: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935-1941. Zürich 2005 : Orell Füssli Verlag, ISBN 3-280-06062-1 240 S., 7 Karten € 32,80

: Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?. Paderborn 2005 : Ferdinand Schöningh, ISBN 3-506-72923-3 375 S. € 44,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Terhoeven, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Schon die Tatsache, dass Aram Mattioli seiner jüngsten Monografie einen berühmten Passus aus Brechts „Dreigroschenoper“ vorangestellt hat („...man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“), verdeutlicht, dass der Luzerner Historiker mit seiner Darstellung der faschistischen Gewaltherrschaft in Äthiopien 1935-1941 eine Mission verfolgt. Er hat sich vorgenommen, den namenlosen Toten eines „vergessenen Völkermords“ (S. 15) endlich die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die ihnen aufgrund der Präzedenzlosigkeit der Verbrechen gebühre, denen sie zum Opfer gefallen sind.

In der Tat geht es Mattioli in seiner unbedingt lesenswerten Studie darum, den Blick auf ein Ereignis zu revidieren, dem in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts bislang nicht mehr als eine Fußnote zugestanden wurde. Er betrachtet den im Herbst 1935 erfolgten italienischen Überfall auf das Kaiserreich Äthiopien, dem einzigen noch unabhängigen Staat des afrikanischen Kontinents, als ein Schlüsselereignis des „Katastrophenzeitalters“ (Hobsbawm), dessen historische Bedeutung über die involvierten Nationen weit hinausreiche. „Was auf den ersten Blick als verspätetes Kolonialunternehmen in der langen Geschichte der europäischen Expansion anmutet, war ein mit ausgeklügelter Logistik, immensem Aufwand und modernster Technologie geführter Angriffs- und Eroberungskrieg, der das Tor zu neuen Dimensionen kriegerischer Gewalt aufstieß [...] und in manchem bereits die Zerstörungskräfte des Zweiten Weltkrieges annoncierte.“ (S. 14f.) Auch wenn die italienische Brutalität „weder Ausmaß noch Qualität der später begangenen nationalsozialistischen Megaverbrechen“ angenommen habe, sei auf dem nordafrikanischen Kriegsschauplatz doch zum ersten Mal überhaupt die Zivilbevölkerung systematisch in Kriegshandlungen einbezogen worden. Die zwischen 350.000 und 760.000 im Laufe des sechs Jahre währenden Konflikts getöteten Äthiopier müssten endlich als die ersten Opfer der faschistischen Achsenmächte, aber auch als die ersten Leidtragenden eines Rassenkriegs neuer Dimension wahrgenommen werden, der nicht mehr in kolonialen, sondern in genozidalen Kategorien zu fassen sei und nachdrücklich auf zukünftige Entwicklungen verweise.

Mattioli untermauert seine Forderung nach einer Reinterpretation des Abessinienkonflikts durch eine lange Reihe messerscharf vorgetragener Beobachtungen. In der Vorgeschichte der Gewaltexzesse auf äthiopischem Boden hält er vor allem die brutale Rückeroberung des 1911 kolonisierten, italienischer Herrschaft aber weitgehend entglittenen Libyens zwischen 1923 und 1932 für entscheidend, die sich mit ihren rund 100.000 Opfern (!) für viele italienische Beteiligte als eine regelrechte „Schule der Gewalt“ (S. 41) erwiesen habe. Mit dem Einsatz völkerrechtswidriger Waffen, grausamen Kollektivstrafen, der Einrichtung von Lagern und der gezielten Vernichtung der landwirtschaftlichen Lebensgrundlagen der Bevölkerung hätten sich bereits in Libyen Praktiken etabliert, die wenige Jahre später in Äthiopien potenziert zum Einsatz gekommen und die in ihrer Skrupellosigkeit als genuin faschistisch zu beschreiben seien. Schon in quantitativer Hinsicht weise die Abessinienintervention sehr viel stärker in die Zukunft als in die koloniale Vergangenheit: Mit 330.000 Soldaten sei das italienische Heer die mit Abstand größte Streitmacht gewesen, „die Afrika je gesehen hatte“ (S. 67); eine These, die gleichwohl über einen Vergleich mit dem Buren- und dem Rifkrieg genauer zu überprüfen wäre. In jedem Falle wurde die durch die zahlenmäßige Überlegenheit hervorgerufene eklatante „Asymmetrie der Mittel“ (S. 81) durch eine neuartige Geschwindigkeitsordnung (Paul Virilio), sprich den Einsatz modernster Panzer und Flugzeuge gegen die Ochsenkarren des Gegners, weiter verschärft. Dennoch konnten die Italiener die Äthiopier trotz des schließlich rücksichtslos betriebenen Giftgaseinsatzes nicht, wie eine bombastische Siegesfeier im Mai 1936 den eigenen Landsleuten und der Weltöffentlichkeit vorgaukelte, in einem wenige Monate währenden Blitzkrieg niederwerfen (auch wenn sich wenige Tage später der Völkerbund der vermeintlichen Logik des Erfolgs unterwarf und die im November 1935 verhängten Wirtschaftssanktionen gegen den italienischen Aggressor wieder aufhob). Die Italiener sahen sich auch in den folgenden Jahren einer niemals gänzlich unterdrückten Guerilla-Bewegung gegenüber, auf die sie – weitgehend verborgen vor den Augen der Welt – mit allergrößter Härte reagierten. Mattioli hält dies für Grund genug, die gewohnte Chronologie umzuschreiben und die Dauer des Krieges eben nicht in Monaten, sondern in Jahren zu bemessen. Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass noch 1938 280.000 italienische Soldaten benötigt wurden, um die Ordnung in dem ostafrikanischen Land einigermaßen aufrechtzuerhalten – und dass nach der Eroberung Addis Abbebas mit über 13.000 Gefallenen mehr als dreimal so viele Italiener ums Leben kamen als im „Krieg der sieben Monate“ selbst (S. 140). Vor allem aber legt Mattioli Wert auf den Umstand, dass die Gewalt der selbsternannten Herrscher – allein nach einem missglückten Attentat auf Vizekönig Graziani wurden im Februar 1937 6.000 unschuldige Menschen ermordet – nicht isolierten Einzelentscheidungen entsprang, sondern vielmehr Teil einer bewussten Strategie der Besatzungsmacht war, mit der die Italiener nicht zuletzt die Bewunderung der nationalsozialistischen Führung auf sich zogen.

Man könnte dem Autor unter Umständen den Vorwurf machen, dass über seine Fokussierung auf die Gewalt der zweifellos auch vorhandene Alltag und die ‚Normalität’ der Besatzungsherrschaft zugunsten einer Überbewertung des terroristischen Elements aus dem Blick geraten – eine Gefahr, auf die Mattioli im Übrigen auch selbst hinweist (S. 21). Die Apartheidsgesetzgebung, die das Regime in drei Schritten ab 1936 erließ, ist ja nicht zuletzt als eine Reaktion auf die große Zahl von Lebensgemeinschaften zwischen Italienern und Äthiopierinnen zu lesen, die der längst in rassistischen Kategorien denkenden faschistischen Führung mit Mussolini an der Spitze zunehmend ein Dorn im Auge waren. Unterm Strich jedoch erscheinen gewisse Überspitzungen durchaus zu verschmerzen, wenn es gilt, einer geradezu erschreckenden, nicht nur in Italien verbreiteten Verzeichnung der faschistischen Aggression als angeblich menschlicherer Variante europäischer Kolonialherrschaft in Afrika entgegenzutreten.

Insgesamt hat Mattioli ein ebenso solide recherchiertes wie engagiertes Buch geschrieben, das das große Verdienst besitzt, den Äthiopienkrieg erstmals für ein deutschsprachiges Publikum umfassend aufgearbeitet und kontextualisiert zu haben, wobei dankenswerterweise auch der nachträglichen Verdrängung der in Afrika begangenen Kriegsverbrechen im Italien der Nachkriegszeit ein luzides, bis in die Gegenwart fortgeführtes Kapitel gewidmet ist. Viel zu verdanken hat der Autor zweifelsohne den (leider bislang nur auf Italienisch vorliegenden) Vorarbeiten von Historikern wie Giorgio Rochat, Nicola Labanca und besonders Angelo Del Boca (der das Vorwort zu Mattiolis Band verfasst hat). Der genuin eigene Beitrag des Schweizers besteht jedoch einerseits darin, mit einer Auswertung der im Genfer Archiv des Internationalen Roten Kreuzes befindlichen Zeitzeugenberichte transparent gemacht zu haben, dass schon für zeitgenössische Beobachter/innen das Ausmaß der in Äthiopien entfesselten Gewalt die bis dato bekannten Dimensionen qualitativ überstieg. Zum anderen hat er erstmals konsequent den Versuch unternommen, ein oft als verspätetes Kolonialabenteuer missverstandenes Ereignis als ersten genuin faschistischen Krieg innerhalb der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts neu zu verorten. So beunruhigende, klare Thesen gab es zu diesem Thema bislang noch nicht zu lesen.

Dass Mattiolis Schlussfolgerungen auch akribischen Archivrecherchen auf der Basis einer Fülle bekannter und unbekannter Quellen standhalten, beweist die nahezu zeitgleich zu seinem Buch entstandene und wenige Monate später publizierte Dissertation seiner Landsmännin Giulia Brogini Künzi. Auch wenn diese terminologisch an der Bezeichnung „Kolonialkrieg“ festhält, lässt auch sie keinen Zweifel am qualitativ neuartigen, tendenziell totalen Charakter des Äthiopienkrieges, bei dem die Aggressoren den Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilisten systematisch missachteten. Ebenso betont sie die ideologische Prägung des Feldzuges, der vor allem im bemerkenswert hohen Anteil faschistischer Milizionäre an den italienischen Streitkräften greifbar wurde: „Ohne Faschismus“, so die Autorin, sei „die Totalisierung der Kriegführung [...] nicht denkbar“ (S. 25). Brogini Künzi arbeitet heraus, dass es vor allem Giulio Dohets in den 1920er-Jahren entwickeltes Konzept der „guerra integrale“ gewesen sei, das die theoretische Grundlage für Mussolinis Äthiopien-Intervention geliefert habe – nicht zufällig eine Militärtheorie, deren Kern darin lag, mittels des massiven Einsatzes der Luftwaffe „dem Kriegsgegner ungeachtet der internationalen Konventionen in kürzester Zeit den größtmöglichen Schaden zuzufügen“ (S. 343). Damit passte Douhets Doktrin nicht nur zum moralisch enthemmten Radikalimperialismus der faschistischen Führung in einem Krieg gegen einen vorab als minderwertig definierten Gegner, sondern auch zu den begrenzten Möglichkeiten eines so ressourcen- und devisenschwachen Landes wie Italien. Noch interessanter für eine Gesamtinterpretation des italienischen Faschismus als Kriegsregime ist die von Brogini Künzi auf der Basis einer Auswertung von 24 Militärzeitschriften aufgedeckte, in entsprechenden Kreisen schon in den 1920er-Jahren offenbar weit verbreitete Überzeugung, der Krieg in den Kolonien diene der „Rassenverbesserung“ und sei vor allem die beste Vorbereitung aller beteiligten Kräfte auf den nächsten europäischen Krieg. „In normalen Zeiten, wenn Janus die Türen in Europa verriegelt hält, bietet die Kolonie die beste, vielleicht die einzige Möglichkeit zur Charakterschulung und zur Förderung der Unternehmungslust“, zitiert die Autorin ein Mitglied des Kolonialoffizierskorps. „Ein Offizier, welcher in der Kolonie eine Führungsfunktion inne hatte, wird [...] besser als ein beliebiger anderer für die Bewältigung zukünftiger Aufgaben im Krieg in Europa gerüstet sein.“ (S. 155) Der eigentliche Nutzen des Krieges lag damit weniger in erhofften materiellen Gewinnen wie Rohstoffen und Siedlungsgebieten, sondern in der „umfassende[n] Kriegsvorbereitung der Nation“ (S. 183). Dazu passt, dass Mussolini die befehlshabenden Generäle im Frühjahr 1936 mit der Anweisung in Verlegenheit brachte, dafür zu sorgen, dass alle italienischen Kombattanten wenigstens einmal die Front erlebten, „wenn nötig auch in einem Turnus-System“ (S. 293).

Die große Stärke von Brogini Künzis Band liegt zweifelsohne in der Rekonstruktion des militärischen Kriegs- und Kolonialdiskurses im faschistischen Italien der Jahre 1935/36 und zuvor, dem sie eine schonungslose Schilderung der brutalen Kriegswirklichkeit auf äthiopischem Boden gegenüberstellt. Demgegenüber bleiben ihre Ausführungen zur italienischen Heimatfront blass. Zudem leidet das Buch erheblich unter der sprunghaften Argumentation und der wenig stringenten Gliederung des eigentlich hochinteressanten und klug ausgewählten Materials.

Unterm Strich ist jedoch beiden Autor/in, Aram Mattioli und Giulia Brogini Künzi, ohne jede Einschränkung zu wünschen, dass die Herausforderung, die ihren Werken inhärent ist, von der Kolonial-, wie der Weltkriegs- und der Genozidforschung angenommen wird.

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