M. Münzel: Jüdische Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite

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Titel
Die jüdischen Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite 1927-1955. Verdrängung - Emigration - Rückkehr


Autor(en)
Münzel, Martin
Reihe
Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart
Erschienen
Paderborn 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
502 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Gehlen, Historisches Seminar Abt. VSWG, Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn

Die Bielefelder Dissertation von Martin Münzel streift mehrere aktuelle Forschungsfelder: Eliten, Netzwerke und „Arisierung“.1 Sie widmet sich mit den jüdischen Angehörigen der Wirtschaftselite erstmals den „vergessenen Wirtschaftsführern“ – so der frühere Projekttitel der Arbeit – und leistet einen epochenübergreifenden Beitrag zur Erforschung des Wirtschaftsbürgertums (S. 13), so dass sich die Fragestellung nach Kontinuitäten und Brüchen von der Weimarer Zeit bis in die frühe Bundesrepublik förmlich aufdrängt (S. 15).

Münzel legt in Kapitel I ausführlich sein Untersuchungskonzept dar, das er mit Hilfe der Neuen Institutionenökonomie und der Arbeiten Pierre Bourdieus – insbesondere dessen Unterscheidung von ökonomischem, sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital – entwickelt. Demnach existieren (Eliten)Netzwerke deshalb, weil sie über Kooperation Komplexität reduzieren und zur Senkung von Transaktionskosten beitragen können (S. 46ff., 52). Als Netzwerkinstitutionen fungierten dabei v.a. die Aufsichtsräte, die im Zuge der Ausdifferenzierung der deutschen Kapitalgesellschaften seit dem Kaiserreich sukzessive ihre eigentliche Funktion – Kontrolle des Vorstands – verloren und Gremien zur Pflege von Geschäftsbeziehungen wurden (S. 51-62).

In Kapitel II widmet sich Münzel der Tradition und Integration jüdischer Wirtschaftsbürger bis 1933, indem er sich kritisch mit den Arbeiten Werner Mosses zur deutschen-jüdischen Wirtschaftselite auseinandersetzt und dessen „Ethnizitätsansatz“ differenziert hinterfragt.2 Münzel attestiert dem Begriff, für die Wirtschaftselite nur „begrenzt tragfähig“ zu sein (S. 410), weil der Erfolg ihrer jüdischer Mitglieder – für den betrachteten Zeitraum – nicht ausschließlich auf Judentum oder jüdischer Herkunft basierte, sondern andere Faktoren ausschlaggebend waren: fachliche Qualifikation, Bildung, Freundschaftsbeziehungen.

Dieser hinführende Teil (Einleitung, Kapitel I bis III) ist – bei aller Qualität – zu lang, macht er doch knapp ein Drittel der Darstellung aus. Gerade die Kapitel II und III hätten kürzer gefasst werden können, zumal sie weitgehend Bekanntes enthalten (z.B. Kapitel II.4. Antisemitismus und Vertrauen). Die Erkenntnisse sind als Basis der Studie zweifellos wichtig, doch es braucht sicher keine 30 Seiten (Kapitel III), um die Folge der Aktiengesetzgebung seit 1931 (u.a. Reduktion der Aufsichtratsstellen; Funktionswandel des Aufsichtsrat) und die Ambivalenz nationalsozialistischer Politik (Ideologie vs. Pragmatismus) aufzuarbeiten, die doch lediglich Grundlage für die weiteren Ausführungen bilden sollen.

Das eigentliche Thema beginnt erst auf S. 151 mit vier Großkapiteln: Kontinuität und Verdrängung (IV), Verfolgung, Emigration und Vernichtung (V), Persilschein, Wiedergutmachung und Remigration (VI) sowie Unternehmensfallstudien (VIII; z.B. Metallgesellschaft, AEG, Schering, Ullstein). Münzel wählt für seine Darstellung einen Mittelweg zwischen einer quantitativ fundierten Kollektivbiographie und einer gleichsam eklektizistischen Vorgehensweise: Er stellt zunächst jeweils allgemeine Entwicklungen (und ihre Rahmenbedingungen) dar und zeigt anschließend an Beispielen typische Ausprägungen des individuellen Verhalten in den einzelnen Phasen. Er wählt dabei aber nicht einzelne Wirtschaftsbürger aus und analysiert deren Lebenslauf über den gesamten Zeitraum, sondern er illustriert punktuell die zuvor geschilderten allgemeinen Entwicklungen mit vielen unterschiedlichen Beispielen. Das Vorgehen ist legitim (und zu einem Gutteil der Quellenlage geschuldet), doch auf Dauer für den Leser etwas ermüdend. Die fraglos notwendigen biographischen Hinweise, die qualitative Beschreibung der jeweiligen Vernetzung, das Verhalten nach 1933 und die daraus resultierenden Befunde führen teils von der eigentlichen Argumentationslinie weg, so anschaulich die Beispiele im Einzelnen auch sind. Es wäre hier sicher sinnvoll gewesen, Darstellungs- und Analyseebene stärker von einander zu trennen, um die Befunde noch klarer herauszuarbeiten und zu systematisieren.

Jüdische Mitglieder der Wirtschaftselite konnten sich v.a. dort vergleichsweise lange, d.h. bis 1938/39, in den Aufsichtsräten behaupten, wo ihr know how und ihre Kontakte zwingend gebraucht wurden. Im Falle der Emigration war meist ein (ökonomischer) Neuanfang nötig, der allerdings selten erfolgreich war, auch weil hilfreiche Netzwerkbeziehungen fehlten und teils hohes Alter der Emigranten eine schnelle Akkulturation verhinderte. Relativ gering war der Anteil derjenigen, die nach 1945 an vergleichbarer Stelle wie 1932 in der Wirtschaft aktiv waren. Hierfür waren die Gründe ähnlich, zumal teils Verbitterung die Remigration nicht opportun erscheinen ließ. Andererseits zeigte sich die Persistenz der Weimarer Netzwerkstrukturen in der frühen Bundesrepublik, wenn sich etwa Verdrängungsopfer wie Richard Merton und Hans Schäffer für Hjalmar Schacht, Hans Luther oder Lutz Graf Schwerin von Krosigk in Gerichts- oder Entnazifizierungsverfahren als Entlastungszeugen anboten bzw. zur Verfügung stellten (S. 307ff.). Zusätzliches Verdienst von Münzels Studie ist, auch die Schicksale der Elitemitglieder einzubeziehen, die Selbstmord begingen oder dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer fielen – fraglos die bedrückendsten Passagen der Arbeit.

Dass Münzel angesichts des bewältigten Stoffs und der Vielzahl der Einzelfälle auch (Flüchtigkeits-)Fehler im Detail unterlaufen, scheint beinahe unvermeidlich. So gehörte August Thyssen 1932 natürlich nicht mehr zur Wirtschaftselite (S. 434), da er bereits 1926 starb. Und im Falle der Taufe Paul Silverbergs gerät Einiges durcheinander. Er wurde nicht „nach dem Tod seines Vaters und des Konfessionswechsels seiner Mutter protestantisch getauft“ (S. 89), sondern lediglich seine Mutter konvertierte nach dem Tod des Vaters 1903. Silverbergs Wechsel zum Protestantismus im März 1895 war – vor Aufnahme seines Jurastudiums – ein bewusster Schritt, um seine Karrierechancen zu verbessern.3 Daher ist auch Münzels Annahme zu bezweifeln, „dass ihm (Silverberg) seine jüdische Herkunft im Alltagsleben bewusst wurde“ (S. 89).

Münzel zieht Silverberg im übrigen häufig als Beispiel heran und hebt vor allem auf dessen „resignativen Rückzug“ (S. 413) und die Weigerung ab, nach 1945 nach Deutschland zurückzukehren. Dabei arbeitet er aber nur in Ansätzen (S. 251ff., 311) heraus, dass Silverbergs Ausscheiden aus der Wirtschaft 1933 ein Sonderfall war. Der Rückzug wurde nicht in erster Linie durch staatliche Eingriffe verursacht, sondern aus dem Zentrum der Netzwerkelite heraus: Nach einer Intrige von Friedrich Flick, Albert Vögler und Fritz Thyssen verlor Silverberg 1932/33 die Kontrolle über die Rheinische AG für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation (RAG), der Basis seines Unternehmerdaseins.4 (Nebenbei zeigte sich bei diesen Vorgängen, dass „symbolisches Kapital“, „Sozialkapital“ etc., das Silverberg reichlich besaß, gar nichts nützen, wenn „ökonomisches Kapital“ in Form von Verfügungsrechten fehlt.)

Nichts wäre ungerechter, als von solchen Details auf die Qualität der Darstellung zu schließen. Es ist fraglos ein großes und lobenswertes Unterfangen, so viele unterschiedliche Lebensläufe zu erfassen und das Allgemeine im Speziellen herauszuarbeiten, zumal Münzel sich nicht auf die Silverbergs, Warburgs, Wassermanns oder Goldschmidts beschränkt, sondern auch die „zweite Reihe“ der jüdischen Elitemitglieder einbezieht. So entwickelt er ein differenziertes Bild unterschiedlicher Strategien, wie sich die einzelnen Mitglieder der Wirtschaftselite einerseits und die Leitungsgremien der Unternehmen andererseits den veränderten Rahmenbedingungen nach 1933 stellten. Münzel leistet mit seiner Arbeit einen interessanten und weiterführenden Beitrag zur Erforschung des Wirtschaftsbürgertums von der Weimarer Zeit bis in die frühe Bundesrepublik im Allgemeinen und seiner jüdischen Mitglieder im Besonderen.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Volker R. Berghahn, Stefan Unger, Dieter Ziegler (Hgg.), Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert. Kontinuität und Mentalität (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte, Band 11), Essen 2003; Ingo Köhler, Die „Arisierung“ der Privatbanken im Dritten Reich. Verdrängung, Ausschaltung und die Frage der Wiedergutmachung (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 14), München 2005.
2 V.a. Werner E. Mosse, Jews in the German Economy. The German-Jewish Economic Elite 1920-1935, Oxford 1987.
3 Vgl. zur Datierung der Taufe Gerd Friedt, Beitrag zur rheinischen Wirtschaftsgeschichte. Familie Kommerzienrat Adolf Silverberg in Bedburg an der Erft. Woher sie kamen, wohin sie gingen. Versuch einer Darstellung, o.O. (Bedburg/Elsdorf) 1996, S. 73.
4 Vgl. zu Silverbergs Rückzug bislang v.a. Reinhard Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 45), Göttingen 1981, S. 189-193.

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