen Instituts für Bildwissenschaft“: <http://www.bildwissenschaft.org> und den vom Institut herausgegebenen Sammelband: Sachs-Hombach, Klaus (Hg.), Bildwissenschaft. Zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005.
2 Brückner, Wolfgang, Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies, Berlin 1966; Scharfe, Martin, Evangelische Andachtsbilder. Studien zu Intention und Funktion des Bildes in der Frömmigkeitsgeschichte vornehmlich des schwäbischen Raumes, Stuttgart 1968; Kretzenbacher, Leopold, Bilder und Legenden. Erwandertes und erlebtes Bilder-Denken und Bild-Erzählen zwischen Byzanz und dem Abendlande, Klagenfurt 1971, und Bringéus, Nils-Arvid, Volkstümliche Bilderkunde, München 1982 [schwed. Orig. 1981].
3 Hägele, Ulrich, Visualisierung zwischen Folklore, völkischer Wissenschaft und ethnografischem Forschungsfeld: DFG-Projekt „Fachgeschichte der volkskundlichen Fotografie“ (Teil I, III), in: Rundbrief Fotografie 32 (2001), S. 30-37 und 34 (2002), S. 35-38.
4 Da nicht alle Beiträge im zur Verfügung stehenden Rahmen besprochen werden können, sollen deren Autoren/innen wenigstens erwähnt werden: Nils-Arvid Bringéus, Ruth-E. Mohrmann, Martin Scharfe, Bärbel Kerkhoff-Hader, Guido Facklers, Lioba Keller-Drescher, Burkhart Lauterbach, Nina Gockerell, Thomas Raff, Ueli Gyr, und Cordula Carla Gerndt.

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