Cover
Titel
The Chosen. The Hidden History of Admission and Exclusion at Harvard, Yale, and Princeton


Autor(en)
Karabel, Jerome
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 711 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Zentrum für europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK) - Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

In den Diskussionen um die Neuausrichtung der deutschen Bildungs- und Hochschullandschaft spielen auch universitäre Zulassungskriterien eine nicht unbedeutende Rolle. Wer werden die ‚Auserwählten’ sein? Für wen wird der Zugang in Zukunft verschlossen bleiben? Die Debatten sind dabei durch den Rekurs auf einen den angelsächsischen Spitzenuniversitäten zugeschriebenen, quasi ‚neutralen’ Leistungsgedanken, der zu objektiven und gerechten Ergebnissen unabhängig vom vorherrschenden politischen Zeitgeist führt, geprägt. Diese Vorbildfunktion wird durch die über 700 Seiten starke Untersuchung von Jerome Karabel, Professor für Soziologie an der Universität von Kalifornien in Berkeley, allerdings deutlich in Frage gestellt. Unter dem programmatischen Titel „The Chosen“ schildert Karabel auf der Basis einer breiten Auswahl an Quellenmaterial, das von den offiziellen Universitätsakten bis hin zu privaten Briefwechseln der „key administrators“ bzw. „admission officers“ und den internen Handbüchern für die Zulassungsinterviews reicht, ausführlich die in Deutschland bisher völlig unbekannte Geschichte der Zulassungs- und Ausschlussverfahren der drei führenden amerikanischen Eliteuniversitäten Harvard, Yale and Princeton im 20. Jahrhundert.

Karabels Studie unterteilt sich in drei große Abschnitte, die zeitlich jeweils knapp ein Drittel des 20. Jahrhunderts umspannen. Zuerst widmet sich Karabel den historischen und gesellschaftlichen Ursprüngen der „Selective Admissions“ in der Phase von der Jahrhundertwende bis zur „Great Depression“. Die „Big Three“ bildeten als „iconic institutions“ (S. 18) für die protestantische amerikanische Oberschicht die Kaderschmieden der Nation. Steigende Zulassungszahlen und öffentliche Debatten über den sichtbaren Niveauverlust kennzeichneten diese Entwicklungsphase. Die notwendige Anwendung objektiver Auswahlkriterien trug zwar zu einer Verwissenschaftlichung des Studiums bei, führte aber auch zu einer Zunahme der Gruppe der so genannten „undesirables“, besonders jüdischer Studenten, die auf einen osteuropäischen Familienhintergrund zurückblickten. Der „Anglo-Saxon character of the nation culture“ (S. 47) drohte nach Ansicht der Verantwortlichen wegen des „Jewish problem“ (S. 88) bzw. der „Hebrew invasion“ (S. 112) verloren zu gehen. Um eine Abwanderung der protestantisch geprägten weißen Oberschicht, wie an der Columbia-University, wo der Anteil jüdischer Studenten aufgrund des Einzugsgebietes der Stadt New York innerhalb weniger Jahre auf über 40 Prozent gestiegen war, zu verhindern, setzte man in Harvard, Yale und Princeton auf Reformen der Zulassungssysteme.

Das neue, auf den ersten Blick ‚neutrale’ Bewerbungsverfahren umfasste Empfehlungsschreiben, einen persönliche Essay, Fotos und einen Fragebogen, der auch nach Rasse, Hautfarbe und Religionszugehörigkeit fragte. Die Bewerber wurden zudem in Harvard – wenn auch nur intern – nach einem Raster den Kategorien J1 (eindeutig jüdisch) bis J3 (eventuell jüdisch) eingeordnet (S. 96). Die Betonung rein subjektiver Werte wie „Persönlichkeit“, „Charakter“ oder „Männlichkeit“ – es wurde der Typ des „manly man“ (S. 29) bevorzugt – standen in direkter Verbindung mit dem Wunsch, nationale Führungspersönlichkeiten hervorzubringen (S. 115). Bei der Begründung der Quoten wurde „character“ zum „key code word“ (S. 131). Die Zahl der jüdischen Studenten konnte auf dieser Grundlage gesenkt bzw. bei der ‚gewünschten’ Marke eingefroren werden. Das Zulassungsverfahren erwies sich in seiner Grundstruktur aber als so flexibel, dass die Bevorzugung Angehöriger der protestantischen Oberschicht und der Söhne zahlungskräftiger Alumni weiter gewährleistet blieben.

