Titel
Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900-1929


Autor(en)
Levsen, Sonja
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 170
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
411 S.
Preis
€ 46,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Menning

Obwohl die historische Forschung die Sonderwegsthese eigentlich zur Seite gelegt hat, gehen doch weiterhin nutzbringende Anregungen von ihr aus. Das zeigt die Dissertation von Sonja Levsen, entstanden am Tübinger SFB 437 „Kriegserfahrung, Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“. Sie geht der Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Mentalitäten Tübinger und Cambridger Studenten im Zeitraum vor und nach dem Ersten Weltkrieg nach. Im kulturwissenschaftlichen Vergleich wird die sich wandelnde Selbstkonstruktion zweier nationaler Eliten vor dem Hintergrund des für beide Seiten verschiedenen Ausgangs des Ersten Weltkrieges untersucht. Dabei betont die Arbeit den durch Kriegserfahrung und Kriegsausgang evozierten Wandel und zeigt zwei von Sieg und Niederlage in der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) geprägte Wege in das erste Zwischenkriegsjahrzehnt. Gleichzeitig bereichert sie die Forschung um Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die nationalen Eliten.

Inhaltlich besteht die Arbeit aus zwei Teilen, dessen einer den Jahren 1900-1914 gewidmet ist, der andere den Jahren 1918-1929. Die „Bildung von Identitäten durch das studentische Gemeinschaftsleben“ (S. 17) ist dabei der Mittelpunkt auf der Suche nach dem mentalitären Wandel im Gefolge des Ersten Weltkrieges und der Frage nach dem Stellenwert von Traditionen der Vorkriegszeit oder Erlebnissen des Weltkrieges in diesem Prozess. Dabei sind neu an der Arbeit ihre Überbrückung des Ersten Weltkrieges, der selbst nur kurz behandelt wird, der komparative Ansatz, der die unterschiedlichen Folgen des Kriegsausgangs verdeutlichen soll und die kulturwissenschaftliche Frage nach der „Konstruktion von Identität und Gemeinschaft“ (S. 20). Trotz zahlreicher Unterschiede zwischen den untersuchten Tübinger Verbindungen, in denen etwa 60% der Studentenschaft organisiert war, und den Cambridger Colleges, die fast alle Studenten umfassten, ist für den Vergleich beider Gruppen der gemeinsame Grundsatz wichtig: „Sie prägten studentische Identitäten mit dem Anspruch, eine nationale Elite hervorzubringen.“ (S. 27) Zudem ermögliche die Stadtperspektive den Vergleich von Diskurs und Praxis (S. 27).

Unter dem Titel „Gentlemen und Bildungsbürger“ geht Levsen im ersten Unterkapitel der Klassenzugehörigkeit der Studenten beider Universitäten nach. Diese war sowohl in Cambridge als auch in den Tübinger Verbindungen, wenn auch in Letzteren graduell geringer, durch soziale Exklusivität geprägt. Dies ermöglichte die Abgrenzung nach unten, wobei Konsum und Kleidung zur Distinktion beitrugen und gemeinsame Identität schufen (S. 31-55). Erziehungsziel waren dabei auf beiden Seiten vor allem Gemeinschaft und „Charakterformung“ (S. 80) und nicht das akademische Wissen. Der in Cambridge zu vermittelnde esprit de corps fand sich auch in Tübingen, wobei das Leben in den Verbindungen reglementierter war, das Erziehungsideal formeller und die Autorität stärker betont wurde (S. 56-81). Weiterhin wurde die Vorkriegszeit durch die Ausgrenzung von Frauen und die Identität stiftende Kultivierung von Männlichkeit in der studentischen Gemeinschaft geprägt. Zwar unterschieden sich Cambridge und Tübingen darin, dass in Ersterem vor allem der Sport, in Letzterem Fechten und Kneipen die Gemeinschaft erzeugten, die zugrunde liegenden Erziehungsziele waren aber die gleichen: Härte – Männlichkeit – Selbstdisziplin (S. 82-122). Sport und Fechten förderten dabei die Verknüpfung von studentischem und militärischem Ideal an beiden Universitäten und die Studenten präsentierten sich, auch in militärischer Hinsicht, als Führer der Nation. Allerdings war das Nationsverständnis in Tübingen stärker nach innen gerichtet, wohingegen es sich in Cambridge nach außen, auf das Empire hin, richtete (S. 123-154). Der Nation gegenüber standen die Feinde, wobei in Cambridge das Deutsche Reich primär diese Stellung einnahm, in Tübingen hingegen England und Frankreich als Feindbilder auftauchten. Rassische Konzepte, in Cambridge hauptsächlich mit Indern als Feindbild, und ein zunehmender Antisemitismus in Tübingen sowie ein kurzer Blick auf die Rolle der Studenten/innen und Universitäten während des Krieges komplettieren das Kapitel zu den „Führer[n] der Nation“ (S. 155-188).

Während die Kriegsinflation in Tübingen nach 1918 dafür sorgte, dass die durch Konsum geförderte Distinktion der Verbindungsstudenten nur noch eingeschränkt möglich war, „das Gefühl einer prekären und unsicheren Standesidentität [in den 1920er Jahren] vorherrschte“ (S. 197), konnten die Cambridger Studenten sich weiterhin durch conspicuous consumption vom Rest der Bevölkerung absetzen. Die ökonomische Nachkriegssituation führte in Tübingen daher zu einer verstärkten Kollektivierung, während in Cambridge gerade die Motorisierung der Studenten eine Individualisierung ermöglichte (S. 189-207). Die Männlichkeitsideale wandelten sich in der Folge. In Cambridge zeigte sich eine „Pluralisierung der studentischen Männlichkeitsideale“ (S. 233), in Tübingen fand eine begrenzte Anpassung, besonders was den vor dem Krieg abgelehnten Sport betraf, statt. Hinzu kam, dass der Kriegsausgang in Cambridge die Abkehr von militärischen Idealen ermöglichte. Die englischen Studenten hatten im Krieg ihre Führerrolle bewiesen. Die Niederlage der Deutschen hingegen führte zu einer verstärkten Militarisierung. Einsätze von Studentenbatallionen in Bayern und im Ruhrgebiet verhinderten eine Zivilisierung ebenso, wie das Andenken an die Gefallenen und der Wunsch nach Wiedergutmachung der erlittenen Kriegsniederlage (S. 227-302). Die hieraus resultierende, sich schon vor dem Krieg andeutende Überhöhung der Nation im Tübinger Verbindungsleben der 1920er-Jahre fand in Cambridge kein Äquivalent. Und so führten Militarisierung und Überhöhung der Nation, gepaart mit der Ablehnung der Weimarer Republik und völkischer Führervorstellungen, in Tübingen zur Radikalisierung der Studenten über die Frontgeneration hinaus, während sich in Cambridge der Internationalismus und der Völkerbund, nicht zuletzt zur Sicherung des britischen Weltmachtanspruchs, in der Nachkriegsgeneration zunehmender Beliebtheit erfreuten (S. 307-354). Zwar gab es auch im Großbritannien der Nachkriegszeit Antisemitismus und Antibolschewismus, er lag aber weit hinter dem der Tübinger Verbindungen zurück. Beiden Studentenschaften gemeinsam waren der höhere Stellenwert der Bildung nach 1918 und eine zunehmende „Politisierung“ (S. 364). Insgesamt dominierte somit der Wandel in Folge des Ersten Weltkrieges. Mit Traditionen wurde gebrochen und „beide Studentenschaften [blickten] mehr in die Zukunft, um ihre kollektive Identität zu definieren, als in die Vergangenheit.“ (S. 364) Personen-, Orts- und Sachregister komplettieren die Arbeit.

Levsens Arbeit gelingt es in überzeugender Weise, den Wandel der Studenten Tübingens und Cambridges nach 1918 vor dem Hintergrund der Vorkriegssituation zu beschreiben und abseits der oberflächlichen Unterschiede die strukturellen Gemeinsamkeiten für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg herauszuarbeiten. Die Vergleichsperspektive ermöglicht einerseits die Korrektur der Vorstellung nationaler Sonderwege für die Vorkriegszeit, andererseits zeigt sie die Brüche der deutschen Geschichte auf dem Weg in den Nationalsozialismus und der englischen auf dem Weg in den Pazifismus der 1930er-Jahre, auf. Allerdings, und hier liegt ein Schwachpunkt der Arbeit, mit 18 Seiten kommt der Krieg sehr kurz, denn der Wandel begann nicht erst 1918, sondern in Tübingen schon während des Krieges (S. 186). Warum dieser frühere, stärkere Wandel in Cambridge nicht eintrat, dafür gibt es nur Vermutungen (S. 207). Gleichzeitig wird die angekündigte Wiederaufnahme dieser Wandlungsprozesse in den Nachkriegskapiteln nicht hinreichend eingelöst. Auch hätte man sich im ersten Kapitel zur Distinktion der Tübinger Studenten vor 1914 eine stärkere Beachtung der nicht in Verbindungen organisierten Studenten wünschen können. Denn Distinktion der Verbindungsstudenten musste sich in Tübingen, im Gegensatz zu Cambridge, nicht nur gegen die restliche Bevölkerung richten, sondern auch gegen die nicht in Verbindungen organisierten Studenten. Dass „das durchschnittlich niedrigere Budget der deutschen Studenten […] eine Erklärung für die Tatsache [bietet], dass Formen der Uniformierung im Verbindungsleben wichtiger waren als in Cambridge“ (S. 49), erscheint als Erklärung zu statisch. Abschließend muss auch gesagt werden, dass man der Arbeit ein besseres Lektorat gewünscht hätte. Wortdopplungen, fehlende Wörter oder Wortendungen, sowie Kasusfehler und fehlerhafte Sätze stehen in krassem Gegensatz zur hohen Qualität der Arbeit.

Trotz der Einwände ist Sonja Levsens Arbeit sehr beachtenswert. Gerade durch den internationalen Vergleich, die Überbrückung des Ersten Weltkrieges und die Betonung der durch ihn evozierten mentalitären Veränderungen bereichert sie die Diskussion über den Wandel der deutschen und englischen Eliten in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts.