D. Sieber: Jesuitische Missionierung

Cover
Titel
Jesuitische Missionierung, priesterliche Liebe und sakramentale Magie. Volkskulturen in Luzern 1563-1614


Autor(en)
Sieber, Dominik
Reihe
Luzerner Historische Veröffentlichungen 40
Erschienen
Basel 2005: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
298 S.
Preis
€ 33,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Bock, Historisches Seminar, Luzern

„Fürchtet euch vor der zu grossen Geselligkeit und Vertraulichkeit der Frauen.“ Mit dieser Warnung und der gleichzeitigen Weisung, Gespräche mit Frauen ausserhalb der Beichte nur in dringenden Notfällen zu führen, schickte der Provinzial der Jesuitenprovinz „Germania Superior“ 1574 die ersten Missionare nach Luzern, ins Herz der altgläubig gebliebenen Innerschweiz.

Dominik Sieber führt die Leser/innen seiner Zürcher Dissertationsschrift in die Welt der katholischen Reform um 1600, um an dem Beispiel Luzern „mehr über populare Lebenswelten, Wahrnehmungsmuster und Handlungsweisen in der Frühen Neuzeit“ (S. 11) zu erfahren. Mit seinem Interesse an volkskulturellen Veränderungen und den „kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Konsequenzen der gegenreformatorischen Umbrüche in Luzern“ (S. 12) stellt Sieber seine Arbeit in den Kontext einer kulturwissenschaftlich inspirierten Geschichtsschreibung der vergangenen etwa zwei Jahrzehnte, die Religion und Konfession als kulturelle Phänomene begreift und in ihren alltagspraktischen Auswirkungen auf die historischen Individuen erforscht. In Anlehnung an neuere Erkenntnisse der Volkskultur- und Volksfrömmigkeitsforschung, die von „hybriden statt von sozial separierten Vorstellungswelten und kulturellen Praktiken“ (S. 31) ausgeht, nimmt Sieber die „Ausbildung einer neuen Konfessionskultur“ (S. 31) in den Blick und bezieht sich auf ein von Martin Dinges formuliertes heuristisches Verständnis von Volkskultur. 1 Weitere theoretische Anleihen unternimmt Sieber bei dem religiösen Marktmodell des Mediävisten Jan Gerchow 2 sowie dem breiten Forschungsfeld zur jesuitischen Volksmission, das mit den Begriffen „Adaption“, „Akkomodation“ und „Inkulturation“ operiert. 3

Um sich dem „native point of view“ frühneuzeitlicher Luzerner möglichst unvoreingenommen zu nähern, beschreibt Sieber im zweiten Kapitel zunächst die seinen Untersuchungsort prägenden politischen, sozialen und kirchlichen Strukturen. Anhand von vier ausgewählten Themenbereichen – die Mission der ersten Jesuiten (Kapitel drei), das Verbot des Priesterkonkubinats (Kapitel vier), die Etablierung einer jesuitischen Heilspraxis (Kapitel fünf) sowie die Kriminalisierung popularer Glaubenspraktiken (Kapitel sechs) – untersucht er die konkrete Umsetzung katholischer Reformmassnahmen in der Folge des Konzils von Trient, wobei er stets die Interaktion zwischen kirchlichen bzw. weltlichen Obrigkeiten und der breiten Bevölkerung fokussiert.

Die Stadt Luzern – das mit päpstlicher Nuntiatur, bischöflichem Kommissariat, Jesuiten, Kapuzinern, Franziskanern, Ursulinen und diversen Bruderschaften bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts hochgerüstete Zentrum katholischer (Reform-)Macht – präsentierte sich als eine „Kriegerstadt frommer Frauen“ (S. 34): Den ersten Jesuitenpredigern fielen besonders die Abwesenheit der sich in fremden Diensten verdingenden Männer und die ausgeprägte Frömmigkeit der daheim gebliebenen Frauen auf. Sieber entwirft ein farbiges Bild der Leuchtenstadt an der Reuss, die von einem einflussreichen und durch die Verpachtung von Söldnern an ausländische Herren reich gewordenen Patriziat regiert wurde. Frühe staatskirchliche Strukturen mit umfangreichen Kollaturrechten und kirchenpolitischen Zuständigkeiten der Ratsobrigkeit prägten die religiösen Verhältnisse des Stadtstaats.

Im dritten Kapitel stellt Sieber die Missionsmethoden und Aufgaben der Jesuiten in Luzern vor, zu denen neben der Lehrtätigkeit am Kollegium das öffentliche Wirken als Prediger, Beichtväter und Volksmissionare zählte. Die Patres, denen mit dem Lockwort von „unseren Indianern“ die im Vergleich zur exotischen Überseemission weniger populäre Europamission schmackhaft gemacht werden sollte, wurden zu diskretem und liebenswürdigem Auftreten angehalten. Statt mit aggressiver Kontroverstheologie aufzutrumpfen, sollten sie sich den lokalen Gegebenheiten anpassen und Überzeugungsarbeit durch freundliche Worte leisten. Von der Bevölkerung wurde das seelsorgerliche Angebot der Jesuiten schnell und erfolgreich angenommen, Klagen wurden kaum bekannt.

Die Disziplinierung der Geistlichkeit und insbesondere der Kampf gegen das verbreitete Priesterkonkubinat stehen im Mittelpunkt des vierten Kapitels. Anhand von Streitfällen um das Zwangszölibat kann Sieber einen markanten Unterschied in der Wahrnehmung strafwürdiger Vergehen aufzeigen: Während kirchliche und weltliche Obrigkeiten unisono die Missachtung des Zölibats durch die Priester zuvorderst anprangerten, zeigten die Gemeindeangehörigen eine „alltagstolerante Einstellung gegenüber den sexuellen Aktivitäten des Klerus“ (S. 94), solange darüber die Seelsorge nicht vernachlässigt und Pfrundeinkommen nicht verschwendet wurden. Ausführlich analysiert Sieber die ökonomischen Argumentations- und Rechtfertigungsstrategien der Luzerner Priesterschaft gegen das Verbot von Konkubinen, die vor allem auf die unterdotierten Pfründe abzielten: Der Zwang zum landwirtschaftlichen Nebenerwerb würde eine Hausfrau zum Kochen, Heizen, Kühehüten und schliesslich zur Alterspflege unverzichtbar machen. In Sachen Priesterkonkubinat waren allerdings auch die Jesuiten zu keiner Akkomodation an die lokalen Verhältnisse bereit.

Anders sah dies im Bereich der Heilkünste aus, die Sieber in den Kapiteln fünf und sechs thematisiert und die den eigentlichen Schwerpunkt seiner Forschungen bilden. Die Jesuiten kamen den Heilungswünschen der Luzerner Bevölkerung entgegen, indem sie die kirchlichen Sakramente, vor allem die Beichte, als universelles Rezept gegen Nöte und Sorgen propagierten. Sieber rekonstruiert das breite Spektrum der Krankheiten und Probleme, bei denen die Beichte als Ergänzung zu weltlicher Medizin eingesetzt wurde. In der Auseinandersetzung mit den Fragen nach Definition und Gebrauch der sieben Sakramente, die aus sich selbst heraus wirkten, und der potentiell unbegrenzten Anzahl an Sakramentalien, deren Wirkung vom Verwendungszweck und dem Glauben der Benutzer abhing, entfaltet das Buch seine argumentative Stärke. Während der frühneuzeitlichen Bevölkerung die diffizilen theologischen Grenzziehungen kaum wichtig gewesen sein dürften und sie sich verschiedenster Heilungsangebote pragmatisch bediente, bestand das Erfolgsgeheimnis der Jesuiten laut Sieber darin, dass sie den populären Gebrauch von Sakramentalien mit dem Sakrament der Beichte (und der Eucharistie) geschickt kombinierten und die Gläubigen dadurch an orthodoxe kirchliche Segensangebote zurückbanden. Diese „kluge Doppelstrategie“ sicherte den Luzerner Jesuiten eine „Monopolstellung als Heilsanstalt“ (S. 140).

Anhand der Darstellung einer Vielzahl von popularen Heilungsmethoden, wie sie von Gesundbeterinnen und Geisterbeschwörern parallel zu jenen der Jesuiten und Kapuziner angeboten wurden, kommt Sieber zu der Schlussfolgerung, dass „nur vor Gericht […] zwischen kirchlich approbierten und magisch inkriminierten Praktiken“ (S. 192) unterschieden und damit eine künstliche Grenzziehung zwischen (konfessioneller) Religion und Magie vorgenommen wurde, die im frühneuzeitlichen Heilungsalltag Luzerns nicht anzutreffen ist. Abschliessend formuliert Sieber die wichtige These, dass „die Nähe von kirchlichen und magischen Praktiken nicht zuletzt ein Produkt der Gegenreformation war“ (S. 195), das aus dem Dilemma der Papstkirche entstand, sich einerseits gegen den Protestantismus, andererseits gegen den als solchen definierten Aberglauben abgrenzen zu müssen.

Sieber versteht seine Arbeit als tendenzielle Bestätigung eines verbreiteten Forschungskonsens, dass von einer Durchsetzung tridentinischer Reformen vermutlich erst im 18. Jahrhundert gesprochen werden kann. Dieser Befund ist so überraschend letztlich nicht, wenn man den frühen und recht kurzen Untersuchungszeitraum der Studie (1563-1614) bedenkt. Angesichts der bekannten Lang- und Zählebigkeit von Mentalitäten und kulturellen Praktiken hätte es wohl eher verwundert, wenn sich nach einem verschleppt einberufenen Konzil, das sich selbst mit Unterbrechungen über einen Zeitraum von 18 Jahren hinzog, innerhalb der folgenden 50 Jahre die moralischen Vorstellungen und Glaubenspraktiken aller katholischen Europäer vom Kopf auf die Füsse gekehrt hätten. Auch lässt sich mit Achim Landwehr bezweifeln, ob die Erwartung von „Normdurchsetzung“ für die Frühe Neuzeit, in der sich Staatlichkeit eben oft in der Produktion von Normen und Regeln erschöpfte, überhaupt eine adäquate Fragestellung ist. 4

Obwohl Sieber zu Recht konstatiert, dass „es falsch wäre, die Verbreitung der neuen katholischen Konfessionskultur in Luzern nur als siegreiche Durchsetzungspolitik von oben zu sehen“ (S. 197), bleibt für Luzern der Eindruck letztlich bestehen, dass ein Interessenbündnis aus weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten der treibende Motor bei der Implementierung der tridentinischen Reformen war. Beim Kampf gegen das Priesterkonkubinat ist dies ganz offensichtlich, aber auch die Definitionsmacht und Deutungshoheit, die in Bereiche approbierter und devianter Heilskunst zu unterscheiden sich anschickte, lag – wie Sieber überzeugend herausarbeitet – bei Obrigkeiten. Und schliesslich: Bei aller Akkomodation der Jesuiten waren auch diese Vertreter „von oben“ – und nicht gleichberechtigte Partner des Volkes –, deren Ziel die Erziehung guter Katholiken war. Dass sie hierbei effektiver als andere Akteure auf dem frühneuzeitlichen Religionsmarkt handelten, liegt in der von Sieber aufgezeigten Klugheit begründet, nicht brachial und aussichtslos gegen, sondern geschmeidig und erfolgreich mit der Bevölkerung zu „arbeiten“.

Dominik Sieber hat eine sehr lesbare, facettenreiche und detailfreudige Darstellung geschrieben, die Licht auf den von theoriedominierter Geschichtsschreibung oft vernachlässigten Alltag der konfliktreichen Umsetzung katholischer Reformen um 1600 wirft. Sieber gelingt es hervorragend, die Lebens- und Glaubenswelten der frühneuzeitlichen Luzerner plastisch vorstellbar zu machen. Dazu tragen neben der eleganten Sprache auch die hochwertigen Illustrationen und die ästhetische Gestaltung des Bandes bei, der durch eine benutzerfreundliche Sammlung von Quellenauszügen sowie ein Personen-, Orts- und Sachregister am Ende erfreulich komplettiert wird.

Anmerkungen:
1 Dinges, Martin, Ehrenhändel als „Kommunikative Gattungen“. Kultureller Wandel und Volkskulturbegriff, in: Archiv für Kulturgeschichte 75 (1993), S. 359-393.
2 Gerchow, Jan, Volksreligion, Massenreligiosität oder Laienfrömmigkeit im Spätmittelalter? Bemerkungen zu Stand und Perspektiven sozialgeschichtlicher Religiositätsforschung, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 1 (1996), S. 12-18.
3 Für einen Überblick vgl.: Sievernich, Michael S.J., Von der Akkomodation zur Inkulturation. Missionarische Leitideen der Gesellschaft Jesu, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 86 (2002), S. 260-276.
4 Landwehr, Achim, „Normdurchsetzung“ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 146-162.

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