Der zweite Teil des Buches, der die Jahre zwischen 1933 und 1965 umfasst, beschäftigt sich mit dem „battle over merit“. Voraussetzung war eine Reihe von grundlegenden Reformschritten: Die Einführung von leistungsbasierten Stipendien („National Scholarship Program“), eine gestiegene Bedeutung des SAT (Scholastic Aptitude Test) und ein Rückgang der Diskriminierung gegenüber Juden und den Absolventen öffentlicher Schulen. Während schwarze Studenten weiterhin eine Nebenrolle spielten, wurden im Verlauf des Zweiten Weltkrieges in Harvard ab dem Frühjahr 1943 erstmals auch Frauen zum Studium zugelassen. In Yale und Princeton sollte diese Öffnung bis ins Jahr 1969 auf sich warten lassen (S. 180, 379f.) Neben den Stipendiaten profitierten im Jahr 1946 auch unzählige Kriegsveteranen von den ersten institutionalisierten Ansätzen einer „need-blind admission“ (S. 178) durch die so genannte „G.I. Bill“ (S. 183).

Die antisemitischen Quoten wurden erst in den 1950er-Jahren abgeschafft. Die öffentliche Mobilisierung gegen den Antisemitismus trug Entscheidendes zu dieser Veränderung bei. (Antidiskriminierungs-)Gesetze sowie eine Öffnung der Gesellschaft in wirtschaftlicher, kultureller und politischer Hinsicht schufen eine grundlegend andere Ausgangsposition (S. 246f.): Es wurde mehr als zuvor Wert auf „equality of opportunity“ und die Suche nach den wissenschaftlichen Talenten gelegt – gerade auch vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz im Rahmen des Kalten Krieges („Big Science“, „Sputnik-Schock“). Das Zulassungssystem musste trotzdem darauf angelegt bleiben, die bestehenden Privilegien und somit auch den Ruf der Universitäten zu sichern. In der Praxis führte dies zu so ungewöhnlichen internen Vorgaben, wie die „pure intellectuals“ auf nicht mehr als 10 Prozent der „freshman class“ zu begrenzen (S. 293) und für die Talente aus den anderen Bereichen (besonders dem Sport) einen Platz zu reservieren: das so genannte „happy bottom quarter“ (S. 286). In den 1960er-Jahren war der allergrößte Teil der Studierenden in Yale und Princeton weiterhin weiß und männlich.

Im dritten Teil wird die Geschichte der Zulassungsbeschränkungen von 1965 bis in die unmittelbare Gegenwart fortgeschrieben. Die gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er-Jahre trieben auch die „Big Three“ in ein völlig verändertes Fahrwasser. Innerhalb einer Spanne nur sehr weniger Jahre wurden Maßnahmen der „affirmative action“ ergriffen, die auch „Afro-Americans“ und anderen Minderheiten ein Studium ermöglichten. Zudem wurden Studentinnen jetzt auch als Undergraduates zugelassen und ein Verfahren der „sex-blind admissions“ eingeführt. Die schnelle Umsetzung der Forderungen entsprang der ‚Angst’ der alteingesessenen Institutionen vor den Folgen der „New Left“, der Bürgerrechts- und Studentenbewegung. Wenn man die viel zitierte Forderung nach Chancengleichheit und Leistungsprinzip ernst nahm, dann mussten beide Geschlechter und alle gesellschaftlichen Gruppen gleichsam davon profitieren können. Kurz: Mechanismen der Exklusion durch solche der Inklusion ersetzt werden. Die Radikalität dieser Veränderungen forderte umgehend harsche Gegenmaßnahmen von Seiten der konservativeren Ehemaligen-Organisationen heraus (starker Spendenrückgang), die am Ende aber nicht zu einer Rücknahme der Reformen führten. Karabels Diskussion der aktuellen Probleme wie die Diskriminierung von „Asian-Americans“, die weiterhin zu hohe Bedeutung sportlicher Fähigkeiten und die fortbestehende Bevorzugung der Kinder der Alumni zeigt, dass die Geschichte der Zulassungsbeschränkungen noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Gerade auch, weil in den 1990er-Jahren durch die Ökonomisierung des Studiums die Bedeutung nationaler Rankings für die Universitäten stetig zugenommen hat.

