L.-B. Keil u.a.: Gerüchte machen Geschichte

Cover
Titel
Gerüchte machen Geschichte. Folgenreiche Falschmeldungen im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Keil, Lars-Broder; Kellerhoff, Sven Felix
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Schultze, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„Gerüchte machen Geschichte“: Wie kommt dieser Mechanismus zustande, und wie hat er sich besonders auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgewirkt? Die beiden Journalisten Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff („Berliner Morgenpost“, „Die Welt“) haben sich viel vorgenommen. An elf Beispielen wollen sie zeigen, wie „Fehlinformationen und Gerüchte im Spannungsfeld zwischen Politik, Medien und Öffentlichkeit ihren verhängnisvollen Lauf nahmen. Dabei haben sie Fälle ausgewählt, die für Deutschland von zentraler Bedeutung waren – vom Ersten Weltkrieg über die NS-Zeit, den Kalten Krieg bis in die jüngste Vergangenheit“ (Klappentext).

Als Einstieg versuchen Keil und Kellerhoff eine Begriffsbestimmung sowie eine historische und philosophische Einordnung des Themas. Unter „Gerücht“ verstehen sie „sachlich falsche Nachrichten über politische Zusammenhänge gleich welchen Ursprungs, die während eines politischen Prozesses aufkommen oder aufgebracht werden, die sich anonym verbreiten oder mindestens ohne Zutun ihres Urhebers weiterentwickeln, die in einer mehr oder weniger großen Gruppe von Menschen geglaubt werden und die zu einem politisch wichtigen Ereignis führen“ (S. 15). Diese Definition ist wahrlich sperrig – nach der Lektüre der gut 300 Seiten bleibt fraglich, ob das Buch das Resultat der Definition ist oder ob diese erst aus den Fallbeispielen hervorgegangen ist. Als Historiker bzw. Geschichtsjournalisten streben Keil und Kellerhoff an, den Stellenwert und die Auswirkungen von Gerüchten in der Geschichte zu beurteilen. Die linguistischen und psychologischen Elemente, die dabei neben den historischen Kontexten eigentlich zentral sind, bleiben in dem Buch leider spärlich und holzschnittartig. Zudem ist die Vorannahme zu bezweifeln, dass dem Gerücht stets eine negative Funktion zukomme; manchmal können Gerüchte auch positive Wirkungen zeitigen (etwa in wirtschaftspsychologischen Kontexten).

Das erste gewählte Beispiel sind die unter der Überschrift „Lütticher Greuel“ erörterten deutschen Kriegsverbrechen in Belgien zu Beginn des Ersten Weltkrieges (S. 27-48). Daran schließt sich die umstrittene Versenkung der englischen „Lusitania“ (1915) an (S. 49-68). War das Schiff tatsächlich ein getarnter, schwerbewaffneter Hilfskreuzer – also ein legitimes Ziel deutscher Torpedos? Nach heutigem Erkenntnisstand hatte die „Lusitania“ lediglich Granathülsen und Gewehrmunition an Bord und war ansonsten unbewaffnet; in der zeitgenössischen Debatte wurden die weitergehenden Gerüchte und Vermutungen aber geschichtswirksam.

Anfang 1933 erwies sich der vermeintliche Staatsstreich Kurt Schleichers als folgenreich. Durch falsche Informationen, Fehleinschätzungen und Kurzsichtigkeiten der Entscheidungsträger wurde Adolf Hitler Reichskanzler. Hätte nicht das Gerücht eines Staatsstreiches der Reichswehr im Raum gestanden, hätte Hindenburg sich wohl nicht dazu durchgerungen, Hitler zu ernennen. Für Kellerhoff und Keil ist gerade dieser angeblich drohende Putsch ein Gerücht im engeren Sinne: „Es wurde von niemandem bewusst gestreut, sondern wuchs in einer verworrenen Lage aus verschiedenen, an sich unverdächtigen Ereignissen, unbegründeten Vermutungen und Andeutungen.“ (S. 88)

