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Titel
Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich.


Autor(en)
Hroch, Miroslav
Reihe
Synthesen. Probleme europäischer Geschichte 2
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
279 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike v. Hirschhausen, Universität Hamburg, Historisches Seminar, Arbeitsbereich Europäische Geschichte

Miroslav Hroch ist wohl fast allen Nationalismusforschern ein Begriff. Noch in Zeiten des Kalten Krieges veröffentlichte er 1968 eine vergleichende Analyse nationaler Bewegungen in Europa, deren sozialgeschichtlich angelegtes Phasenmodell nationaler Verdichtung die Nationalismus-Forschung maßgeblich inspirierte. 1 Nicht zuletzt kam mit seinem Buch gerade aus dem östlichen Europa, wo nationale Phänomene fast nur im Gewand der marxistischen Erzählung thematisiert werden durften, ein Anstoß, den Nationalismus nicht als primär westliches Phänomen zu betrachten, sondern vergleichend in den Blick zu nehmen. Fast vierzig Jahre später legt Hroch, emerierter Professor für Allgemeine Geschichte an der Karls-Universität Prag, den Versuch einer Gesamtschau der Nationalismusforschung der letzten Jahrzehnte vor. Erschienen ist diese Studie in der neuen Reihe „Synthesen“, welche die Begründer des Berliner Kollegs für vergleichende Geschichte Europas, früher ZVGE, vor kurzem eröffnet haben. Die Reihe ist als Einführung in zentrale Probleme der europäischen Geschichte konzipiert und die Gliederung lehnt sich an das bewährte Modell des Oldenbourg-Grundrisses an. 2

Im ersten großen Kapitel „Nationen und Nationalismus als Forschungsproblem“ skizziert Hroch die definitorische Entwicklung der Begriffe Nation und Nationalismus und zeigt, wie die Verengung des Nationsbegriffs auf den Staat zunehmend aufgegeben wurde. Die explizite Herausstellung kleiner Nationsbildungsprozesse nicht-dominanter Gruppen ist ertragreich und komplementär zur üblichen Fixiertheit auf große Völker, wird aber etwas überzeichnet. Kulturelle Faktoren, die in der gegenwärtigen Forschung eine große Rolle spielen, kommen in Hrochs Definitionsangebot nur am Rande vor und werden in analytisch wenig weiterführenden Formulierungen wie „Produkte der Gefühlsmobilisierung und irrationaler Triebe“ (S. 38) tendenziell marginalisiert. Auch die Aufteilung dieses ersten Kapitels ist nicht überall nachvollziehbar und zwischen Definitionen, „Einschätzungen des Nationalismus“ unter der Frage „Verhängnis oder Zufall?“ (S. 26) und gegenwärtigen Deutungsversuchen herrschen immer wieder Überschneidungen, die einen klaren Überblick erschweren.

Das zweite große Kapitel beschreibt „Quellen und Elemente der Nationsbildungsprozesse“ in Europa. Überzeugend mutet Hrochs Plädoyer an, von der Annahme eines reinen Konstruktionscharakters von Nationen abzugehen. Denn in der Tat verweist die Forschung der letzten Jahre vor allem auf die Mischung von Projektionen und Realitäten, welche je nach historischem Kontext die jeweiligen Nationalismen konstituiert. Auch die Herausstellung dreier zentraler Elemente der Nationsbildung, nämlich des historischen Erbes, der ethnischen Wurzeln und der Modernisierungsprozesse ist weiterführend. Die Diskussion des Verhältnisses von Modernisierung und Nationsbildung ist zweifellos einer der ertragreichsten Teile des Bandes. Hier argumentiert Hroch souverän, differenziert und von breiter Kenntnis getragen, dass Nationsbildung keinesfalls in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis von Industrialisierung steht, wohl aber von sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen in breiterem Sinne katalysiert wird. Problematisch erscheint jedoch zum einen die Tendenz, Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte erkennen zu wollen (vgl. S. 54: „Die Geschichte richtete an diese Bewohner eine Botschaft“), zum anderen die Neigung, Ethnizität auf Sprache zu reduzieren, was die zur Zeit führende angloamerikanische Ethnizitätsforschung gerade in Frage stellt, sowie schließlich die einseitige Betonung von Zeitachsen und sozialen Trägerschichten. Diese Ausrichtung wird in der zentralen und einzigen Tabelle des gesamten Bandes besonders virulent. Hier, wo die europäischen Nationsbildungsprozesse typologisch verortet werden sollen, greift Hroch auf sein eigenes Phasenmodell von 1968 zurück und lässt neuere Erklärungsmodelle und Typologieversuche, wie beispielsweise Liah Greenfelds „Roads to Modernity“ von 1992, außer Acht. 3 Auch muss es nach den wegweisenden Studien von Alon Confino, Celia Applegate und Abigail Green über das Weiterwirken lokaler und regionaler Identitäten doch eher fraglich erscheinen, ob man vom deutschen nation-building wirklich als einer Integrationsbewegung sprechen kann,

Im dritten Teil des Bandes mit dem Titel „Aktivitäten im Namen der Nation“ werden Akteure, Interessenkonflikte, Sprachfragen und kulturelle Manifestationen behandelt. Auch hier steht Hrochs Überblick in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Ergebnissen der neuesten Forschung. Dass sich „moderne Nationen zumeist auf friedlichem Wege“ bilden, lässt sich nach einer Reihe empirischer Studien zum Verhältnis von Nation und Krieg so nicht aufrechterhalten. 4 Auch erscheint die These, der Krieg spiele primär für Staatsnationen, nicht aber für „non-dominant ethnic groups“ eine konstitutive Rolle, mit Blick auf das östliche Europa zweifelhaft. Denn für den Großteil der ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Nationalismen stellte gerade der Erste Weltkrieg jene Zäsur dar, die es ermöglichte, statt Autonomie innerhalb von Großreichen jetzt die Loslösung von diesen Imperien zu fordern.

Mit Hrochs Band hat die neue Reihe „Synthesen“ versucht, dem allgemeinen Bedürfnis nach einer Überblicksdarstellung zu Nation und Nationalismus und damit einem zentralen Thema der Geschichtswissenschaft nachzukommen. Doch während seitens der Herausgeber wohl eher eine allgemeine Einführung in die Thematik und in den aktuellen Forschungsstand intendiert war, bietet Hrochs Buch primär eine Zusammenfassung seiner Grundthese, freilich um viele neue Fälle erweitert und europäisiert. Als Markstein der Nationalismusforschung in seiner Zeit lässt sich der Band daher durchweg würdigen. Den Anspruch eines konzisen Überblicks über den heutigen Forschungsstand löst er hingegen nur partiell ein. Vier Aspekte mögen dies belegen.

Zum ersten überzeugt die Grundthese des Autors, dass die Nationalismusforschung prinzipiell zwischen Staatsnationen und Nationalbewegungen nicht-dominanter Gruppen unterscheiden müsse, vor dem Hintergrund der aktuellen Forschung nicht. Auch wenn Hroch das keinesfalls intendiert, werden damit eher veraltete Ost-West-Schemata erneuert, die ihre Aussagekraft für die heute interessierenden Fragen nach der Konstruktion, Popularisierung und kultureller Vermittlung nationaler Selbstbilder eingebüßt haben. Zum zweiten wird durch die eindeutige Priorisierung sozialer und ökonomischer Faktoren bei der Darstellung europäischer Nationsbildungsprozesse vernachlässigt, was die kulturalistische Wende in der Nationalismusforschung an Erträgen gebracht hat. Denn gerade die Kulturgeschichte, die keinesfalls so politikfern ist, wie Hroch sie erscheinen lässt, sowie ein erweiterter, nicht mehr auf den Staat begrenzter Politikbegriff haben Wegweisendes zur Konstruktion, zur Medialisierung und zu den Feindbildern moderner Nationsbildungen vorgelegt, was in dieser Gesamtschau randständig bleibt. Zum dritten erscheint Hrochs Relativierung von Krieg und Gewalt bei der Ausbildung von Nationen nach den Forschungen der letzten Jahre problematisch. Indem allenfalls Staatsnationen (primär im Westen Europas) hier Gewaltpotential zugesprochen wird, die Nationalismen nichtdominanter Gruppen (meist im östlichen Europa) aber als tendenziell friedlich charakterisiert werden, werden überkommene Ost-West-Unterschiede im neuen Gewand reaktiviert und Einschätzungen getroffen, die an den Ergebnissen der geöffneten Archive vorbeigehen. Gerade die brutalen Bürgerkriege, die sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im östlichen Europa entluden, zeigen, wie hoch auch die Gewaltbereitschaft kleinerer Nationalbewegungen und ethnischer Gruppen war. 5 Überaus hilfreich ist hingegen viertens die Bibliografie des Bandes, die gut gegliederte und konzise Hinweise zu allen europäischen Nationsbildungsprozessen gibt, die genannte Literatur kenntnisreich kommentiert und daher gerade für Studierende sehr nützlich sein dürfte.

Ungeachtet der Schwierigkeiten, die der besprochene Band aufwirft, ist die hier vollzogene Integration west- und osteuropäischer Nationalismen zu einem übergreifenden europäischen Problemfeld in hohem Maße überzeugend und weiterführend. Das Anliegen der Reihe „Synthesen“, die noch immer bestehende Trennung europäischer Probleme in einen östlichen und einen westlichen Teil aufzuheben, das „departementalizing“ der Geschichtswissenschaft zu relativieren und grundlegende Fragestellungen der neueren Geschichte an das ganze Europa zu richten, verdient weitere Schritte in diese Richtung.

Anmerkungen:
1 Hroch, Miroslav, Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, Prag 1968. In überarbeiteter Fassung erneut als: Social preconditions of national revival in Europe. A comparative analysis of the social composition of patriotic groups among the smaller European nations, Cambridge 1985.
2 Als erster Band der Reihe „Synthesen“ erschien die hervorragende Studie von: Hoffmann, Stephan-Ludwig, Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750-1914, Göttingen 2003.
3 Greenfeld, Liah, Five roads to modernity, Cambridge 1992.
4 Vgl. Langewiesche, Dieter, Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 190-236, demnächst transatlantisch vergleichend: Leonhard, Jörn, Bellizismus und Nation, München 2007.
5 Vgl. Liulevicius, V.G., War Land on the Eastern front. Culture, national Identity and German occupation in World War I., Cambridge 2000; Diner, Dan, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, Frankfurt 2000.

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