A. Partl u.a. (Hrsg.): Verschickt in die Schweiz

Cover
Titel
Verschickt in die Schweiz. Kriegskinder entdecken eine bessere Welt


Herausgeber
Partl, Anton; Pohl, Walter
Reihe
Damit es nicht verloren geht 57
Erschienen
Anzahl Seiten
338 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simon Erlanger, Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF), Universität Luzern

Die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist in den letzten Jahren im Zuge der Debatte um die nachrichtenlosen Vermögen umfassend aufgearbeitet worden.1 Im Fokus des Interesses stand dabei vor allem auch die Behandlung jüdischer Flüchtlinge und Emigranten. Dabei hat sich gezeigt, dass die Politik der Schweiz nur verstanden werden kann, wenn sie in Bezug gesetzt wird zum Überfremdungsdiskurs und dem vorwiegend gegen „Ostjuden“ gerichteten Abwehrdispositiv seit dem Ersten Weltkrieg.2 Letzteres fand 1931/33 seinen gesetzlichen Niederschlag im „Gesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer“ (ANAG), das zum Eckpunkt schweizerischer Asylpolitik während der Kriegsjahre und danach wurde. Zentral war dabei die Forderung nach „Transmigration“, nach Weiterwanderung. Die Schweiz war allenfalls bereit, den Verfolgten eine kurze Verschnaufpause zu gönnen zwecks Organisation der Weiterreise. Humanitäre Beweggründe blieben gegenüber fremdenpolizeilichen, bevölkerungspolitischen und ideologisch-abwehrenden Überlegungen sekundär. Entsprechend nahm die Schweiz zwischen 1938 und 1945 rund 22.500 jüdische Flüchtlinge auf und wies Zehntausende ab.3

Anders bei den Erholungsaufenthalten für Kinder aus dem benachbarten Ausland. Hier überwogen humanitäre Überlegungen, allerdings standen diese Kinderaktionen nicht immer allen offen. Erholungsaufenthalte für Kinder gab es seit den 1930er-Jahren, organisiert zunächst vom Schweizerischen Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) und später vom Schweizerischen Roten Kreuz.4 So konnten zum Beispiel schon zwischen 1934 und 1939 rund 5000 Kinder aus Paris in die Schweiz kommen, für Erholungsaufenthalte zwischen sechs und zwölf Wochen. Diese Aktionen wurden auch nach Kriegsausbruch und nach der Niederlage Frankreichs fortgesetzt, wobei ab 1941 die Schweizerischen Behörden explizit jüdische Kinder von diesen Ferienaktionen ausschlossen. Die Behörden befürchteten, dass die jüdischen Kinder nicht mehr nach Frankreich zurückkehren würden.

Nach kurzer Unterbrechung wurden die Ferienkinderaktionen nach 1944 wieder aufgenommen. Insgesamt konnten sich bis 1945 rund 60.000 Kinder vor allem aus dem kriegsversehrten Frankreich in der Schweiz während dreier Monate erholen. Diese Kinderaktionen festigten den humanitären Ruf der Schweiz und blieben auch dank der Errichtung einiger von dankbaren französischen Kommunen gestifteter und in Schweizer Städten aufgestellter Denkmäler in allgemeiner Erinnerung. Nicht so die Aktion für Erholungsaufenthalte für österreichische Kinder nach 1945.

Diesem fast schon vergessenen Kapitel Schweizerischer Humanitärer Politik widmet sich der Sammelband „Verschickt in die Schweiz. Kriegskinder entdecken eine bessere Welt“. Das Buch erschien in der Reihe „Damit es nicht verloren geht ...“, in der seit 1983 in Zusammenarbeit mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien Lebensgeschichten und Erinnerungen gesammelt und veröffentlicht werden. Entsprechend vereint der Sammelband Ausschnitte aus Dutzenden von lebensgeschichtlichen Erinnerungen von in die Schweiz zu Erholungsaufenthalten verschickten österreichischen Kindern der unmittelbaren Nachkriegszeit. Aufgezeichnet wurden die Erinnerungen in der Folge einer Reihe von Gedenkveranstaltungen, welche in den Jahren 2002 bis 2005 Hunderte der ehemaligen „Schweizerkinder“ im bereits fortgeschrittenen Alter wieder zusammengeführt hatten. Dort war die Idee aufgekommen, die Erinnerungen systematisch zu sammeln und zu veröffentlichen. Insgesamt, so die Herausgeber des Sammelbandes, hatten sich rund 100.000 österreichische Kinder in den Jahren 1945 bis 1956 zu einem bis zu dreimonatigen Erholungsurlaub bei Gastfamilien in der Schweiz aufgehalten. Nach einer Kindheit zwischen Sirenengeheul, Kellergeruch und Bombenschutt und der Not der unmittelbaren Nachkriegszeit – 30 Prozent der Kinder in Österreich waren damals unterernährt gewesen – sei den Kindern die unversehrte Schweiz wie das „Schlaraffenland“ vorgekommen. Einen entsprechend großen Platz nimmt daher in den Schilderungen der Zeitzeugen der eigentliche Kulturschock ein, der sich schon beim Grenzübertritt einstellte und dann in den Gastfamilien fortsetzte, der aber dann relativ schnell verflog, als die Kinder sich der neuen Umgebung anpassten. Beeindruckt zeigte man sich vom relativen Wohlstand, der guten Ernährung, dem geordneten Leben und der Traditionsverbundenheit der Schweiz, was alles einen bleibenden Eindruck hinterließ. Den größten Teil des Buches nehmen diese ausführliche Erinnerungen einzelner ein, allerdings immer wieder unterbrochen von so genannten „Impressionen“ vieler Zeitzeug/innen, die sich zu Themen und Aspekten wie „Wegfahren und Ankommen“, „Kindsein in einem anderen Land“ oder „Vom Heimkommen und Wiedersehen“ pointiert äußern. Den Berichten voran geht ein einführendes Kapitel welches aus den Zeugenaussagen heraus ein eindrückliches Bild von den schweizerisch-österreichischen Kinderaktionen entstehen lässt.

Dies ist das große Verdienst des Buches. Die hier versammelten lebensgeschichtlichen Berichte können so als Quelle dienen, für die bisher in der Forschung kaum beachteten schweizerischen Kinderaktionen für Österreich von 1945 bis 1955. Leider erfährt man nicht viel darüber, wieso die Schweiz diese Ferienkinder-Aktionen durchgeführt hat. Außer einem kurzen Abschnitt über die „Schweizer Spende“ – einem Schweizer Hilfswerk für das kriegsversehrte Europa – fehlen Angaben hierzu: Auch wird kaum darauf eingegangen, wer in der Schweiz die Ferienaufenthalte für die Kinder aus Österreich letztlich initiierte und durchführte. Wie verhielten sich die Behörden dazu und wie die Bevölkerung? Gab es immer genug Gastfamilien und waren wirklich alle so hilfsbereit wie in den meisten Erinnerungen geschildert? Standen bei der Durchführung dieser Aktionen auf Seiten der Schweiz rein humanitäre Motive im Vordergrund oder gab es auch Motive politischer und wirtschaftlicher Natur? Wie verhalten sich die Aufenthalte der österreichischen Kinder zu den Erholungsaufenthalten der französischen Kinder einige Jahre zuvor? Wie sind die Kindertransporte aus Österreich in Bezug auf die schweizerische Flüchtlingspolitik von 1938 bis 1954 mit ihrer Forderung nach Transmigration zu verorten? Fragen bleiben auch auf österreichischer Seite: Wie standen die alliierten Besatzungsbehörden zu den Ferienaktionen? Wer kam in den Genuss eines Erholungsaufenthaltes in der Schweiz? Gab es Patronage politischer oder sozialer Natur? Wurde zum Beispiel unterschieden zwischen Kindern, welche als Verfolgte des NS-Regimes im Untergrund überlebt hatten (mehrere Berichte bezeugen solche Lebensgeschichten) und Kindern aus NS-Täterfamilien im Krieg? Und zu guter letzt: So wertvoll die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen auch sind, so fehlen dem Sammelband doch die methodologische Überlegungen zu den aufgezeichneten lebensgeschichtlichen Berichten, sind ja gerade in den letzten Jahren im Bereich der „Oral History“ des Zweiten Weltkrieges und Nachkriegszeit Überlegungen ausführlichst unternommen worden.

Was im vorliegenden Band vorgestellt wird, ist also weniger historische Aufarbeitung als unmittelbare Hinterlassenschaft von Zeitzeug/innen, die, wie die Herausgeber im Vorwort betonen, aus einem gemeinschaftlichen Prozess heraus entstanden ist, „aus der Suche einer Seniorengeneration von heute nach Erinnerungsspuren ihrer Kindheit“ (S. 7). Entstanden ist somit eine wertvolle Sammlung lebensgeschichtlicher Zeugnisse, die als Grundlage einer weiteren Aufarbeitung dienen kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu: Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hg.), Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2002.
2 Vgl. Kury, Patrick; Lüthi, Barbara; Erlanger, Simon, Grenzen setzen. Vom Umgang mit Fremden in der Schweiz und den USA, Köln 2005.
3 Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933-1945, in: Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchiv Nr. 22, Bern 1996. Guido Koller vom Schweizerischen Bundesarchiv in Bern weist darin nach, dass die Zahl der weggewiesenen Flüchtlinge rund 24.400 betragen sein muss. Zum selben Resultat kommt auch der Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, S. 370f.
4 Vgl. Schmidlin, Antonia, Eine andere Schweiz. Helferinnen, Kriegskinder und humanitäre Politik 1933-1942, Zürich 1999, sowie: Zeder, Eveline, Ein Zuhause für Jüdische Flüchtlingskinder. Lilly Volkart und ihr Kinderheim in Ascona, Zürich 1998.

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