M. Kuzina: Der amerikanische Gerichtsfilm

Cover
Titel
Der amerikanische Gerichtsfilm. Justiz, Ideologie, Dramatik


Autor(en)
Kuzina, Matthias
Erschienen
Göttingen 2000: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Heimann, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig

Der Reiz von Justiz- und Anwaltsdramen in Kino und Fernsehen ist angesichts diverser Serien ("Café Meineid", "Das Jugendgericht. Mit Richterin Ruth Herz" oder ”Edel & Starck”) und amerikanischen Importen ("Practice - Die Anwälte") in den privaten Fernsehprogrammen, kassenträchtigen Verfilmungen von David Grishams im Justizmilieu angesiedelten Romanen ("Der Klient", "Gingerbread") und trotz der Erfolgsstory von "Liebling Kreuzberg" ein kaum hinterfragtes Phänomen. Allenfalls kommen nach kurzem Nachdenken fiktionale Sendungen aus der Frühzeit des bundesdeutschen Fernsehens ("Das Fernsehgericht tagt") oder langjährig laufende Serien des DDR-Fernsehens (”Der Staatsanwalt hat das Wort”) wieder in den Sinn; beide sehr erfolgreiche Sendereihen mit einem das Alltagsdenken durchdringenden, für die politische Kultur in der ”alten” Bundesrepublik und für den Normalitätsanschein des Fernsehens der DDR nachhaltigen Wirkungsgrad. Selbst diese hatten ihre populären Vorläufer im US-Fernsehen ("The People's Court").

Wie so manches in der deutschen Medien- und Filmgeschichtsschreibung bleibt die Repräsentation deutscher Justiztraditionen im Film bislang ein Desiderat. Nicht so in der amerikanischen Fachliteratur, möchte man meinen. Doch auch das amerikanische "courtroom drama" als eigenständigem Genre verschloß sich bisher filmhistorischen Studien (S. 13). Dem durchschnittlichen Kinogänger geläufige Titel wie der mehrfach verfilmte Klassiker "Die zwölf Geschworenen", Billy Wilders "Zeugin der Anklage" oder der Problemfilm "Nuts - Durchgedreht" mit Barbra Streisand sind in Kategorien wie “Melodram”, “Literaturverfilmung” oder Problemfilm versteckt. Die Untersuchung Michael Kuzinas ist die erste systematische, nicht nur in deutscher Sprache, auch wenn sie keine umfassende Genre-Geschichte anstrebt, sondern als "Annäherung an populäre mediale Verarbeitungen" verstanden werden will, die im größeren Zusammenhang des amerikanischen Justizfilms stehen (S. 11).

Zunächst kostete es den Autor liebe Mühe, den schillernden Begriff "courtroom drama" zu evaluieren und von konkurrierenden oder weiter gefaßten Bezeichnungen (etwa des "legal drama" und des "crime drama"), gängigen Untergattungen und Variationen (Kriminalgerichtsfilme/"Courtroom whodunnits", Justizthriller, "true crime"-Filme, Problemfilme, Gefängnisfilme, Polizeifilme) abzugrenzen. "Ein Spielfilm mit rechtlichem Inhalt kann nur dann als 'courtroom drama' aufgefaßt werden, wenn die Filmdramatik primär aus Gerichtsszenen erwächst, die den systembedingten Gegensatz zwischen Ankläger und Verteidiger deutlich erkennen lassen und somit dem adversarischen Prinzip der Prozeßführung gerecht werden." (S.11) Kuzina entschied sich für eine nach gattungsgeschichtlichen Prinzipien (älterer Kriminalgerichtsfilm und aktueller Justizthriller), rechtsgeschichtlichen Hintergründen (wie Differenzierung zwischen historischem und authentischem Gerichtsfilm), phänomenologischen Unterscheidungsmerkmalen (Unterteilung in Hybridformen des Gerichtsfilms) und funktionalen Besonderheiten (Gerichtsfilme als "social issue"/Problemdramen) gegliederte Typologisierung (S. 71), verweist auf die Sonderstellung des Anwaltsgenres - mithin die expansivste Kategorie - und schließlich des Geschworenenfilms, der auch als Sonderfall behandelt wird.

Trotz seines überragenden Symbolwerts (“Die zwölf Geschworenen”) in der amerikanischen Rechtskultur hat sich aus dramaturgischen Gründen die “Problematik der Überzeugungsbildung” der “grand jury” hinter den verschlossenen Türen des juryrooms, so die Feststellung Kuzinas (S. 264), nicht als eigenständige Subspezies etablieren können. Nichts desto weniger werden Geschworenenfilme als Sonderfälle aber in der Darstellung ausführlich behandelt.

Ausgewählt aus "mehr als 200 Gerichtsfilmen" beläuft sich Kuzinas Untersuchungskorpus auf 78 fiktionale und semidokumentarische Filme, wobei der Anteil von 30 Fernsehbeispielen, zumeist aus den achtziger und neunziger Jahren, einen leider unzureichend thematisierten, doch interessanten Hinweis auf die wachsende Bedeutung von gegenwartsbezogenen "telefeatures" für das Rezeptionsverhalten in den USA gibt.

Der Autor versuchte sich an Einkreisungen des Gerichtsfilms als zumindest US-typisches Genre. Als durchgängiges Leitprinzip der erzählten Geschichten hebt er das "adversarische" Prinzip der amerikanischen law culture (die Funktion des Richters und der Geschworenen) hervor, nimmt aber gleichzeitig die Dauer der Gerichtsszenen der jeweiligen Filme als unerheblich für die Auswahl seiner Untersuchungsobjekte an, so daß bei dem Leser etwas Ratlosigkeit zurückbleibt, was denn nun ein Gerichtsfilm eigentlich sei.

Doch geht es dem Autor weniger um eine exakte, säuberlich vermessene Typologisierung des Genres als um die gesellschaftliche Relevanz von visuellen Bildern im amerikanischen rechtskulturellen Kontext. Die Arbeit, so sperrig sie bisweilen zu lesen sein mag, liefert gründliche Einblicke in die Verarbeitung und den kulturellen Gebrauch von filmischen Bildern über amerikanische Justizverfahren, in die Reichweiten und Begrenztheit ihres kritischen Potentials. Bereits im Untertitel ist das Bezugssystem der Analysen umrissen: der Stellenwert von "Gerichtsfilmen" im Kontext der amerikanischen law culture, ihre Ideologisierung und "Veralltäglichung" im amerikanischen Kino und Fernsehen.

So finden sich in der Darstellung verstreut Hinweise darauf, daß sich Gerichtsfilme und Anwaltsserien in den USA einer wachsenden Beliebtheit erfreuen und im Falle der Serie "L.A. Law" (1986 bis 1994) zu steigenden Bewerberzahlen an juristischen Fakultäten führte. An den "law schools" werden sie seit längerem und regelmäßig als Anschauungsmaterial in der Ausbildung heran gezogen. Gerichtsfilme dienen, auch potentiellen Geschworenen, gar als Hauptinformationsquelle über das amerikanische Rechtssystem: "Most juries learn their law not from the judge's instructions, but from what they have seen on the screen", so das Urteil eines Filmkritikers, auf den sich Kuzina mehrfach bezieht (S. 274). Dies führt nicht selten zu Fehlwahrnehmungen derjenigen, die als Mitglied einer petit oder grand jury unparteiisch Recht zu sprechen hatten (S. 275).

An vielen Filmbeispielen wird deutlich, wie sehr solche Film- und Fernsehproduktionen - Formen der amerikanischen Massenkultur - dazu dienen, das in der Tradition des common law entwickelte Rechtsprechungsverfahren einerseits transparent zu machen, andererseits oftmals aber als Inszenierungen einer legalistischen Ideologie daherkommen (S. 29).

So behandelt Kuzina in einem Kapitel den filmischen Justizthriller (legal thriller) als eines der erfolgreichsten und jüngsten, aber auch problematischsten Subgenres (S. 102ff). Einerseits stellt die Personalisierung rechtlicher Konflikte eine Konstante des legal thrillers dar, andererseits werden außergewöhnliche und abgründige Gewalt- und Sexual-Straffälle mit Mitteln der Spannungsdramaturgie inszeniert. Der Autor argumentiert schlüssig, daß diese populären Fiktionalisierungsmuster zwar eine Folge medialer Enttabuisierung von Abgründen des Verbrechens, gleichzeitig ein Unbehagen an einer liberalen Strafjustiz-Praxis transportieren, mit dem Ergebnis, daß Täter "extrajudizial”, vulgo: durch Selbstjustiz, zur Rechenschaft gezogen werden.

Mit dem ideologiekritischen Zugriff gelingen Kuzina interessante Einblicke in die Realitäten amerikanischer Rechtskultur, insbesondere dann, wenn es um Verfilmungen historischer oder "authentischer" Justizfälle geht. Im Anhang sind ausführliche Kontext-Informationen zu einigen solcher Fallgeschichten zu lesen, die als Vorlage für Verfilmungen dienten. Etwa das bizarre Beispiel eines Anklageverfahrens gegen einen Lehrer in Tennessee 1925/26 (S. 137ff), der ein auf den Lehren Darwins aufbauendes Lehrbuch im Unterricht verwendete (Inherit the wind, verfilmt 1959 und als Fernseh-Remakes 1965 und 1988).

Die tief verwurzelte Rassendiskriminierung und ihre visuelle Verarbeitung wird an mehreren Adaptionen eines realen Vorfalls transparent: die Ermordung junger schwarzer Bürgerrechtler durch Mitglieder des Ku Klux Klan in Mississippi im Sommer 1964 und die Aufklärungsarbeit von FBI-Beamten (143ff). Hierzulande ist der Fall durch Alan Parkers "Mississippi Burning" (1988) bekannt geworden, der auch in die deutschen Kinos kam und im Fernsehen mehrfach ausgestrahlt wurde. In den USA reagierten Fernsehstationen bereits Mitte der siebziger Jahre mit dem halbdokumentarischen Fernseh-Zweiteiler "Attack on Terror: The FBI versus Ku Klux Klan" (1975). 1989 folgte das TV-Drama "Murder in Missiissippi". Kuzina diskutiert die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen dieser Adaptionen. In "Attack on Terror" wird die langwierige, mühselige Ermittlungsarbeit und das Gerichtsverfahren in einem feindlich gesinnten, von rassistischen Vorurteilen geprägten Umfeld dramatisiert. Deutlich wird die Schwierigkeit, in den frühen sechziger Jahren in einem Bundesstaat wie Mississippi ein Gerichtsverfahren gegen Klan-Mitglieder anzustrengen und objektive Geschworene zu finden. Dem von der deutschen Filmkritik wohlwollend aufgenommene "Mississippi Burning" gelingt hingegen die fragwürdige Leistung, die Sache der Bürgerrechtsbewegung gänzlich auszusparen. "Auch wenn Mississippi Burning im Unterschied zu den beiden erwähnten Fernsehfilmen nicht als Dokumentation geschichtlicher Vorgänge, sondern als publikumswirksame und damit oberflächlich - emotionalisierende Unterhaltung intendiert ist, muß sich der Regisseur aufgrund des Ausmaßes der Geschichtsverfälschung eine ideologische Verzerrung vorwerfen lassen." (S. 144)

Aber auch sonst läßt sich durch die Methode einiges über Spezifika amerikanischer Strafprozess-Praxis erfahren, wenn auch die Herangehensweise Kuzinas nicht immer überzeugend scheint. Den Film "Star Chamber" von Peter Hyams (1983), wo es um einen Fall richterlicher Selbstjustiz geht, nimmt Kuzina als Beleg für antiliberale Ideologisierungen zu Beginn der Präsidentschaft Nixons (S. 111f.). Eine Analyse kam zu dem Ergebnis, daß sich bei Hauptfiguren in Fernsehfilmen und Serien zwischen 1969-71 eine "law and order"-Mentalität durchsetzte, während die Zahl der Fernsehanwälte in dieser Zeit deutlich abnahm. Das Kontextualisierungsverfahren wird zwar interessant angewandt, bleibt aber doch oft impressionistisch und wird nicht immer konsequent durchgehalten.

Als grundsätzlicher Einwand läßt sich geltend machen, daß in den Analyseschritten der Filmbeispiele filmische bzw. filmpolitische Gesichtspunkte zuwenig berücksichtigt wurden, wenn auch die Urteile Kuzinas prononciert und stimmig ausfallen. In manchen Fällen gelingt dem Autor dieser multiple methodische Zugriff, doch fehlt es an Stringenz. Von den Gerichtsfilmen wird in Anlehnung an Widerspiegelungstheorien gefordert, daß sie aufklärerisch systembedingte Mängel und Fehlentwicklungen in der "legal culture" aufdecken. Was dabei unterschätzt wird, ist die fast gesetzmäßige Ambivalenz von Massenprodukten wie Kino- und Fernsehfilmen. Hier hätte Kuzina häufiger medienspezifische Unterschiede zwischen Produktionen von Hollywood-Firmen und Fernsehstationen berücksichtigen können.

Trotzdem ist der Band in mehrfacher Hinsicht ein hochinteressanter Versuch, Film-Genregeschichte im Kontext kulturgeschichtlicher und ideologiekritischer Bezüge zu diskutieren. Besonders reizvoll ist der mediengeschichtlich integrative Blick auf die Behandlung von Reiz- und Tabuthemen in Kino- wie in Fernsehproduktionen, was sehr zur kreativen Weiterentwicklung dieses Ansatzes einlädt.

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