V. R. Berghahn u.a. (Hrsg.): Gibt es einen deutschen Kapitalismus?

Cover
Titel
Gibt es einen deutschen Kapitalismus?. Tradition und globale Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft. Mit einer Einleitung von Jürgen Kocka


Herausgeber
Berghahn, Volker R.; Vitols, Sigurt
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
229 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruth Rosenberger, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier

Ob es einen "deutschen Kapitalismus" gibt, wird entgegen der Titelversprechung in diesem Buch nicht diskutiert. Die meisten der an dem fächerübergreifend konzipierten Sammelband beteiligten Historiker und Sozialwissenschaftler, die sich im Juni 2005 zu einem Kolloquium am Wissenschaftszentrum Berlin trafen, setzen die Existenz ihres Untersuchungsgegenstands vielmehr selbstverständlich voraus. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gilt ihr Hauptaugenmerk der Genese, Gestalt und Zukunftsfähigkeit des deutschen, koordinierten Kapitalismus in Konkurrenz und/oder Beziehung zur angelsächsischen liberalen Marktwirtschaft. Nimmt man daher den Untertitel der Publikation als Programm und versteht die einleitende Frage als „Eye-Catcher“, so ist es den Herausgebern Volker Berghahn und Sigurt Vitols durchaus gelungen, die seit einiger Zeit virulente Diskussion mit wissenschaftlichem Anspruch neu zu profilieren. Dieses Profil weist drei zentrale Aspekte auf: erstens einen sehr breiten, fächerübergreifenden Zugang zum Untersuchungsgegenstand, zweitens inter- und transnationale Perspektiven und drittens eine dezidierte Anbindung an die aktuelle gesellschaftspolitische Debatte. Das größte Verdienst besteht überdies darin, mit diesem Buch einen wichtigen Schritt getan zu haben, um vor allem der deutschen Geschichtswissenschaft die vergleichende Kapitalismusforschung als eigenes Forschungsfeld zu erschließen.

Auch der Aufbau des Bands trägt der dreifachen Schwerpunktsetzung Rechnung. Während der vierte und letzte Teil dem "deutschen Kapitalismus" in "Gegenwart und Zukunft" gewidmet ist und vier Beiträge umfasst, die stärker auf die unmittelbar gegenwartsbezogene Frage "Was tun?" ausgerichtet sind, bilden die Aufsätze der ersten drei Teile das breite Spektrum an fächerübergreifenden und internationalen Forschungsansätzen ab: Historisch-prozesshaft angelegte Untersuchungen, die aus dem 19. Jahrhundert heraus argumentieren, wie beispielsweise der von Sigrid Quack über "Die transnationalen Ursprünge des 'deutschen Kapitalismus'", finden hier ebenso ihren Platz wie sozialwissenschaftliche Systematisierungen, die weniger Wandel und Kontinuität beschreiben, sondern stärker vergleichend zu ordnen versuchen – etwa Sigurt Vitols einführender Überblick über die in der politökonomischen Forschung der letzten 30 Jahre relevanten Kapitalismusmodelle. Ein eigener Teilbereich zum Thema Konsum widmet sich der sozialen und kulturellen Einbettung des „deutschen Kapitalismus". Diese konzeptionelle Erweiterung ist genauso wie Gerhard Lehmbruchs Kritik am Ansatz der Varieties of Capitalism, die er mit einem überzeugenden Plädoyer für eine stärkere Einbindung diskursiver und semantischer Analyseansätze verbindet, wichtig und innovativ. Nicht alle der Einzelbeiträge zum Thema Konsum jedoch, die für sich genommen jeweils spannende Aspekte eröffnen, beziehen sich in ihrem Erkenntnisinteresse konkret auf das Thema „deutscher Kapitalismus“.

