G.D. Rosenfeld: The World Hitler Never Made

Cover
Titel
The World Hitler Never Made. Alternate History and the Memory of Nazism


Autor(en)
Rosenfeld, Gavriel David
Erschienen
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
$ 30.00, £ 19.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Rupnow, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Schon in seinem ersten Buch „Munich and Memory“/„Architektur und Gedächtnis“ (2000/2004) hat Gavriel D. Rosenfeld, Associate Professor of History an der Fairfield University in Connecticut, die Erinnerungskultur der Nachkriegszeit aus einer ungewöhnlichen, aber in ihrer quellengesättigten Durchführung äußerst ertragreichen Perspektive beleuchtet. Am Beispiel von Stadtplanung und Architektur in der als „Hauptstadt der Bewegung“ schwer belasteten Bayernmetropole gelang es ihm, Dynamiken von Erinnerungspolitiken und Gedächtniskulturen im Umgang mit der Vergangenheit und ihrer Hinterlassenschaft sichtbar werden zu lassen.1

In seinem neuen, bislang nur auf Englisch vorliegenden Buch wählt Rosenfeld erneut einen originellen Zugang zu Fragen der Nachkriegsauseinandersetzung mit Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Holocaust: „The World Hitler Never Made“ beschreibt und analysiert Vorstellungen alternativer Geschichtsverläufe als Ausdruck des Umgangs mit der katastrophischen Vergangenheit. Dieses Mal beschränkt sich Rosenfeld allerdings nicht auf die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“, sondern weitet den Blick. Im Falle einer Einschränkung auf Deutschland wäre es wohl auch ein sehr schmales Bändchen geworden: Gerade einmal 16 Prozent der untersuchten Texte stammen aus deutscher Feder. Das Genre des parahistorischen Romans, das bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im viktorianischen England entstand, ist in der deutschsprachigen Literatur generell eher schwach ausgeprägt. Vor allem ist es aber eine verständliche Zurückhaltung gegenüber dem Szenario eines „Endsiegs“ der Nationalsozialisten über die Alliierten, die dazu führt, dass solche kontrafaktischen Überlegungen nicht die gleiche Popularität und Verbreitung genießen wie im anglo-amerikanischen Raum.

Gerade dort sind das „Dritte Reich“ und der Zweite Weltkrieg nach 1945 zum Dreh- und Angelpunkt kontrafaktischer Überlegungen geworden, die sich beim Publikum großer Beliebtheit erfreuen, jenseits der üblichen Verkaufszahlen historischer Fachbücher. Überhaupt lässt sich in der Nachkriegszeit eine signifikante Häufung von Darstellungen alternativer Geschichtsverläufe beobachten, was wohl auf die tiefgreifenden, traumatischen Ereignisse und die damit verbundene historische Krise zurückgeführt werden kann. Doch auch der utopische Gehalt der nationalsozialistischen Ideologie dürfte wesentlich dazu beigetragen haben. Die Bedeutung der Frage nach den möglichen Folgen eines deutschen Sieges erklärt sich in Großbritannien und den USA aber aus der besonderen Stellung als Siegernationen. Was den Tätern/innen und ihren Nachkommen als Nostalgie oder Apologie ausgelegt werden könnte, dient in diesen Fällen zur Selbstverständigung über die ehemaligen Gegner/innen sowie zur Legitimation des eigenen Handelns und des erreichten Ziels. Eine Faszination durch den Nationalsozialismus spielt zugleich immer eine entscheidende Rolle für die Attraktivität dieser Geschichten, die ja nicht unbedingt aufklären und belehren, sondern vor allem unterhalten wollen. In der unverdächtigen englischsprachigen Literatur kann diese Faszination sogar offen eingestanden werden – wie etwa von Norman Spinrad, der in seiner preisgekrönten Erzählung „The Iron Dream“ (1972) Hitler nicht zum „Führer“, sondern zum in die USA emigrierten Science-Fiction-Autor werden lässt, der in seinen Werken in Zerstörungsorgien schwelgt, die nur die tatsächliche Geschichte spiegeln: „Who can honestly deny that there is a bit of the Nazi dream in each of us?“ Ambivalenzen dieser Art sind diesem Genre wie der gesamten Thematisierung der NS-Vergangenheit eingeschrieben. Vielleicht hätte man gerade sie noch ein wenig genauer herausarbeiten können.

Wie jede andere Form der Auseinandersetzung mit Geschichte sind auch die kontrafaktischen Texte, seien sie von Historiker/innen verfasst oder von Science-Fiction-Schriftsteller/innen, nichts anderes als Rekonstruktionen oder Imaginationen von Vergangenheiten aus den Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart heraus. Sie spiegeln nicht nur Vorstellungen und Kenntnisse, sondern auch Hoffnungen, Ängste und Wünsche. Dementsprechend wandeln sich die Bilder im Laufe der Zeit. Die ersten Texte, die einen nationalsozialistischen Sieg und seine Folgen beschreiben, erschienen in Großbritannien und den USA bereits vor bzw. während des Krieges. Sie verstanden sich als Warnung und gewähren einen Einblick in die Stimmung der Zeit, ihre Ahnungen und Beobachtungen. Eroberungs-, Besatzungs- und Vernichtungspolitik sind hier noch Zukunftsszenarien. In den zeitgenössischen Debatten um Appeasement und Isolationismus versus Interventionismus dürften sie ihre eigene historische Wirkung entfaltet haben. In den späten 1950er und den 1960er-Jahren deutet das Anwachsen kontrafaktischer Überlegungen nicht nur auf die verstärkte öffentliche Präsenz der NS-Vergangenheit etwa durch den Eichmann-Prozess hin, sondern bildet auch den moralischen Anspruch der Zeit mit der Forderung nach justizieller Aufarbeitung und fortgesetzter Erinnerung ab. Und schließlich spiegelt sich in parahistorischen Texten die stetige Normalisierung unseres Bildes von der Vergangenheit und unserer Beziehung zu ihr, die wohl spätestens in den 1970er-Jahren begonnen und in den 1990er-Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges, besonders an Dynamik gewonnen hat.

Rosenfeld liefert in seinem Buch den ersten Überblick zu den Vorstellungen von alternativen Geschichtsverläufen rund um das „Dritte Reich“ und seine Akteure – und zeigt vorbildlich, wie ein solches Quellenkorpus ertragreich kontextualisiert und analysiert werden kann. Es entsteht ein Panorama der Erinnerungskulturen in Deutschland, Großbritannien, den USA und anderen Ländern, eine Studie über die Obsession unserer westlichen Kultur mit den Nazis und ihren Verbrechen, eine Tour d’Horizon der oft fehlschlagenden, jedoch niemals versiegenden Versuche, diese zu begreifen, einzuordnen und zu verstehen, aber auch zu entlasten, zu entschuldigen und zu verharmlosen. Damit werden gleichfalls neue Schlaglichter auf Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Holocaust selbst geworfen. Sinnvollerweise beginnt Rosenfeld seine Untersuchung auch nicht erst mit dem Kriegsende und der vermeintlichen „Stunde Null“ 1945, sondern beleuchtet die Anfänge der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus noch während der Ereignisse, ohne die die weitere Entwicklung der Nachkriegserinnerungskulturen gar nicht zu verstehen ist.

Zu Recht hält Rosenfeld sich nicht mit der literaturwissenschaftlichen Kategorie von Trivialität auf, die für die Untersuchung von Bilder- und Vorstellungswelten vollkommen unerheblich ist. Er berücksichtigt ein breites Spektrum von Filmen, Theaterstücken und Comics neben klassischen Texten wie Romanen, Kurzgeschichten und auch Sachbüchern. Gleichwohl gibt es Unterschiede, die eine differenzierende Beurteilung zulassen. Während die Unerträglichkeit der Vorstellung eines deutschen „Endsiegs“ häufig einer nüchternen Untersuchung im Wege steht, wirkt sie auf die literarische Imagination gerade anregend. Aber nicht immer werden die Autoren nur von einer überbordenden Phantasie geleitet; sie berücksichtigen zumindest implizit historische Quellen und Forschungsergebnisse. Nicht immer wird versucht, nur um der Befriedigung der Sensationsgier willen das spektakulärste Szenario zu entwerfen. Nicht immer handelt es sich um einfach gestrickte Geschichtchen in Groschenheften, sondern teilweise um literarisch anspruchsvolle Arbeiten wie etwa Philipp K. Dicks „The Man in the High Castle“ (1962) oder Martin Amis „Time’s Arrow“ (1991).

Gerade die Analyse populärer Texte vermag wichtige Einblicke zu eröffnen: in die Rezeption von Geschichte in der Öffentlichkeit, in die Verbreitung von historischen Kenntnissen und ein allgemeines Geschichtsbewusstsein jenseits der historischen Fachdebatten, die wir als professionelle Historiker/innen allzu oft ignorieren zu können glauben. Dennoch wird Rosenfelds Buch mit Sicherheit nicht dem gelegentlichen Vorwurf entgehen können, eigentlich kein ernsthafter Beitrag zur Geschichtswissenschaft zu sein. Dabei haben Formen alternativer Geschichtsbetrachtung in den vergangenen Jahren auch in der Zunft Einzug gehalten und zunehmend Fuß fassen können. Und wer wollte überhaupt leugnen, dass die „Was wäre, wenn…“-Frage von konstitutiver Bedeutung für jede Rekonstruktion historischer Vorgänge und jedes Verständnis von Geschichte ist? Die weiterhin verbreitete Skepsis gegenüber kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und Zugängen spiegelt nur die Vorbehalte und Ressentiments gegenüber ihrem Untersuchungsgegenstand. Man sollte aber beides nicht unterschätzen, weder die kontrafaktische Literatur selbst noch den wissenschaftlichen Ertrag ihrer kritischen und differenzierten Analyse. Rosenfeld hat dies beispielhaft belegt. Dass seine materialreiche Studie dabei noch äußerst lesbar und unterhaltsam ist, sollte ihm – ebensowenig wie den parahistorischen Texten – keinesfalls als Nachteil ausgelegt werden.

Anmerkung:
1 Siehe dazu die Rezension von Christian Fuhrmeister: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-022>.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch