P. Wagner Herrschaft und Partizipation in Ostelbien

Titel
Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Wagner, Patrick
Reihe
Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 9
Erschienen
Göttingen 2005: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
623 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Blasius, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen, Campus Essen

Mit dem Begriff „Ostelbien“, der im Titel der jetzt gedruckt vorliegenden Freiburger Habilitationsschrift auftaucht, verbinden sich nicht gerade positive Erinnerungen an Deutschlands „langen Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler). Patrick Wagner hat in seiner Arbeit bedeutende Korrekturen am Bild einer rückwärts gewandten „Junkerherrschaft“ anbringen können, die, so der Mainstream der Forschung, den Transformationsprozess in einen einheitlichen Nationalstaat auf demokratischer Grundlage blockiert habe. Der Verfasser richtet den Blick auf den Wandel „ländlicher Machtbeziehungen“; er verfolgt die Ausprägung einer „dynamischen Agrargesellschaft“ im Spannungsfeld von „Erosion“ und „Transformation“ adeliger Herrschaft. Beeindruckend ist die Breite des hier erstmals gesichteten und ausgebreiteten Quellenmaterials. Im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem wird die Überlieferung der klassischen preußischen Ministerien mit der der Landratsämter in den Provinzen Preußen und Ostpreußen verbunden, in polnischen Archiven wird Aktenmaterial aus Mittelschlesien herangezogen, um die Besonderheiten ostelbischer Herrschaftsverhältnisse herauszuarbeiten. Das Erkenntnisziel wird von dem Verfasser in die Frage gekleidet, in welchem Grad der moderne Anstaltsstaat lokale Machtstrukturen zu überformen vermochte. Die in drei Großkapitel unterteilte Arbeit behandelt zunächst die Herrschafts- und Partizipationspraktiken im ländlichen Ostelbien vor der Kreisordnungsreform von 1872, dann analysiert sie den Weg hin zu dieser Reform, um im letzten Teil die Mechanismen ländlicher Machtbeziehungen nach Einführung der neuen Kreisordnung bis etwa 1900 zu verfolgen. Dem Verfasser gelingt die Revision einer Perspektive, die „Ostelbien“ auf die „Polarität von Junker versus Landarbeiter reduziert“. Er setzt für seine Untersuchung bei dem oft unterschlagenen Tatbestand an, dass Ostelbien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „Region bäuerlicher Landgemeinden“ jenseits gutsherrlicher Hoheitsrechte war. „Im Jahre 1867 unterstanden in den 14.714 selbständigen Gutsbezirken der sechs ostelbischen Provinzen knapp 1,7 Millionen Menschen ihren Gutsherren in deren nunmehr auf die beiden Funktionen als Kommunaloberhaupt und gutsherrliche Polizeiobrigkeit reduzierten Herrschaftsgewalt. Dies waren nur 17,1 Prozent der ostelbischen Landbevölkerung, denn 8,2 Millionen Menschen lebten in den 24.881 Landgemeinden.“ (S. 160) Aus diesem Verhältnis ergab sich für den preußischen Staat ein bürokratisches Regelungsproblem, das man in den Jahren nach der Revolution von 1848 mit einer Reform des Landratsamts anging. Der Zugang zu dem Amt des Landrats wurde neu festgelegt, ein allmählicher Übergang „vom Gutsbesitzer- zum Karrierelandrat“ eingeleitet. Waren die Landräte bislang eher Repräsentanten der lokalen Machteliten und in deren Beziehungsnetze eingebunden, wandelte sich jetzt ihr Profil. Als Handlungsbeauftragte des bürokratischen Anstaltsstaates hatten sie ländliche Interessen und staatliche Erfordernisse zum Ausgleich zu bringen.

Das Buch von Wagner zeichnet den langen und von den Protagonisten erbittert geführten Kampf um das Landratsamt in einer Dichte nach, die höchste Anerkennung verdient. Die Schilderung von Entstehung und Umsetzung der Kreisordnungsreform von 1872 ist ein Musterbeispiel politischer Sozialgeschichte. Die ländlichen Besitzeliten wurden nicht ihrer Macht beraubt; aber es war delegierte Macht, deren sie sich nur dann bedienen konnten, wenn sie sich in die „Hierarchien des Anstaltsstaates“ integrierten. Die Gestaltung der Lokalpolitik wurde von einem Landratsamt abhängig, über das der Adel nicht mehr frei verfügen konnte. Der Gutsbesitzerlandrat, so der Verfasser, musste ums Überleben kämpfen. Überzeugend werden anhand der Amtswechsel in den Landratsämtern Mittelschlesiens, Ost- und Westpreußens zwischen 1874 und 1910 die Konflikte zwischen lokalen Machteliten und staatlicher Bürokratie analysiert. An den jeweiligen Karrierewegen lässt sich zeigen, wie sich die Bindungen der Landräte an das Milieu des Großgrundbesitzes lockerten. Es kam bei ihrer Berufung auf Fähigkeiten und die Bereitschaft an, sich in das Gefüge des bürokratischen Anstaltsstaates einzuordnen. Berichte der Regierungs- und Oberpräsidenten über die Neubesetzung vakanter Ämter mahnten die „Pünktlichkeit der Geschäftsführung“ und das Talent an, die Abläufe im Landratsamt „kurrent“ zu halten.

Die Untersuchung von Wagner wirft neues Licht auf die komplexen Interaktionen zwischen adeligen und bürgerlichen Großgrundbesitzern, Bauern und staatlichen Beamten. Sie korrigiert die eingerastete Vorstellung von einer durch nichts zu erschütternden Junkerbastion. Das dickleibige Buch verheddert sich jedoch zuweilen in den vielen „Kleinkriegen“, die um die Besetzung von Landratsämtern geführt wurden. Hier tritt der Verfasser auf der Stelle. Die immer weitere Verbreitung des Karrierelandrats wird zwar aus den Aktenbefunden souverän rekonstruiert, doch die Frage, inwieweit dieser Typus zu einem „Antriebsfaktor der partiellen Modernisierung Ostelbiens“ werden konnte, bleibt weitgehend unbeantwortet. Hier hätten die Tätigkeitsfelder des Landrats, etwa der Neubau von Straßen oder die Einführung zeitgemäßer Fürsorge-, Bildungs- und Hygieneeinrichtungen, stärker ins Blickfeld gerückt werden können.

Trotz dieses Einwands stellt die Untersuchung von Patrick Wagner eine große Forschungsleistung dar, die die bisherige Lesart des Themas „Ostelbien“ nachhaltig beeinflussen wird.