K. Hentschel: Die Mentalität deutscher Physiker (1945-1949)

Cover
Titel
Die Mentalität deutscher Physiker in der frühen Nachkriegszeit (1945-1949).


Autor(en)
Hentschel, Klaus
Reihe
Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 11
Erschienen
Heidelberg 2005: Synchron Verlag
Anzahl Seiten
191 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Eisfeld, Fachbereich Sozialwissenschaften, Universität Osnabrück

Der Diplomphysiker und habilitierte Wissenschaftshistoriker Klaus Hentschel hat vor einem Jahrzehnt zusammen mit Ann M. Hentschel eine mehrhundertseitige, ausführlich kommentierte Dokumentensammlung zum Thema „Physics and National Socialism“ vorgelegt (Basel 1996). Seine hier vorzustellende Anschlussstudie, die 2007 bei Oxford University Press in erweiterter Übersetzung erscheinen soll, fußt auf einer Auswertung zeitgenössischer, in Nachlässen überlieferter Korrespondenzen sowie der ersten Jahrgänge der „Physikalischen Blätter“. Sie gilt der Analyse eines zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Gründung der Bundesrepublik unter der Gruppe der Physiker verbreiteten „Klimas“, einer Gesamtheit von Gefühlslagen, Erwartungshaltungen und Handlungsdispositionen im Sinne eines „mentalen Feldes“ (vgl. S. 7f., 11f.). Die etwa im Vergleich zur Weimarer Republik „erstaunliche Homogenität“ dieses Klimas (Hentschel spricht sogar von einer mindestens kurzzeitigen „kollektiven Identität“ deutscher Physiker) erklärt der Verfasser mit einer sozialpsychologischen „‚Frontstellung’ gegen die Besatzungsmächte und deren als ungerecht empfundene Auflagen“: Es kam zu „Solidarisierungswellen zwischen Menschen […], die sich zuvor nie gegenseitig unterstützt hätten“ (S. 164f.; vgl. auch S. 167).

Hentschels Beschreibung der untersuchten Mentalität – nicht im Sinne einer Art Kollektivbiografie, sondern als wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag gedacht (vgl. S. 20) – liest sich über weite Strecken wie die Illustration eines Resümees, das Norbert Frei vor gleichfalls zehn Jahren zog: Als Resultat des 1945 sogleich einsetzenden „Kampfes um die Erinnerung“ hätten die Deutschen sich „in ihrer Gesamtheit den Status von ‚politisch Verführten’ zu[gebilligt], die der Krieg und seine Folgen schließlich sogar selbst zu ‚Opfern’ gemacht hatten. […] Die in Nürnberg so eindrucksvoll gestellte – und nach dem Urteil des Auslands ziemlich eindeutig beantwortete – Frage nach dem verbrecherischen Grundcharakter der deutschen Aggression, nach ihrer Barbarei und Wahnwitzigkeit von Anfang an, wurde abgedrängt“.1 Hentschel bezieht sich denn auch wiederholt auf Freis Standardwerk, besonders auf dessen Formulierung von der verbreiteten „Schlußstrich-Mentalität“ (vgl. S. 49, 95, 111 Anm. 246), die er selbst (S. 50) mit einem Plakat der FDP zur Bundestagswahl 1949 veranschaulicht: „Schlußstrich drunter! Schluß mit Entnazifizierung, Entrechtung, Entmündigung“.

Wichtig im Sinne einer grundlegenden Weichenstellung für alle folgenden selbstgerecht-selbstmitleidigen Äußerungen war – wie ebenfalls von Frei herausgearbeitet2 – eine Deutung, die den Zweiten Weltkrieg „in die Kontinuität des Ersten“ rückte und eine dieser behaupteten Übereinstimmung entsprechende „Normalität“ eigenen Handelns beanspruchte. Auch wenn die „führenden Wissenschaftler das totalitäre System ablehnten, konnten sie sich als Patrioten, die ihr Land liebten, der Arbeit für die Regierung nicht verweigern“, argumentierte in diesem Sinne der Physiker Werner Heisenberg 1948.3 „In Kriegszeiten muss ein Mann für sein Land geradestehen, sei es als kämpfender Soldat oder als Wissenschaftler oder Ingenieur, gleichgültig ob er mit der von der Regierung betriebenen Politik einverstanden ist oder nicht“, sekundierte der Techniker Wernher von Braun.4 „So sehr ich den Ausbruch des Krieges bedauerte, so habe ich mich, nachdem dies einmal geschehen war, nicht entschließen können, dem Vaterland meine Dienste zu verweigern“, echote wiederum der Physiker Walter Grotrian 1947 (zit. bei Hentschel, S. 123). Biologen dachten nicht anders, wie Ute Deichmann gezeigt hat.5 Dass eine Niederlage in diesem Aggressionskrieg sich auch als Befreiung von einem unmenschlichen Regime empfinden ließ, kam offenkundig keinem der Beteiligten in den Sinn. Im Gegenteil redeten sie faktisch der Auffassung das Wort, ein diktatorisches Regime könne bei einem bewaffneten Konflikt, mochte es ihn auch selbst vom Zaun gebrochen haben, ebenso Anspruch auf Loyalität erheben wie eine demokratische Regierung.

Widerstand gegen die alliierte Entnazifizierungspolitik lag in der Logik dieser verbreiteten Grundeinstellung. Eine erhebliche Rolle bei der „geradezu reflexartig eingenommenen Abwehrhaltung“ dürfte außerdem die „Maxime der Schadensbegrenzung für die Physik als Ganzes“ gespielt haben, „der durch solches Wühlen in der Vergangenheit nur Schaden entstehe“ (S. 49), sowie nicht an letzter Stelle die Verweigerung jener Einsicht, die Lise Meitner 1945 von Otto Hahn gefordert hatte: „Ihr habt alle für Nazi-Deutschland gearbeitet und habt auch nie nur einen passiven Widerstand zu machen versucht. Gewiß, um Euer Gewissen loszukaufen, habt Ihr hier und da einem bedrängten Menschen geholfen, aber Millionen unschuldiger Menschen hinmorden lassen, und keinerlei Protest wurde laut.“6

Stattdessen förderte die Übereinstimmung bezüglich des Ziels, „in der Physik […] eine einzige große Amnestie durchzuführen“ (Max von Laue 1947, zit. auf S. 49), gerade im Gegenteil die Bereitschaft, „gemeinsame Sache [auch] mit denen zu machen, deren politische Ansichten [man] vorher verachtet hatte“ (S. 46 Anm. 85). Hentschel verdeutlicht diese Tendenz mit der Beteiligung Otto Hahns, Werner Heisenbergs, Arnold Sommerfelds, selbst Max Plancks an der oft beschriebenen „Persilscheininflation“ jener Jahre (vgl. S. 46ff.), die – besonders im Falle Hahns – nicht einmal die Angeklagten der Nürnberger Nachfolgeprozesse ausnahm (S. 61). Lise Meitner gegenüber verstieg sich Hahn zu der wiederholten Behauptung, „dass die Amerikaner dasselbe in Deutschland täten, was die Deutschen in Polen und Russland getan hätten“ (zit. auf S. 96). Max von Laue bezeichnete die Entlassungen von Kollegen im Zuge der Entnazifizierungspolitik als „Hitlermethoden“ (zit. auf S. 51 Anm. 96). Als demgegenüber die 1921 geborene Nachwuchsphysikerin Ursula Martius – etwa im Falle Pascual Jordans – auf persönlichen Konsequenzen für die Belasteten beharrte (vgl. S. 49, 104, 148), „wurde dies als Nestbeschmutzung aufgefasst“ (S. 164). Martius (heute Ursula Martius Franklin) emigrierte 1949 resigniert nach Kanada. 19847 wurde sie an der Universität Toronto als erste Frau mit dem Titel „University Professor“ ausgezeichnet und in der Folge mit zahlreichen weiteren Ehrungen bedacht.

Unter den nach 1933 in die Emigration getriebenen Physikern/innen stießen fehlende Einsicht und Unsensibilität der übergroßen Mehrheit ihrer deutschen Kollegen/innen häufig auf Bestürzung und Enttäuschung, wie Lise Meitners Briefe an Otto Hahn einerseits, an ihren Mitemigranten James Franck andererseits besonders eindringlich verdeutlichen (vgl. S. 96f., 122f., 155f.). Einen „endgültigen Trennungsstrich“ zu Deutschland zog zwar nur Albert Einstein (vgl. S. 158ff.). Dennoch überrascht die frühe Bereitschaft zahlreicher exilierter Physiker zur Wiederaufnahme von Beziehungen aus einem Empfinden der – so James Franck – „duty to help“ (vgl. S. 151), selbst wenn dies die Inkaufnahme mancher Zumutungen bedeutete (vgl. S. 151ff.). Zu dieser Gruppe gehörte auch Max Born. Als er jedoch 1948 von Pascual Jordan um einen Persilschein angegangen wurde, war die Grenze erreicht. Born schickte Jordan stattdessen eine Aufstellung seiner Verwandten und Freunde, die im Holocaust ermordet worden waren (S. 48).

Hentschel lässt keinen Zweifel daran, dass es für ihn „zu den deprimierendsten historischen Erfahrungen“ gehörte, anhand der Dokumente zu verfolgen, wie unmittelbar nach 1945 die „Chance“ einer Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und seinen Voraussetzungen „verpasst“ wurde (S. 10). Dennoch endet seine ebenso präzise wie einfühlsam argumentierende Studie mit einem optimistischen Urteil: Gerade weil eine Marginalisierung der „Mitläufer“ unterblieb, sei einerseits zumindest die Chance für spätere Einsicht gewahrt worden (Hentschel zitiert Carl Friedrich von Weizsäckers Aufruf zu „verspäteter Trauer“ aus dem Jahre 1974; vgl. S. 98). Zum anderen habe sich allmählich doch ein „Lernen aus der Geschichte“ vollziehen und eine „neue Einsicht in die eigene Verantwortung“ entwickeln können, wie sie in der Göttinger Erklärung der 18 Physiker gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr 1957 Ausdruck gefunden habe.

Anmerkungen:
1 Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 405.
2 Ebd., S. 406.
3 New York Times, 28.12.1948, zit. bei Rose, Paul Lawrence, Heisenberg and the Nazi Atomic Bomb Project, Berkeley 1998, S. 33.
4 Zit. (ohne Jahresangabe) bei: Stuhlinger, Ernst; Ordway, Frederick I., Wernher von Braun, Esslingen 1992, S. 9.
5 Vgl. Deichmann, Ute, Biologen unter Hitler. Porträt einer Wissenschaft im NS-Staat, überarb. u. erw. Ausg. Frankfurt am Main 1995, S. 369.
6 Zit. ebd., S. 372.
7 Nicht 1967, wie Hentschel schreibt (S. 105). [Freundlicher Korrekturhinweis von Klaus Hentschel, 17.6.2006: Ursula Martius wurde doch bereits 1967 Professorin; der Titel "University Professor" wurde ihr 1984 als zusätzliche Ehrung verliehen.]

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension