Cover
Titel
Täter im Verhör. Die "Endlösung der Judenfrage" in Frankreich 1940-1944


Autor(en)
Meyer, Ahlrich
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Bernhard Brunner

Wie viel Aufsehen die Thematisierung der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft in Frankreich erregen kann, zeigt der Überraschungserfolg des jungen amerikanischen Schriftstellers Jonathan Littel. Dessen preisgekrönter Roman „Les Bienveillantes“ erzielt in Frankreich gerade Auflagenrekorde und wird nach seiner Übersetzung wohl auch hierzulande bald ein Erfolg werden. Littel erzählt die fiktive Lebensbeichte eines deutschen SS-Offiziers, der als Angehöriger der Sipo-SD die Deportation der Juden aus Frankreich betrieb und auch in andere Gräuel der NS-Herrschaftspraxis verstrickt war und der dennoch seinen Lebensweg nach 1945 mehr oder weniger unbehelligt fortsetzen konnte.1

Was bereits einige Literaturkritiker/innen ahnen: Im Vergleich mit der historischen Realität wirkt Littels biografische Konstruktion nicht überspitzt.2 Dies beweist Ahlrich Meyers noch 2005 erschienene Monografie „Täter im Verhör. Die ‚Endlösung der Judenfrage’ in Frankreich“, in der er sich mit Aktenkenntnis und Akribie einer Reihe von bemerkenswerten Täterbiografien widmet. Meyer, bis 2000 Professor an der Universität Oldenburg, hat sich bereits in zahlreichen Veröffentlichungen mit diesem Thema beschäftigt. In „Täter im Verhör“ lässt er sich von zwei Fragestellungen leiten: Zum einen möchte er die zentralen Entscheidungsabläufe zur Deportation der Juden aus Frankreich untersuchen. Dabei erhebt er nicht den Anspruch einer Gesamtdarstellung, sondern möchte durch Einzelstudien den Weg zu einer solchen Gesamtschau ebnen. Zwar fehle es in Deutschland durchaus nicht an einschlägigen Titeln, doch basierten diese im Wesentlichen auf Serge Klarsfelds Standardwerk „Vichy-Auschwitz“. Zudem würden sich die deutschen Historiker/innen nur auf bestimmte Themen wie etwa die Militärverwaltung konzentrieren und andere Wichtige außer Acht lassen.3

Diese blinden Stellen möchte Meyer beleuchten. Sein zweites Erkenntnisinteresse konzentriert sich auf die Täter und basiert auf der Erfahrung einer enttäuschten Hoffnung, nämlich der, aus Vernehmungsprotokollen dieser Männer nennenswerte Hinweise auf die Tat selbst und die dahinterstehenden Motive zu gewinnen. An solchen Vernehmungsniederschriften herrscht kein Mangel: Es existiert ein mehrere hunderttausend Seiten starker Aktenbestand der deutschen Justizbehörden zu den in Frankreich verübten NS-Verbrechen. Dieser stammt aus einem Sammelermittlungsverfahren, das die Zentrale Stelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Ludwigsburg 1961 einleitete und das nach der Verurteilung von nur drei Männern im Kölner „Lischka-Prozess“ (1980) in den 1990er-Jahren endete. Die Analyse der in diesen Akten enthaltenen vielen hundert Vernehmungsprotokolle enttäuschten die Historiker/innen jedoch, da sie vor „immergleichen Argumentationsfiguren, Ausreden und Versuchen der Selbstentlastung“ nur so strotzten und ihnen nichts zu entnehmen war, das sich nicht auch aus den zeitgenössischen Dokumenten schon erschließen ließ. Meyers Erkenntnis daraus: Es sei sinnvoll, diese Vernehmungsprotokolle als „Quelle sui generis“ ernst zu nehmen, die in der Lage sei, über die „Konstruktion von kollektiver Erinnerung“ Auskunft zu geben, also anhand der Täteraussagen zu beleuchten, wie sich die Erinnerung an die NS-Zeit mentalgeschichtlich verzerrt habe.

Entsprechend diesem doppelten Erkenntnisinteresse zerfällt Meyers Buch in zwei Hälften. Im ersten Teil rekonstruiert er auf breiter Quellenbasis die erste Zeit der deutschen Besatzung, den Beginn der Judenverfolgung bis zum ersten für Auschwitz bestimmten Deportationszug vom März 1942 und untersucht, welche deutschen Dienststellen beteiligt waren (Kap. I und II). Anschließend thematisiert er die Verfolgung der Juden aus der französischen Provinz sowie die dahinter stehende Planung und Koordination (Kap. III). Im vieren Kapitel beschreibt Meyer die Phase der „Menschenjagden“, die ein extra zu diesem Zweck nach Frankreich entsandtes SS-Sonderkommando unter der Führung von Alois Brunner an der Côte d´Azur veranstalteten, sowie zwei Massaker an Juden im Jahr 1944. Im fünften Kapitel wendet sich Meyer schließlich der Frage zu, wie der Transport der über 74.000 Juden aus Frankreich vor allem nach Auschwitz organisiert und durchgeführt wurde, wer das Wach- und Begleitpersonal stellte. Diese Kapitel sind faktengesättigt und akribisch recherchiert. Vor allem dasjenige über die Transporte und das über die Verfolgung der Juden in der Provinz betreten von der deutschsprachigen Forschung bislang nicht bearbeitetes Terrain, aber auch die übrigen Kapitel enthalten viel Neues. Obwohl der zeitliche Schwerpunkt dieses (umfangreicheren) ersten Buchteils naturgemäß vor 1945 liegt, enthält jedes einzelne Kapitel auch Unterkapitel, die sich mit dem bundesrepublikanischen Nachleben der Täter beschäftigt. So wird das Verhalten der Angehörigen der Militärverwaltung und derjenigen der Sipo-SD gegenüber der westdeutschen Justiz beleuchtet, die Ermittlungen gegen die für das geschilderte Massaker Verantwortlichen umrissen, sowie die (auch für die Justiz) wichtige Frage behandelt, was das auf den Deportationszügen fahrende Begleitpersonal über die Massentötungen eigentlich wusste und später darüber aussagte.

Wie von Meyer auch nicht anders beabsichtigt, entwerfen diese Kapitel des ersten Teils allerdings kein Gesamtbild der deutschen Besatzung Frankreichs und ihrer Verbrechen. Stattdessen beleuchten sie schlaglichtartig die geschilderten Themenfelder und können für Leser/innen, denen das „Grundgerüst“ fehlt, gelegentlich durchaus anstrengend wirken. Dies trifft auch auf die oben geschilderten Teilkapitel über das Verhalten der verschiedenen Tätergruppen gegenüber der Justiz zu. Da Meyer erklärtermaßen keine Justizgeschichte schreiben will, bleiben zentrale rechtliche Sachverhalten außen vor. Das betrifft das speziell auf das Frankreich-Verfahren einwirkende Wechselspiel aus einer Blockade des Verfahrens durch den so genannten „Überleitungsvertrag“ und dem sich daraus ergebenden „Zusatzabkommen zum Überleitungsvertrag“, aber auch die generell für NS-Verfahren geltende Problematik der Beihilferechtsprechung. Sicher entsprechen diese komplizierten und langwierigen juristischen Debatten nicht dem Erkenntnisinteresse des Autors, doch richteten die überwiegend rechtlich geschulten Täter ihr Aussageverhalten auf diese Besonderheiten aus, so dass dieses juristische Wissen für die Interpretation dieser Vernehmungsprotokolle hilfreich wäre. Zudem stellte die juristische Auseinandersetzung die bevorzugte Waffe der wohlorganisierten „Ehemaligen“ gegen ihre Strafverfolgung dar, so dass die Ausblendung dieses Bereiches das von Meyer vermittelte Bild unvollständig erscheinen lässt.

Der juristische Diskurs fehlt auch im zweiten, hochinteressanten und sehr gelungenen Teil des Buches, in dem sich Meyer dem Aussageverhalten der Täter zuwendet. In zwei weiteren Kapiteln wirft er die Frage des „Wissens“ um Auschwitz (Kap. VI) auf und untersucht die „Legenden der Täter“ (Kap. VII). Vor allem die Frage der Kenntnis der Deporteure um das Schicksal ihrer Opfer ist dabei von überragender Bedeutung. In der ganz überwiegenden Zahl der bundesdeutschen NS-Prozesse scheiterten die Anklagevertreter am Nachweis dieses Wissens, was in der Regel den Freispruch des Angeklagten zur Folge hatte. Denn die bundesdeutschen Gerichte werteten die Taten ohne einen solchen Nachweis lediglich als Beihilfe zum Mord ohne Mordmerkmale, womit sie verjährt waren. Folglich richteten die Täter ihre Aussagestrategien auf das Verleugnen dieses „Wissens“ aus. Nur ein einziges Gericht, nämlich jenes im Kölner Lischka-Prozess, ließ sich von den ewig gleichen Beteuerungen der Gutgläubigkeit nicht täuschen und sprach die Angeklagten schuldig. Meyer widerlegt die von den Tätern aufgebauten Schutzmythen gründlich und lässt so die bundesdeutsche Justiz in einem schlechten Licht dastehen. Sein Erkenntnisinteresse geht jedoch weiter. Meyer rekonstruiert soweit möglich die aus Verdrängung, bewusster Selbsttäuschung und gezielten Lügen zusammengesetzten psychologischen Mechanismen, die in den Vernehmungsniederschriften sichtbar werden und verortet sie in der westdeutschen Vergangenheitspolitik. So macht er hinter der „zwanghaften Art und Weise, in der über den Judenmord gesprochen wird, ohne die getöteten Juden zu erwähnen“ eine neue Gestalt des Antisemitismus aus, in dem “die Schuldfrage nach außen verlagert und letztlich […] auf die Opfer projiziert“ werde (S. 349). Die ewigen Lügen der Täter erweisen sich in dieser Leseart also weniger als Quelle zur Tat selbst als vielmehr zu ihrer Verarbeitung durch die Täter und geben somit – wie Meyer folgert – auch Aufschluss über die Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik.

Diese produktive Lesart einer von Historiker/innen gerne herangezogenen Quellengattung ebenso wie die detailgenaue Rekonstruktion der kaum beleuchteten Aspekte des Holocaust in Frankreich und seiner (kaum vorhandenen) Aufarbeitung wird sich vermutlich als wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer umfassenden und erklärungsstarken Gesamtdarstellung zum Thema erweisen. Vielleicht finden auch einige Leser/innen von Littels fiktionalem Roman den Weg zu Meyers faktenreicher Monografie – zu wünschen wäre es.

Anmerkungen:
1 Littell, Jonathan, Les Bienveillantes, Paris 2006.
2 So beispielsweise: Ritte, Jürgen, Die SS auf literarischem Erfolgskurs, in: Neue Zürcher Zeitung vom 13. September 2006.
3 Klarsfeld, Serge, Vichy-Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und der französischen Behörden bei der „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich, Nördlingen 1989.

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