S. Schütze: Die andere Seite der Demokratisierung

Cover
Titel
Die andere Seite der Demokratisierung. Die Veränderungen politischer Kultur aus der Perspektive der sozialen Bewegung der Siedlerinnen von Santo Domingo, Mexiko-Stadt


Autor(en)
Schütze, Stephanie
Reihe
Fragmentierte Moderne in Lateinamerika 1
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Helen Rupp, DFG-Graduiertenkolleg "Bruchzonen der Globalisierung", Universität Leipzig

„Welche Demokratie? In diesem Land gibt es keine Demokratie. Nur die Regierung spricht viel von der Demokratie.“ (S.11) – Mit diesem Zitat einer Bewohnerin der Unterschichtsiedlung Santo Domingo in Mexiko-Stadt leitet Stephanie Schütze, wissenschaftliche Assistentin am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, ihr Buch über „Die andere Seite der Demokratisierung“ ein.1 Die Äußerung macht einerseits von Anfang an deutlich, dass „Demokratie“ eine Frage der Perspektive ist. Während im öffentlichen Diskurs die Sichtweise dominiert, in den 1990er-Jahren sei mit der Öffnung des Wahlverfahrens und der Durchsetzung des Parteienpluralismus das politische System Mexikos demokratisiert worden, widersprechen die von Schütze befragten Siedler/innen der Annahme, mit dem Regierungswechsel im Jahr 2000 habe sich die Demokratie durchgesetzt.

Symptomatisch ist dieses Eingangszitat andererseits für den Stellenwert, den Schütze in ihrer Untersuchung über die Veränderungen politischer Kultur in Mexiko den Stimmen von Frauen (und Männern) aus der Unterschicht einräumt. Mit ihrem Fokus auf Frauen der Unterschicht als soziale Akteurinnen nimmt die Veröffentlichung eine Perspektive ein, die sich von der herkömmlichen politikwissenschaftlichen Transformationsforschung deutlich unterscheidet und sich auch innerhalb der Studien zur ‚politischen Kultur’ durch ihre mikrosoziologische Herangehensweise hervorhebt.

In der Vergleichenden Politikwissenschaft gibt es einen wachsenden Korpus an Literatur, der sich mit dem Systemwandel oder -wechsel in Staaten der „Dritten Welt“ und Ländern des ehemaligen Ostblocks beschäftigt.2 Diese Transformationsforschung nimmt vorrangig politische Institutionen sowie das Handeln von Eliten in den Blick. Dahingegen untersucht „Die andere Seite der Demokratisierung“ Transformationsprozesse „aus der alltagsweltlichen Perspektive der sozialen Akteur/-innen“. Denn, so Schützes Überzeugung, „nur die alltäglichen Erfahrungen der sozialen Akteur/-innen, ihre Kommunikation untereinander und ihre Interaktion mit den Regierungsinstanzen können Aufschluss über den Wandel politischer Kultur, das heißt über den Demokratisierungsprozess ‚von unten’, geben“ (S. 12).

Damit grenzt sich Schütze von einem eng gefassten Verständnis von ‚politischer Kultur’ ab, wie es mit Almond und Verbas Untersuchung „The Civic Culture“ (1963) 3 eingeführt wurde. Nicht nur in Interaktionen der Bürger/innen mit den politischen Institutionen sondern auch im alltäglichen Denken und Handeln der sozialen Akteur/innen entstehe politische Kultur. „Die andere Seite der Demokratisierung“ untersucht die Veränderungen politischer Kultur in Mexiko aus der Perspektive der Bewohner/innen der Unterschichtssiedlung Pedregal de Santo Domingo in Mexiko-Stadt, deren Geschichte seit der Gründung durch eine massive Landbesetzung Anfang der 1970er-Jahre bis zum Ende der Feldforschung im März 2001 das Buch nachzeichnet. Anhand des Konzeptes des ‚sozialen Dramas’4 wird dargestellt, wie sich die anfänglich spontane Gruppenkonstellation der Landbesetzer/innen (‚Communitas’) zur sozialen Bewegung entwickelt. Dabei zeichnen sich sowohl Wandel als auch Kontinuität der durch Klientelismus geprägten politischen Kultur ab.