„The Chosen“ ist aber nicht nur eine historisch-soziologische Studie über den Zugang zu den amerikanischen Eliteuniversitäten, bei der auch die jeweils führenden Köpfe des amerikanischen Bildungswesens wie A. Lawrence Lowell oder James Bryant Conant und die Praktiker ‚vor Ort’, die „deans of admission“ wie Radcliffe Heermance oder Wilbur J. Bender der Zulassungspolitik ihren persönlichen Stempel aufdrücken konnten. Die äußerst breite und auch durch kulturwissenschaftliche Ansätze inspirierte Ausrichtung von Karabels Studie ermöglicht zudem, einen gezielten Blick auf die wichtigsten Ereignisse, Bewegungen und Entwicklungslinien der amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu werfen. So lassen sich die antijüdischen Maßnahmen der 1920er-Jahre nicht ohne die von Xenophobie und Antisemitismus geprägte gesellschaftliche Grundstimmung dieser Zeit erklären (S. 135), wie auch die die Zuwanderung strikt limitierenden und kontingentierenden „Immigration Acts“ der Jahre 1917, 1921 und 1924 zeigen.

Die Geschichte der Zulassung zu den „Big Three“ ist auch eine des fortwährenden Ringens um eine zeitgemäße Interpretation von Begriffen wie ‚Leistung’, ‚Verdienst’ und ‚Elite’. Dass diese einer ständigen Wandlung unterliegen – und zumeist die Werte und Interessen derer reflektieren und unterstützen, die auch über das entsprechende „kulturelle Kapital“ (Pierre Bourdieu) verfügen – ist eines der zentralen Anliegen Karabels. Im Kontext der aktuellen deutschen Debatten liefert Karabel wichtige und historisch fundierte Argumente – auch wenn er selbst keine Lösung für die beschriebenen Probleme anbietet. Das Buch zeigt, warum es angebracht ist, in den hochschulpolitischen Diskussionen auch einmal verstärkt einen Blick hinter die Fassade der erfolgreichen amerikanischen Eliteuniversitäten zu werfen. Die Tendenz, einzelne Leuchttürme der Wissenschaft als Marken zu ‚verkaufen’, kann nur dann erfolgreich sein, wenn man auch die Gesetze des Marktes in vollem Umfang beachtet. Die staatlichen deutschen Universitäten verfügen nicht über eine solche Tradition und werden von diesen ‚Exklusivrechten’ auch in Zukunft nur wenig Gebrauch machen können – und dies ist in Anbetracht der Geschichte der Zulassungsverfahren der „Big Three“ vielleicht auch nicht die schlechteste Lösung.

Trotz des nicht geringen Umfanges – der Fließtext umfasst allein 557 Seiten – und einiger Längen bei der Beschreibung der Lebensläufe einzelner Gestalter des amerikanischen Bildungssystems ist Jerome Karabel mit „The Chosen“ eine gut lesbare und inhaltlich spannende Studie zu einem in Deutschland bisher kaum thematisierten Kapitel der amerikanischen Hochschulgeschichte gelungen. Durch seine geschickte Verknüpfung einzelner Untersuchungsbereiche der Wissenschaftsgeschichte (Institutionen, Personen, Begriffen und Ideen), gewinnen die „Big Three“ auch für den deutschen Leser Konturen, die ihre mythische Aufladung als allein dem Leistungsprinzip verpflichtete Orte wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens zumindest hinterfragen, wenn nicht teilweise sogar entzaubern. Auch wenn im Kontext der amerikanischen Wissenschaftsgeschichte nicht alle Ergebnisse neu sein dürften, so besticht Karabels Studie doch durch ihren extrem breiten Quellenbestand. Neben der Einbeziehung von Aspekten der Kultur-, Gesellschafts- und Politikgeschichte ist besonders der von Karabel gewählte Untersuchungszeitraum des „langen 20. Jahrhunderts“ hervorzuheben. Nur auf diesem Wege geraten die vordergründig wenig dramatischen und oft nur schleichenden, in ihren praktischen Folgen aber entscheidenden, Veränderungen überhaupt erst in den Blick. Andererseits können auch die systemerhaltenden bzw. stabilisierenden Konstanten ebenfalls nur in diesem Rahmen erkannt und entsprechend thematisiert werden. Karabel hat mit seiner Gesamtschau eine deutliche Marke in der amerikanischen Wissenschafts- und Universitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts gesetzt, die trotzt ihres nicht ohne Weiteres übertragbaren Gegenstandes auch in Deutschland für kommende wissenschaftshistorische Veröffentlichungen neue Maßstäbe setzt.

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