Im folgenden Kapitel geht es um das Ende der NS-Herrschaft („Rückzugsgebiet Alpenfestung“, S. 89-108). Was brachte Eisenhower als Oberbefehlshaber dazu, kurz vor Berlin nach Süden abzuschwenken und den Sowjets die Eroberung der Reichshauptstadt allein zu überlassen? Nach damals verbreiteter Ansicht war Hitlers „Alpenfestung“ der Grund. Gab es diese Festung tatsächlich? Laut Keil und Kellerhoff handelte es sich auch hier um ein Gerücht. Es sei entstanden, „weil 1944/45 in den USA sämtliche Kontrollmechanismen versagten – sowohl bei den Geheimdiensten als auch bei den freien Medien“ (S. 95). Warum und wie dies geschehen sein soll, wird allerdings nicht ganz klar. Anscheinend war die Presse der Initiator dieses Gerüchts, und die Geheimdienste griffen das Material auf. Doch bereits wenige Seiten später stellen Kellerhoff und Keil die Sache andersherum dar: Geheimdienstmitarbeiter hätten Material an die Presse gegeben, die ihrerseits die Spur weiter verfolgte (S. 102). Wie denn nun? Wahrscheinlich lässt sich der Schwenk der amerikanischen Armee nach Süden eher mit der kurz zuvor stattgefundenen Verlagerung von Firmen und Forschungseinrichtungen der deutschen Hochtechnologie in den mittel- und süddeutschen Raum erklären.

Ein Beispiel für gezielt gestreute Desinformationen ist die Kartoffelkäferplage des Jahres 1950 („Amikäfer“, S. 135-158). Damals ging das Gerücht um, dass US-amerikanische Flugzeuge Kartoffelkäfer über der DDR abgeworfen hätten. Der Beweis dafür steht bis heute aus, doch hatte die Kampagne Erfolg und verstärkte den Antiamerikanismus in der DDR. In diesem Kapitel werden allerdings auch begriffliche und definitorische Schwächen bemerkbar. So ist es unpräzise, Gerücht und Falschmeldung gleichzusetzen – was Kellerhoff und Keil auch an anderen Stellen tun. Außerdem sollte das Phänomen der selektiven Wahrnehmung der Beteiligten in solchen Fällen berücksichtigt werden, wie Paul Watzlawick in einem anderen Zusammenhang (zerkratzte Windschutzscheiben in Seattle) argumentiert hat: „Der Fall lehrt uns, dass sich eine völlig alltägliche, unbedeutende Tatsache (so unbedeutend, dass ihr vorher niemand Aufmerksamkeit schenkte) mit affektgeladenen Themen verquicken kann und dass von diesem Augenblick an eine Entwicklung ihren Lauf nimmt, die keiner weiteren Beweise bedarf, sondern rein aus sich heraus, selbstbestätigend und selbstverstärkend, immer weitere Personenkreise in ihren Bann schlägt.“1

Anhand weiterer Beispiele, deren Auswahl etwas beliebig wirkt, arbeiten sich Keil und Kellerhoff durch die deutsch-deutsche Vergangenheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts voran: „KZ-Baumeister“. Die Kampagne gegen Bundespräsident Heinrich Lübke 1964-1969 (S. 159-168), „Isolationsfolter und Vernichtungshaft“. Baader-Meinhof im Gefängnis 1972-1977 (S. 179-208), „Ökologisches Hiroshima“. Das Waldsterben in Deutschland 1979-1988 (S. 209-236), „DDR öffnet Grenzen“. Der Fall der Berliner Mauer (S. 237-258). Vieles davon ist bekannt, manches in der Bewertung nicht überzeugend. So kann man verschiedener Meinung sein, ob das Waldsterben in dieses Buch hineingehört. Bäume sterben nun einmal an schlechten Umweltbedingungen wie etwa der Luftverschmutzung, und die Waldzustandsberichte sind keine Gerüchte oder Falschmeldungen (auch wenn die mitunter apokalyptischen Szenarien der 1980er-Jahre, die daraus abgeleitet wurden, übertrieben gewesen sein mögen).

Das letzte Kapitel ist der deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg von 1999 gewidmet, die eher auf Gerüchten („Hufeisenplan“) als auf einer einigermaßen gesicherten Faktengrundlage basierte (S. 259-290). Ein zusammenfassendes und abstrahierendes Schlusskapitel fehlt leider. Der Gesamteindruck des Buchs ist ambivalent: Den genannten, insbesondere begrifflichen Schwachpunkten steht der faktenreiche und gut lesbare Schreibstil gegenüber. Es würde sich lohnen, der unbestreitbaren Geschichtsmächtigkeit von Gerüchten noch einmal systematischer nachzugehen. Dann wäre auch zu fragen, ob bei der Entstehung und Verbreitung von Gerüchten in Geschichte, Politik und Gesellschaft eigentlich nur Männer eine Rolle spielen.

Anmerkung:
1 Watzlawick, Paul, Wie wirklich ist die Wirklichkeit? München, 2001, S. 84f.

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