M. Schumacher (Hg.): Volksvertretung im Wiederaufbau 1946-1961

Titel
Volksvertretung im Wiederaufbau 1946-1961. Bundestagskandidaten und Mitglieder der westzonalen Vorparlamente. Eine biographische Dokumentation


Herausgeber
Schumacher, Martin
Erschienen
Düsseldorf 2000: Droste Verlag
Anzahl Seiten
103 und 573 S.
Preis
DM 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Liedhegener, Antonius

Martin Schumacher, Generalsekretär der renommierten Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn, legt hier eine weitere biographische Dokumentation zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland vor 1. Versehen mit einer ausführlichen Einleitung sind in diesem Nachschlagewerk all jene Männer und Frauen erfasst, die zwischen 1949 und 1957 für den Bundestag mit oder ohne Erfolg kandidiert haben und/oder in einer der von Schuhmacher als westzonalen Vorparlamente bezeichneten Institutionen tätig waren. Letztere umfassen konkret den Zonenbeirat, den Parlamentarischen Rat des Länderrats, den Wirtschaftsrat, den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee sowie den Parlamentarischen Rat. Die Mitglieder der Parlamente der späteren Bundesländer wurden dagegen nicht systematisch berücksichtigt, eine solche Aufgabe vielmehr als Desiderat angezeigt (S. 36*).

Das wesentliche Anliegen der Dokumentation ist es, die parlamentarisch-politischen Karrieren der auf (der späteren) Bundesebene agierenden Politiker transparent zu machen. Durch den Einschluss auch der gescheiterten Bundestagskandidaturen soll das Wiedererstehen einer „politischen Klasse“ in seiner ganzen Vielfalt und in seinen wichtigsten Entwicklungstendenzen klarer hervortreten als bisher (vgl. bes. 74*)2. Insgesamt enthält die Dokumentation 6613 Biogramme. In der Regel werden in den alphabetisch angeordneten Biogrammen Geburts- und Sterbedatum, Konfession/Religion, Beruf, gesellschaftliches Engagement in Vereinen etc., (partei-)politische Funktionen und Ämter und eine Auflistung der Kandidaturen und Mitgliedschaften in den oben genannten Parlamenten aufgeführt. Die Angaben schwanken zwischen sehr knappen Einträgen zu Kandidatinnen und Kandidaten, die etwa nur einmal und erfolglos für den Bundestag kandidierten, und recht ausführlichen zu den führenden Politikern der bundesdeutschen Nachkriegszeit wie etwa Konrad Adenauer (Nr. 22, S. 4-5), Rainer Barzel (Nr. 227, 21-22), Willi Brandt (Nr. 628, 48-49), Theodor Heuss (Nr. 2262, 165), Kurt Schumacher (Nr. 5320, 386) oder Herbert Wehner (Nr. 6188, 450-451).

Spitzenpolitiker betreffend wird zusätzlich zu den biographischen Angaben eine Übersicht zu den archivalischen und gedruckten Quellen zur Person sowie eine Zusammenstellung der wichtigsten Sekundärliteratur geboten. Hervorzuheben ist, dass die Eckdaten der politischen Biographie aller erfassten Personen sich nicht nur auf den Zeitraum 1946-1957/61 beziehen, sondern jeweils der gesamte Lebenslauf vorgestellt wird. Auf der Suche nach biographischen Informationen kann sich der Blick in diese Dokumentation also auch für spätere Legislaturperioden lohnen. Abgerundet wird das Werk durch diverse nützliche Indices (482-573).

Obschon die primär als Quellen herangezogenen Parlamentshandbücher und Kandidatenlisten gemessen an der Zahl der dort verarbeiteten Sachinformationen in der Regel als recht zuverlässig gelten dürfen, zeigen sich doch für diese Quellengruppen im Untersuchungszeitraum neuralgische Punkte, die in der Einleitung mit wünschenswerter Klarheit behandelt werden. Dies betrifft etwa die teilweise schwankende Schreibweise der Namen insbesondere von Personen, die für den Bundestag kandidierten, aber nicht gewählt wurden, oder – und das ist gravierender – die Probleme der Vollständigkeit und Zuverlässigkeit von Angaben zur Tätigkeit der erfassten Personen in der Weimarer Republik und vor allem in der NS-Zeit. Das gilt insbesondere für jene Quellen, die nach 1945 erschienen sind (64-74). In Einzelfällen wurden Biographien nach 1945 in wesentlichen Punkten nachweislich neu erfunden (73*).

Ähnliche Probleme werfen jene Publikationen der Zeit nach 1949 zu bundesdeutschen Politikern auf, in denen, häufig gesteuert vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR, bewusste Fehlinformationen vor allem zur NS-Vergangenheit der betroffenen Politiker verbreitet wurden (71). Die Einleitung lässt erkennen, welche Mühen im Einzelfall notwendig sind, um hier die historische Wahrheit ans Licht zu bringen (79-82, 100-103). Unter methodischen Gesichtspunkten fällt auf, dass insbesondere die Erweiterung des Personenkreises auf alle Bundestagskandidaturen mit einem Verlust an Vollständigkeit der Erfassung der Variablen einhergeht. So wird etwa in der Einleitung knapp erwähnt, dass für die gescheiterten Kandidatinnen und Kandidaten angesichts der Quellenlage die Variable Konfession/Religion gar nicht berücksichtigt wurde (81).

Ähnliche quellenkritische Entscheidungen vermerkt die Einleitung auch für andere Variablen, etwa zur Mitgliedschaft in europäischen Parlamenten und übernationalen Parlamentariergruppen. Insbesondere für den Benutzer, der auf den hier vorliegenden Wissensschatz in einer Art Sekundäranalyse mit dem Ziel einer statistischen Untersuchung von Personengruppen zugreifen möchte, wäre daher eine systemtatisch-tabellarische Zusammenstellung der jeweils erfassten bzw. nicht erfassten Variablen wichtig und hilfreich gewesen.

Mehrfach hebt Schumacher hervor, dass die Dokumentation ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einem äußerst wünschenswerten „Historisch-biographischen Lexikon der Mitglieder des Deutschen Bundestages“ (S. 79*) darstellt. Aus der Sicht des Rezensenten lässt die Dokumentation erahnen, wie viel gedankliche systematische Überlegungen für ein solches Handbuch notwendig sind, das die jahrelangen wissenschaftlichen Anstrengungen vieler Politikwissenschaftler und Historiker quasi abschlösse. Für die Frage nach dem Wiedererstehen von Parlamentarismus und politischen Eliten auf Bundesebene in Deutschland nach 1945 ist die Berücksichtigung aller Bundestagskandidaturen sachlich aufschlussreich. Zugleich führt sie aber in arbeitspraktische und methodische Probleme (s.o.), die es nachdenkenswert erscheinen lassen, ob diese erhebliche Erweiterung des zu erfassenden Personenkreis etwa für ein solches Handbuch erstrebenswert ist.

Die Berücksichtigung genealogischer Informationen, die in der vorliegende Dokumentation auch schon angerissen wird (81*), wäre ebenfalls eine Ausweitung des Arbeitsfeldes mit ganz erheblichen Konsequenzen für Art und Dauer eines solchen Projekts. Das umfangreiche Quellenverzeichnis macht deutlich, dass mittlerweile neben den gedruckten und archivalischen Quellen auch dem Abgleich der Informationen mit bereits vorliegenden biographischen Nachschlagewerken eine erhebliche Bedeutung zukommt 3. Ein äußerst willkommener erster Schritt, das Problem des Quellenabgleichs zukunftsweisend anzugehen, ist die Nutzung des internetbasierten, kumulierten Registers der Neuen Deutschen Biographie (NDB) und der Allgemeinen Deutschen Biographie (ADB), das als DFG-Kooperationsprojekt erstellt worden ist bzw. wird (Testversion unter: http://mdz2.bib-bvb.de/ndb/ndbindex.htm). Und schließlich wäre es vielleicht lohnenswert, genau zu prüfen, ob durch eine stärkere Vernetzung laufender Forschungsaktivitäten zur Personen- und Parteiengeschichte wie etwa das von Marie-Luise Recker (Frankfurt a.M.) und Klaus Tenfelde (Bochum) geleitete DFG-Projekt zur Sozialgeschichte bundesdeutscher Parteien oder die laufenden (und abgeschlossenen) Projekte von Heinrich Best und Karl Schmitt (beide Jena) zur Geschichte parlamentarischer Eliten in Deutschland nicht erhebliche Synergieeffekte auf dem Weg zum angestrebten Handbuch erzielt werden könnten.

Die Lektüre der Einleitung zeigt, dass der Bearbeiter und sein im Vorwort erwähntes Team in der Bewertung der eigenen Arbeit selbst etwas schwanken. Einerseits wird ganz zu recht herausgestellt, dass dieses „Handbuch ... einen in dieser personengeschichtlichen Dichte bisher nicht erreichten Überblick über die Anfänge demokratischer Legitimität“ in der frühen Bundesrepublik vermittelt (6). Andererseits werden Lücken und Probleme genannt, die Schumacher veranlassen, das vorliegende Werk als „Werkstattbericht“ (79), als „Werkstück“, das „nicht mehr als ein Anfang sein“ kann und will (6), zu bezeichnen und im Titel den Begriff ‚Dokumentation’ und nicht ‚Handbuch’ zu wählen. Insgesamt ist ein großer Gewinn für die zeithistorische wie politikwissenschaftliche Forschung aber unstrittig. Es wäre zu wünschen, wenn auf dem Weg zum geplanten Handbuch wie auch zu seiner für die Legislaturperioden bis 1972 angekündigten Fortsetzung (79) die bereits vorliegenden anderen Dokumentationen und Handbücher der Kommission durch eine EDV- oder besser noch internetgestützte Datenbank für weitere systematische Forschungen leichter zugänglich gemacht werden würden.

1 Bereits vorgelegte biographische Handbücher und Nachschlagewerke der Kommission für die Zeit ab 1918 in der Reihenfolge des Erscheinens: Schumacher, Martin (Hg. und Bearb.), M. d. R. – Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933–1945. Eine biographische Dokumentation, bearb. von Katharina Lübbe und Martin Schumacher in Verbindung mit Wilhelm Heinz Schröder, unter Mitwirkung von Angela Joseph und Evelyn Richter, 3., erheblich erw. und überarb. Aufl. mit einem Forschungsbericht zur Verfolgung deutscher und ausländischer Parlamentarier im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich, bearb. von Martin Schumacher unter Mitwirkung von Ulrike Höroldt und Christian Ostermann, Düsseldorf 1994 (zuerst 1991);
Schröder, Wilhelm Heinz: Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867–1933. Biographien – Chronik – Wahldokumentation. Ein Handbuch (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 7), Düsseldorf 1995.
Schumacher, Martin (Hg. und Bearb.), M. d. L. – Das Ende der Parlamente 1933 und die Abgeordneten der Landtage und Bürgerschaften der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933–1945. Ein biographischer Index, bearb. von Martin Schumacher unter Mitw. von Achim Dünnwald, Ralf Gebel und Matthias Jaroch, Düsseldorf 1995.
Schmöger, Helga (Bearb.) Der Bayerische Senat. Biographisch-statistisches Handbuch 1947–1997, mit Beiträgen von Josef Anker, Norbert Engel, Karl-Ulrich Gelberg, Wilhelm Mößle und Sabine Rehm (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 10), Düsseldorf 1998.
Haunfelder, Bernd, Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei 1871-1933. Biographisches Handbuch und historische Photographien (= Photodokumente zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 4), Düsseldorf 1999.
Roß, Sabine: Biographisches Handbuch der Reichsrätekongresse 1918/19 (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 11), Düsseldorf 2000.

2 Einen aktuellen Einstieg in diese in der Einleitung nur angerissene Forschungsrichtung bieten Schröder, Wilhelm Heinz/ Weege, Wilhelm/ Zech, Martina, Historische Parlamentarismus-, Eliten- und Biographieforschung. Forschung und Service am Zentrum für Historische Sozialforschung (= HSR, Beiheft, Bd. 11) Köln 2000.

3 Vgl. etwa jüngst das Werk von Kempf, Udo/ Merz, Hans-Georg (Hg.), Kanzler und Minister 1949-1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Opladen 2001.

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