Der mithin nahezu umfassende Ansatz des Bands resultiert in äußerst produktiver Weise aus der dezidierten Zielsetzung, Historiker und Sozialwissenschaftler, die dasselbe Phänomen bisher in eher getrennten Sphären diskutierten, zusammenzubringen. Insoweit als man die vorliegende Publikation und das vorangegangene Kolloquium als Aufnahme eines gemeinsam geführten Gesprächs versteht, ist dieses Unterfangen durchaus geglückt. Im Hinblick auf inhaltliche Fragen jedoch, etwa eine konstruktive Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Perspektiven, Vorgehensweisen und Begriffen der verschiedenen Fachdisziplinen, sind zwar wichtige Schritte mit diesem Band getan, aber die eigentliche "Verständigungsarbeit" steht noch an.

Während fast alle der beteiligten Sozialwissenschaftler mit historischer Perspektive argumentieren, lassen die Systematisierungen und Ordnungsversuche der Historiker ein entsprechendes Maß an "Lernen von den Nachbarn" noch nicht erkennen. Jürgen Kocka bietet in seiner sehr lesenswerten Einleitung, in der er einen kompakten Überblick über die Beiträge gibt, zwar einige anregende synthetisierende Überlegungen. Aber die größte Schwäche des Bands, nämlich seine diffuse Begrifflichkeit, nimmt auch er nicht in Angriff. Schon im Titel stehen "deutscher Kapitalismus" und "soziale Marktwirtschaft" synonym nebeneinander. Und genauso verhält es sich auch in den Einzelbeiträgen: Neben Michel Alberts Konzept vom „rheinischen Kapitalismus“, das räumlich angebunden ist ("von Nordeuropa bis zur Schweiz und von der Seine bis an die Oder (oder doch nur an die Elbe)“, Abelshauser, S. 187) – damit im Vergleich zu den Begriffen "deutscher Kapitalismus", "Modell Deutschland" oder "soziale Marktwirtschaft" zumindest nicht national beschränkt ist –, finden sich zugleich zeitlich und räumlich ungebundene analytische Konstrukte wie "Produktionsregime", "soziale Produktionssysteme" und Varieties of Capitalism bzw. Coordinated und Liberal Market Economy (CME & LME). All diese unterschiedlichen Konzepte stellen verschiedene Ausschnitte, Perspektiven und Zuschnitte dessen dar, was man jeweils unter "deutschem Kapitalismus" versteht. Eine Ordnung in dieses Dickicht bringt der Band nicht.

Kockas Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse konzentriert sich auf konsensuale Grundsatzbekenntnisse. Seiner Meinung nach habe der Sammelband in dreifacher Hinsicht neue Perspektiven auf den „deutschen Kapitalismus“ erschlossen: Erstens verdeutlichten die Beiträge seine Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit, zweitens seine transnationalen Prägungen und drittens seine soziale und kulturelle Einbettung (S. 14/15). Angesichts der Zielsetzung, Sozialwissenschaftlern und Historikern ein gemeinsames Forschungsfeld zu erschließen, ist diese Strategie durchaus sinnvoll. Aber wenn man eine Diskussion der Titelfrage erwartet, erscheinen solche Ergebnisse ein wenig unbefriedigend. Unbenommen freilich bleibt das Verdienst, das gesamte Spektrum historischer und sozialwissenschaftlicher Zugänge zum „deutschen Kapitalismus“ zusammengeführt und damit sichtbar gemacht zu haben. Der nächste Schritt, in Auseinandersetzung miteinander, neue Positionen und Diskussionslinien zu entwickeln, ist nun möglich.

Als potentielle Ausgangspunkte für solche Kontroversen fallen anhand des Sammelbands zwei Aspekte ins Auge: zum einen natürlich die unbeantwortete Frage, ob es einen „deutschen Kapitalismus“ tatsächlich gibt oder gegeben hat; zum anderen aber auch ein erstaunliches „Amerikanisierungs-Renewal“, das sich zunächst so gar nicht in die Struktur der sonstigen Zugänge fügen will. Besonders US-amerikanische Wirtschaftshistoriker scheinen sich vom Begriff der „Amerikanisierung“ nicht trennen zu wollen; und dies, obwohl er aufgrund seiner monofokussierenden Linearität nur in geringem Maß kompatibel ist gegenüber den anderen hier verwendeten Modellen, die umfassende Systemspezifika des "deutschen Kapitalismus" zu erfassen versuchen. Sowohl Volker Berghahn als auch Mary Nolan – beide prominente der Vertreter der (deutschen) Wirtschaftsgeschichte in den Vereinigten Staaten – plädieren mit unterschiedlichen Argumenten und Ansätzen für den Erhalt des „Amerikanisierungs-Begriffs, jenes Klassikers linearer Prozessbeschreibungen, welche die zeithistorische Forschung in Deutschland lange dominiert haben. Obwohl in dieser Hinsicht keiner der beiden Beiträge überzeugt, finden sich dennoch gerade hier sehr spannende Überlegungen, die über den von Kocka skizzierten fächerübergreifenden Verständigungsrahmen zum Teil weit hinausreichen.

Besonders Berghahn wendet sich mit einer Mischung aus „Amerikanisierung“ und „deutschem Sonderweg“ gegen die vor allem in der deutschen (wirtschafts-) historischen Forschung stark vertretene Kontinuitätsthese. Ihm zufolge habe auch das deutsche Wirtschaftsmodell – in Entsprechung zur politischen Entwicklung – im Zweiten Weltkrieg „den Höhepunkt eines deutschen ökonomischen Sonderwegs“ erreicht (S. 35). Die „graduelle Amerikanisierung des deutschen Industriekapitalismus“ infolge zahlreicher transnationaler Wechselwirkungen zwischen der bundesrepublikanischen und der US-amerikanischen Wirtschaft nach 1945 berechtige somit sehr wohl zu der Frage, „ob man angesichts dieser Veränderungen noch von einem deutschen Kapitalismus sprechen“ könne (S. 41). Berghahn stellt mit diesen Überlegungen die Existenz eines „deutschen Kapitalismus“ konstruktiv in Frage. Indem er es vermeidet, von einem „Bruch“ nach 1945 zu sprechen, mündet seine Skepsis nicht in eine einfache Gegenthese. Sie dient vielmehr als Voraussetzung, um neue Perspektiven zu erschließen: „nicht lediglich nach Pfadabhängigkeiten“ solle man forschen, „sondern auch die Genese neuer Pfade […] untersuchen“ (S. 42). Hier könnte es durchaus weitergehen. Ob der „Amerikanisierungs“-Begriff – vor allem in einem derartig umfassenden Verständnis, wie Berghahn und Nolan es vertreten („sowohl Akzeptanz als auch Ablehnung amerikanischer Güter“, S. 100) – dabei wirklich weiterhilft, sei einmal dahin gestellt. Möglicherweise bringt der Vergleich bzw. die Untersuchung von Beziehungen zwischen dem „deutschen Kapitalismus“ und anderen europäischen Wirtschaftssystemen, die in diesem Band zugunsten eines deutsch-amerikanischen bzw. -angelsächsischen Schwerpunkts zurückgestellt bleiben, neue Einsichten.

Alles in allem haben Berghahn und Vitols ein Buch herausgegeben, das mit kurzen und gut verständlichen Texten einer durchgängig renommierten und international ausgewiesenen Autorenschaft, mit einem "knackigen" Titel und einer Anbindung an aktuelle gesellschaftspolitische Debatten sehr viele Voraussetzungen für breite Sichtbarkeit dieses Forschungsfelds erfüllt – und so überdies einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Legitimation der beteiligten Fächer liefern kann. Ebenso ist es ihnen gelungen, unterschiedliche Fachdiskussionen an einem Ort zusammenzufassen. Neue inhaltliche Diskussionslinien oder Kontroversen zum "deutschen Kapitalismus", die daraus hervorgehen könnten, sind in dieser Publikation jedoch noch nicht deutlich sichtbar.

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