A. Gotzmann u.a. (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche

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Titel
Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933


Herausgeber
Gotzmann, Andreas; Liedtke, Rainer; Rahden, Till van
Reihe
Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts Bd. 63
Erschienen
Tübingen 2001: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
444 S.
Preis
DM 148,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Meyer, Abteilung Wissenschaft, VG Wort

In den vergangenen zehn Jahren hat die Erforschung der deutsch-jüdischen Geschichte enorme Fortschritte gemacht. Zahlreiche qualitativ hochwertige Gesamtdarstellungen und eine große Zahl an Monographien haben das Verständnis dieser komplexen Beziehung transparenter, lebendiger und nachvollziehbarer gemacht. 1 Vor allem gelang es zu zeigen, dass die Paradigmen der deutschen Nationalgeschichte, wie sie etwa in den Begriffen Bürgertum, Liberalismus und Bildung sich materialisieren, sowie deren methodischen und methodologischen Überlegungen zu enge Grenzen darstellen, um für die Darstellung der deutsch-jüdischen Geschichte noch länger angemessen zu sein.

1. Juden, Bürger, Deutsche

Der hier angezeigte Sammelband trägt den neuesten Entwicklungen in der Forschung Rechnung und kann uneingeschränkt als derzeit beste Überblicksdarstellung bezeichnet werden. Die Titelgebung erfährt in Till van Rahdens Einleitungsaufsatz „Von der Eintracht zur Vielfalt: Juden in der Geschichte des deutschen Bürgertums“ eine sachkundige Rechtfertigung. Neben einer detailgenauen Nachzeichnung der jüngeren Rezeption der deutsch-jüdischen Geschichte zeigt er an, welche Schwerpunkte der Band setzt: So werden erstmals genau die Konsequenzen aus der längst nicht mehr neuen Einsicht gezogen, dass die „Juden als Kerngruppe des deutschen Bürgertums“ (13) zu verstehen sind, mithin Abschied zu nehmen ist von der Vorstellung, man könne die deutsch-jüdische Geschichte als Minderheitengeschichte betreiben. Diese Bestimmung hat Folgen für ein anderes Interpretament: Häufig trifft man die Relation Inklusion-Exklusion als Koordinatenachsen an, um jüdische Biographien und Kontroversen in Deutschland zu verorten, dagegen steht nunmehr, dass diese Bestimmungen in einen weiteren Rahmen eingespannt werden müssen: „Für den Dialog zwischen der Bürgertumsforschung und Historiographie zur Geschichte der deutschen Juden ist es fruchtbar, das Verhältnis zwischen Inklusion und Exklusion nicht als Sonderproblem des jüdischen Bürgertums zu begreifen. Vielmehr war für die bürgerliche Gesellschaft insgesamt das Spannungsverhältnis zwischen Universalismus und Partikularismus konstitutiv.“ (23) Schließlich ist damit ausgesprochen, dass die oft starren Vorstellungen von Teilhabe am Bürgertum und seinen Veränderungsprozessen, die Herausbildung von Identitäten und die Auseinandersetzungen um Anpassung, religiöser Selbstdefinition und möglicher Konversion in dynamische, korrelative Begrifflichkeiten übersetzt werden müssen.

In der Studie „Bürgertum und Bürgerlichkeit im Spannungsfeld des neuen Konfessionalismus von den 1830er bis zu den 1930er Jahren“ von Olaf Blaschke werden die programmatischen Vorgaben umgesetzt: Blaschke löst zunächst virtuos jene Vorstellungen auf, das sich Juden und nichtjüdische Deutsche gegenüberstanden, wobei letztere einen „homogenen Block“ (390) darstellten. Dann zeigt er, wie sehr das trialektische Verhältnis von Judentum, Katholizismus und Protestantismus selbst als „Explanans“ für die „wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte“ (47) dienen kann, um schließlich zu resümieren: „Drei Mängel der Bürgertumsforschung sind aufgedeckt und mit Vorschlägen zu ihrer Überwindung konfrontiert worden: 1. die Vernachlässigung konfessioneller Faktoren. Das hatte zur Folge, dass Katholiken und Juden aus der Bürgertumsforschung verschwanden, oder, wenn nicht, 2. nur isoliert analysiert worden.“ (64) So wird der behandelte Zeitraum zum „Zweiten konfessionellen Zeitalter“ (66), das, so Blaschke, das Bürgertum insgesamt geschwächt habe, und es möglich wurde Judentum nicht als Konfession, sondern als Rasse wahrzunehmen und später vernichten zu wollen.

Neue Einsichten verspricht auch die Lesart Ulrich Siegs in seiner Studie über den „Preis des Bildungsstrebens. Jüdische Geisteswissenschaftler im Kaiserreich“. Durch zahlreiche Archivbelege kann er nachweisen, wie sehr die Gegenüberstellung „Mandarin-Aufsteiger“ aus dem milden Abstand der Jahrzehnte zusammengezimmert ist. Vielmehr gelte: „Ein dezidiert quellenkritischer Zugriff belegt allerdings nicht nur, wie verschlungen und mühsam die meisten Lebensläufe waren, er verdeutlicht auch, welche institutionellen Rahmenbedingungen und soziologischen Mechanismen das jüdische Bildungsstreben begünstigten. Das Zusammenspiel von individueller Ermutigung und kollektiver Diskriminierung scheint den Leistungswillen von Juden in Schule und Universität besonders gefördert zu haben.“ (95)

Stefan-Ludwig Hoffmann über „Juden und Freimaurer“, Marline Otte über „Bürger im Jargontheater“ und Morten Reitmayer über „Jüdische Großbankiers und der Antisemitismus im deutschen Kaiserreich“ bieten vielfältige Belege für die immense Diversifikation der Beziehungen von Juden und Nicht-Juden in sozialer, ästhetischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Ernsthaft diskutiert werden, muss in diesem Zusammenhang die These von Stefan-Ludwig Hoffmann, dass „(j)e mehr sich die allgemein-menschlichen Werte der Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert tatsächlich verallgemeinerten – und etwa die Juden sich „verbürgerlichten“ – desto mehr wurde der allgemein-menschliche Bedeutungsgehalt der Semantik der Bürgerlichkeit exklusiv gewendet, um sie wieder unterscheidungsfähig zu machen.“ (101)

Wie stark der Wille zur Teilnahme an den Kulten und Praktiken der bürgerlichen Nichtjuden ist, zeigt der Beitrag von Erik Lindner. Schritt für Schritt wächst der Enthusiasmus für Schiller und Fichte 2. Dabei mischen sich selbstverständlich, so Lindner, auch kritische Töne unter den Jubelgesang. Auch hier lässt sich von einem Meinungsspektrum sprechen, in dem sehr klar wird, dass alles, was man im Hinblick auf die eigene Verbürgerlichung, die Unterstützung der liberalen Strömungen getan wird, noch lange nicht ausreicht, um auch von den Nichtjuden akzeptiert zu werden. Der Kampf um Anerkennung führt zu scharfen Kontroversen. Und das nicht nur bei den urbanen Intellektuellen, sondern auch bei den sogenannten Landjuden und auch in der Wahrnehmung der nichtjüdischen Öffentlichkeit, genauer: in den illustrierten Zeitschriften des 19. Jahrhunderts. In ihren quellennahen Aufsätzen weisen Richard Mehler und Michaela Haibl nach, dass alte Forschungsannahmen revidiert werden müssen. Mehler insistiert darauf, dass die Landjuden ganz und gar nicht die „Agenten der Moderne“ waren, also Vorbilder für die nichtjüdische Landbevölkerung, die als Muster für die allmähliche Verbürgerlichung der Landbewohner waren. Und Michaela Haibl bezieht nicht die Schaffung von Negativstereotypen in ihre Analyse ein, sondern auch die Zeichner der Zeitschriften: „Dennoch muss das Bild bei aller Vieldeutigkeit auch im Prozess von jüdischer Emanzipation und Verbürgerlichung als authentisches Zeitinterpretament ernst genommen werden. Der Zeichner ging als Repräsentant der bürgerlichen Gesellschaft von einer historischen Situation aus, von sichtbaren Auffälligkeiten, von Wahrgenommenen und Geschehenem. (...) Die Zeichner schließlich waren es, die Juden sichtbar und angreifbar machten, indem aus imaginierten Negativstereotypen „Bilder für den Kopf“ schufen.“ (235f.)

2. Bürger im Judentum

Weitere Aufweise für die plurale, sich vorschneller und verallgemeinernder Begriffe entziehende Tatsachen, diesmal für die innerjüdische Diskussion, finden sich in den „Versammlungen deutscher Rabbiner“ in den Jahren 1844, 1845 und 1846. Andreas Gotzmann warnt zu recht vor der „Integrationsmystik“ (247), die tatsächlich zahllose ambivalente Konsequenzen nach sich zog. Vielmehr bleibt bei Gotzmann in seiner Zusammenfassung die Fragilität der diskutierten Fragen gewahrt: „Alle Konstrukte, selbst die orthodoxen, versuchen das grundlegende Modell einer bürgerlichen Konfession zu skizzieren, also eines religiösen Systems, das bewusst in einem pluralistischen Rahmen agierte und zunehmend weniger im Gegensatz zur Außenwelt stand. Damit verweisen die Intentionen und Paradigmen dieser neuen jüdischen Religion direkt auf das notwendige, jedoch nicht wirklich existente Pendant einer gleichberechtigten bürgerlichen Gemeinschaft.“ (261)

Anschauungsmaterial für die Vorreiterrolle, die selbst als Angleichung verstanden wurde, die das Eigene des Judentums gerade bewahren soll, arbeitet Simone Lässig durch Pierre Bourdieus praxisfreundliches Theorem des „kulturellen Kapitals“ bei jüdischen Schulprojekten heraus, während Rainer Liedtke detailreich die organisierten Wohlfahrtsbemühungen der Hamburger Juden in den Blick nimmt. „In der Organisation ihres eigenen Vereins- und Wohlfahrtswesens hielten sich die Juden dabei strikt an die Vorgaben der Gesamtgesellschaft. Sie wurden dadurch jedoch nicht Teil des deutschen Bürgertums, sondern schufen sich eine eigene, separate bürgerliche Sphäre.“ (313) Beispiele für die „eigene, separate bürgerliche Sphäre“ finden sich in Andreas Reinkes Aufsatz zum Orden B’nai B’rith, von Iris Schröder zu den sozialreformerischen Bestrebungen der Frankfurter Jüdinnen. Obwohl hierzu jeweils umfangreiche Literatur vorliegt, gewinnen die Beiträge ihre eigene Kontur aus der Theoriesprache, die weder Bielefelder noch Kocka-Berliner Einschläge zeigt. Die methodische Offenheit zeichnet auch die beiden abschließenden Beiträge von Stefanie Schüler-Springorum über Aron Liebeck und von Martin Liepach über das jüdische „Krisenbewusstsein des jüdischen Bürgertums in den Goldenen Zwanzigern“ aus. Stefanie Schüler-Springorum umschifft die Fallen des hermeneutischen Biographismus, in die noch Lengers Sombart-Arbeit kräftig tapste, und Martin Liepach beschreibt ohne Illusionen, die Warner und den Talmi mit ihren jüdischen Stimmen.

Der Band macht Aufsatz für Aufsatz deutlich, wie innovativ es sein kann, wenn die eingefahrenen, bei der deutschen Nationalgeschichte möglicherweise erkenntnisaufschließenden Gleise der etablierten Sozialgeschichte verlassen werden. Methodenpluralismus führt nicht notwendigerweise in Beliebigkeit, wenn er durch quellenkritische Überlegungen abgesichert ist. Die Vorstellung einer kollektiven Identität der deutschen Juden ist in diesem Band sehr überzeugend zugunsten einer situativen Identität aufgelöst worden. Dass der Band Reinhard Rürup gewidmet ist, ist eine weitere schöne Note an diesem Standardwerk.

1 Siehe dazu die ausführliche Bibliographie, die Till van Rahden in dem angezeigten Band auf den Seiten 419-432 kenntnisreich zusammengestellt hat.
2 Kürzlich ist zum Verhältnis der deutschen Juden zu Fichte eine sehr wichtige philosophiehistorische Arbeit erschienen: Hans-Jürgen Becker: Fichtes Idee der Nation und das Judentum, Fichte-Studien Supplemente Bd. 14, Rodopi Verlag, Amsterdam 2000, 417 S., 90,- Gulden.

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