Mit Bezug auf einen relationalen Raumbegriff 5 zeigt Schütze, dass die Siedler/innen von Santo Domingo ‚Raum’ im mehrfachen Sinne erobert haben: einerseits als das konkrete Gebiet des Grundstücks oder der Siedlung (‚Ort’) und andererseits als Möglichkeiten zur Partizipation und Debatte (‚Öffentlichkeiten’ im Habermasschen Sinne). Außerdem hat die Raumveränderung eine geschlechtsspezifische Bedeutung.

Insgesamt waren auffällig viele Frauen an den städtischen sozialen Bewegungen beteiligt. Und auch die Siedlung Santo Domingo wurde hauptsächlich von Frauen gegründet und aufgebaut. Für die Frauen bedeutete die Teilnahme an politischen Aktivitäten eine Eroberung des öffentlichen Raums und war oft mit dem Ausbruch aus traditionellen Geschlechterverhältnissen verbunden. Gleichzeitig stellte eine wichtige Motivation der Frauen für die Landnahme der Wunsch nach privatem Raum dar, der nicht der Kontrolle des Partners oder der Großfamilie untersteht. Mit Blick auf die Veränderungen politischer Kultur in Mexiko wird dieses emanzipatorische Konzept von Privatheit von Schütze besonders hervorgehoben: „Die Einforderung des Rechts auf Privatheit gegenüber staatlichen, familiären und kollektiven Konformitäts- und Kontrollzwängen seitens der Siedlerinnen von Santo Domingo stellt eine wichtige politisch-kulturelle Veränderung der Macht- und Geschlechterverhältnisse dar, die für den Demokratisierungsprozess der mexikanischen Gesellschaft von großer Folgenhaftigkeit sein wird.“ (S. 273) Damit hebt sich Schützes Arbeit positiv vom Mainstream der Transformationsforschung ab, in dem „sowohl Frauen als Untersuchungsgegenstände als auch das „Geschlecht“ als Untersuchungskategorie spektakulär abwesend sind“6. Auch in der Forschung zur politischen Kultur, in der quantitative Studien zu Einstellungen der Bürger/innen dominieren, wird Geschlecht meist auf eine individuelle Variable reduziert. Mit ihrem qualitativen Ansatz, der auf einer Kombination unterschiedlicher soziologischer und ethnographischer Methoden beruht, kann Schütze hingegen Veränderungen in den Machtverhältnissen innerhalb und zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen erfassen.

Durch eine detaillierte Darstellung und Reflektion ihrer theoretischen Annahmen und methodischen Vorgehensweise wird der Forschungsprozess transparent gemacht. Dies erleichtert nicht nur die Nachvollziehbarkeit von Schützes Interpretationen und Schlussfolgerungen. Es liefert außerdem den praktischen Nebeneffekt, bei der Lektüre einiges über die gelungene Durchführung einer sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeit zu lernen.

Für Leser/innen ohne Spanischkenntnisse mag zuweilen die Verwendung vieler spanischer Begriffe im Original die Lektüre erschweren. Eine Übersetzung der im Abkürzungsverzeichnis aufgeführten Begriffe ins Deutsche wäre dabei sicher hilfreich gewesen. 7

Die zahlreichen Äußerungen der Interviewpartner/innen (jeweils im spanischen Original mit anschließender deutscher Übersetzung), die die Darstellung der Auswertungsergebnisse auszeichnen, vermitteln dem Buch eine große Lebendigkeit. Durch die ausführlichen, teils über eine Seite sich erstreckenden Zitatpassagen nimmt die Mikroperspektive einen großen Raum ein. Dadurch kommen die von den empirischen Ergebnissen ausgehenden Rückschlüsse auf die gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesse leider zwangsläufig ein wenig kurz.

Aus Schützes ethnographischer und interviewbasierter Forschung in Santo Domingo – mit ihren hunderttausend Einwohner/innen vielleicht die größte Unterschichtsiedlung Lateinamerikas – ergibt sich jedoch deutlich mehr als die detaillierte Darstellung der Geschichte und sozialen Gegenwart einer einzelnen Siedlung. Denn, so hebt Schütze mit Verweis auf Geertz 8 hervor, die Forschung in einem Dorf ist nicht gleichbedeutend mit Forschung über dieses Dorf. So wird die Geschichte der sozialen Bewegung der Siedler/innen von Santo Domingo in den Kontext des politischen Transformationsprozesses Mexikos während der vergangenen drei Jahrzehnte eingebettet.

Der politisch-institutionelle Wandel wurde dabei geprägt von der politischen Öffnung unter Präsident Luis Echeverría (1970-1976), über die neoliberalen Reformen nach der mexikanischen Schuldenkrise 1982 bis hin zum Ende der siebzigjährigen Einparteienherrschaft der PRI (Institutionelle Partei der Revolution) im Juli 2000 mit dem Wahlsieg der Koalition aus rechtskonservativer PAN (Partei der Nationalen Aktion) und PVWM (Grüne Ökologische Partei Mexikos). Auch wenn damit das Jahr 2000 gemeinhin als der „Höhepunkt der institutionellen Transformation des politischen Systems Mexikos“ (S.30) angesehen wird, war schon der Wechsel der Regierung von Mexiko-Stadt durch den Wahlsieg der PRD (Partei der Demokratischen Revolution) im Jahr 1997 ein wichtiges Ereignis.

Schütze zeigt in ihrer Untersuchung, dass es zahlreiche Wechselwirkungen zwischen politischen Institutionen und Siedler/innen gibt. Wie andere städtische Unterschichtsbewegungen entstand die soziale Bewegung der Siedler/innen von Santo Domingo als Reaktion auf die Unfähigkeit der PRI-Regierung, mit den Problemen der Urbanisierung und des Bevölkerungswachstums umzugehen. Das Verhältnis zwischen nationalen sowie städtischen Regierungen und der Bevölkerung ist von ständigen Aushandlungsprozessen geprägt. Der Ausbau der Infrastruktur konnte teilweise nur mit massiven Protestaktionen bei den zuständigen Stellen erreicht werden. Die Bewohner/innen Santo Domingos kämpfen außerdem teilweise heute noch für die Anerkennung ihrer Grundstücke als Privateigentum. Eine der wichtigsten Funktionen lokaler Führungspersönlichkeiten ist dementsprechend die Vermittlung bei Verhandlungen mit der Regierung oder Hilfe bei der Beschaffung von materiellen Ressourcen. Damit zeigt Schützes Arbeit eindringlich die andere Seite klientelistischer Beziehungen, die für viele Bewohner/innen der Unterschichtsiedlung eine wichtige Versorgungsfunktion ausüben.9 Daraus folgt implizit auch, dass durch ein demokratisches Wahlverfahren nicht automatisch klientelistische Strukturen verschwinden können. Vermutungen, durch den Antritt der PRD-Regierung in Mexiko-Stadt könnte es zu einem Bruch der politischen Kultur und einer Abkehr vom Klientelismus der PRI gekommen sein, musste Schütze schon zu Beginn ihrer Forschung revidieren. Auch die weiblich geprägte Bewegungskultur stelle keine ‚Gegenkultur’ dar. Zwar hat durchaus eine Veränderung der männlich dominierten politischen Verhandlungskultur etwa durch die Organisierung der Frauen in horizontalen Netzwerken stattgefunden. Frauen sind jedoch, wie Schützes Arbeit deutlich zeigt, ebenfalls in klientelistische Beziehungen eingebunden und stellen teilweise wichtige lokale Führungspersönlichkeiten dar.

Gleichzeitig wird die Manipulations- und Unterdrückungsfunktion klientelistischer Beziehungen in der Untersuchung deutlich.10 Die Geschichte Santo Domingos ist geprägt von einem Ausbau der Kontrolle durch staatliche bzw. parteipolitische Strukturen. Parteianhängerschaft und Wahlstimmen entscheiden sich fast immer danach, wer entsprechende Ressourcen vermitteln kann. Angesichts dieser scheinbar zwingenden Logik klientelistischer Beziehungen überrascht es zu erfahren, dass innerhalb der städtischen sozialen Bewegungen erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ein „Meinungsumschwung in Bezug auf die Teilnahme an den Wahlprozessen statt(fand): große Teile der städtischen Bewegungen … sich mit der Präsidentschaftskampagne von Cuauhtémoc Cárdenas (solidarisierten) und … sogar teilweise in die „Frente Democrático Nacional“ (FDN) ein(traten)“ (S. 63f.). Auch die Zapatistas werden als „wohl bekannteste Protestbewegung der 1990er Jahre“ (S.59) nur erwähnt, ohne näher darauf einzugehen, dass es sich hierbei um eine soziale Bewegung handelt, die die Teilnahme an Wahlen und die Unterstützung auch „linker“ Parteipolitiker/innen ausdrücklich ablehnt.

Insgesamt leistet „Die andere Seite der Demokratisierung“ nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht einen wichtigen Perspektivenwechsel innerhalb der Forschung zu Veränderungen politischer Kultur im Kontext von Transformationsprozessen. Insbesondere die Dimension der räumlichen Organisation von Geschlechterverhältnissen bereichert die Analyse. Darüber hinaus zeigt Schützes Buch als Beitrag zur kontroversen Debatte über den Stand der Demokratisierung des Landes angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen in Mexiko ungebrochene Aktualität.

Anmerkungen:
1 Das Buch basiert auf Schützes Dissertationsschrift, die im Januar 2004 am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht wurde.
2 Vgl. Bos, Ellen, Die Rolle von Eliten und kollektiven Akteuren in Transitionsprozessen, in: Merkel, Wolfgang (Hrsg.), Systemwechsel I, Opladen 1996, S. 81-109; Grugel, Jean, Democratization. A Critical Introduction, Houndmills 2002; Merkel, Wolfgang, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Opladen 1999; Sandschneider, Eberhard, Stabilität und Transformation politischer Systeme. Stand und Perspektiven politikwissenschaftlicher Transformationsforschung. Opladen 1995.
3 Almond, Gabriel A.; Verba, Sidney, The civic culture. Political attitudes and democracy in five nations, Princeton 1963.
4Turner, Victor, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M. und New York 1989.
5Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001.
6Sauer, Birgit, Transition zur Demokratie? Die Kategorie „Geschlecht“ als Prüfstein für die Zuverlässigkeit von sozialwissenschaftlichen Transformationstheorien, in: Eva Kreisky (Hrsg.), Vom Patriarchalen Staatsozialismus zur patriarchalen Demokratie, Wien 1996, S. 131-164, hier S. 132.
7 Das Abkürzungsverzeichnis ist außerdem nicht ganz vollständig. Es fehlen beispielsweise ARDF (S. 64), ALDF (S. 65) sowie CUD (S. 63).
8 Geertz, Clifford, The interpretation of cultures, New York 1973.
9 Vgl. Roninger, Luis, Political clientelism, democracy and market economy. Unveröffentlichter Vortrag beim Internationalen Kolloquium: ¿Lo público como arena de la transformación social, cultural y política?, Freie Universität Berlin, Berlin 2003.
10 Roninger (wie Anm.8)

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension