M. Rathmann: Perdikkas zwischen 323 und 320

Cover
Titel
Perdikkas zwischen 323 und 320. Nachlassverwalter des Alexanderreiches oder Autokrat?


Autor(en)
Rathmann, Michael
Reihe
Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 724
Anzahl Seiten
100 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Müller, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Justus-Liebig-Universität Gießen

Michael Rathmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Alte Geschichte der Universität Bonn, befasst sich mit einem Thema, das vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion dringend einer Aufarbeitung bedurfte: der kurzen Karriere von Alexanders Chiliarchen Perdikkas zwischen Juni 323 und Sommer 320. Die Person des Perdikkas wurde bislang nur vereinzelt einer Spezialuntersuchung gewürdigt1; eine Studie zu seiner Politik nach Alexanders Tod war schon länger ein Desiderat. Rathmann unternimmt den Versuch, das in der Forschung vorherrschende apodiktische Negativbild des Perdikkas als eines herrschsüchtigen, "schnell gescheiterten Vorläufer[s] des späteren Antigonos Monophthalmos" (S. 8) mit Ambitionen auf die Herrschaft über das Gesamtreich zu relativieren. Basis seiner Untersuchung ist die Diskussion der Quellen, aus denen sich das ungünstige Porträt des Generals speiste, und die Erörterung der Hintergründe der perdikkasfeindlichen Überlieferung.

Ausgangspunkt der Studie bildet die Frage nach der Bedeutung der Übergabe des Siegelrings, den Alexander auf seinem Sterbebett an Perdikkas ausgehändigt haben soll. Rathmann konstatiert die Historizität dieser Episode und datiert sie auf den 6. Juni 323, vier Tage vor Alexanders Tod (S. 16ff.). Es habe sich um den makedonischen Siegelring gehandelt, nicht um den des Dareios, mit dem der König gemäß Curtius Rufus (6,6,6) die Korrespondenz innerhalb des Perserreiches gesiegelt habe (S. 18-22).2 Vor einem kleinen Kreis an Hetairen habe Perdikkas die Insignie empfangen, die eine Fortführung der Amtsgeschäfte und die Vormundschaft über den noch ungeborenen Sohn Alexanders von Roxane, den späteren Alexander IV., impliziert habe. Eine Designation als Thronanwärter und weitergehende Regelungen für die Herrschaftsausübung seien jedoch nicht intendiert gewesen (S. 22-26). Dieser Mangel an Instruktionen erkläre auch das in Babylon ausbrechende Chaos nach Alexanders Tod. Um zu erläutern, aus welchen Kräften sich Perdikkas' heterogene Anhängerschaft zusammensetzte, ist ein prosopografischer Katalog aller Personen eingefügt, die sich in Alexanders letzten Tagen in seiner Nähe befunden und bei den Beratungen in Babylon eine Rolle gespielt hatten.

Im Folgenden thematisiert Rathmann die Position des Perdikkas unter den Diadochen bei den Verhandlungen zur Reichsteilung in Babylon. Gegen die These von Rosen, die Macht sei zwischen Krateros, Antipater und Perdikkas gleichmäßig verteilt gewesen 3, argumentiert Rathmann wie schon Bosworth 2002 4, dass Perdikkas der entscheidende Faktor in Babylon gewesen sei. Krateros, der mit den makedonischen Veteranen in Kilikien verweilte, sei hingegen von minderer Bedeutung für die Verhandlungen gewesen; einflussreicher sei aber Perdikkas' Gegner Meleager, einer der Kommandeure der Pezhetairen, gewesen (S. 26-30, 49-52). Von Beginn an habe sich Perdikkas als treuer Nachlassverwalter Alexanders erwiesen (S. 31) und gemäß dessen Vorgaben versucht, das Gesamtreich zu erhalten, wobei er zu Konzessionen gegenüber seinen Verhandlungspartnern bereit gewesen sei.

Der politische Hintergrund, speziell die Problematik der widersprüchlichen Quellenaussagen zur Datierung von Perdikkas' Optionen auf eine Ehe mit Antipaters Tochter Nikaia einerseits und mit der Argeadin Kleopatra andererseits, stehen danach im Mittelpunkt. Rathmann argumentiert gegen die These, die Ehe mit Nikaia sei Ausdruck einer Koexistenz mit den anderen Diadochen gewesen, während die Werbung um Kleopatra Perdikkas' Streben nach der Alleinherrschaft illustriert habe (S. 59). Im Gegensatz zu Ellis, der eine bewusste Provokation Antipaters durch einen Antrag des Perdikkas an die Argeadin annimmt 5, wertet Rathmann dessen Heiratspolitik nicht als offensiv. Die Heiratsofferte an Kleopatra sei, wie auch Carney bereits ausführte 6, von deren Mutter Olympias ausgegangen, während Perdikkas an der früheren, kurz nach Alexanders Tod geschlossenen Ehe mit Nikaia festgehalten habe.

Der Betrachtung, wie sich die Spannungen zwischen Perdikkas und Antipater entwickelten, folgt abschließend eine Untersuchung des Konflikts mit Ptolemaios, der zum Einmarsch in Ägypten führte. Rathmann konstatiert für die Zeit vor dem Ägyptenzug eine Politik des Ausgleichs von Seiten des Perdikkas. Er habe sich um ein Bündnis mit Ptolemaios bemüht und aus "pragmatischen Gründen" den Raub von Alexanders Mumie in Syrien, der zum endgültigen Bruch geführt habe, geschehen lassen, um in dem Lagiden keinen potentiellen Verbündeten gegen Antipater zu verlieren (S. 71). Es sei Perdikkas' strategischer Fehler gewesen, dass er vor dem geplanten Zug gegen Antipater zuerst die vermeintlich leichtere ägyptische Unternehmung in Angriff genommen habe, bei der er aufgrund der allgemeinen Missstimmung im Heer und persönlicher Motive sein Ende fand.

Rathmann beantwortet die im Titel aufgeworfene Frage, ob Perdikkas ein Nachlassverwalter oder ein Autokrat gewesen sei, im Fazit seiner Studie in differenzierter Weise: Beide Möglichkeiten können zutreffen, ohne einander auszuschließen. Perdikkas versuchte, Alexanders Gesamtreich zu erhalten und ihm eine Struktur zu verleihen. Inwieweit sich dahinter eigene Ambitionen auf die Herrschaft verbargen, lässt Rathmann offen, weist aber darauf hin, dass Perdikkas' Machtwillen sich nicht wesentlich von dem der anderen Diadochen unterschieden habe. Insgesamt sei das Negativurteil über Perdikkas als eines grausamen, herrschsüchtigen Tyrannen, das die Quellen vornehmen, zwar zu relativieren, doch ebenso wenig, wie sich die Ereignisse im Juni 323 in Babylon klar rekonstruieren ließen (S. 26), könne mit Sicherheit gesagt werden, ob "er nun tatsächlich ein Autokrat war, der unter dem Deckmantel der Vormundschaft für die unmündigen Könige nach der Alleinherrschaft strebte" (S. 78). Angesichts der problematischen Quellenlage ist dieses Ergebnis realistisch; eine darüber hinausgehende Charakterzeichnung des Perdikkas oder der anderen Diadochen wäre ein bloßes Konstrukt, das Rathmann zu Recht vermeidet.

Rathmann zeichnet mit Sorgfalt ein stimmiges Bild vom Chaos des zerbrechenden Alexanderreiches als eines Kolosses auf tönernen Füßen. Neben dem gescheiterten "Krisenmanagement" hätten, wie häufig festgestellt, vor allem Egoismus und Machtstreben von Alexanders Generälen zum 1. Diadochenkrieg geführt (S. 67f.). An Einwänden ergibt sich wenig: Von einer "Verschmelzungspolitik" Alexanders mit zu weit gehenden Implikationen (unter Berufung auf Berve: S. 20 mit Anm. 54) 7, sollte man besser nicht sprechen; Bosworth hat die These überzeugend widerlegt.8 Auch die Charakterisierung der Olympias als einer "problematischen" Person, die Alexander bewusst von der Regierung fern gehalten habe (S. 64 mit Anm. 188), sollte relativiert werden, da sie sich zu eng an das Zerrbild anlehnt, das die antiken Quellen von ihr zeichnen.9 Inwieweit der Alexanderroman und die Metzer Epitome als Referenz für die historischen Ereignisse nicht eher kritischer gesehen werden müssten, als dies Rathmann teilweise tut, sei dahingestellt. Diese Kritikpunkte fallen jedoch kaum ins Gewicht; insgesamt bietet die gelungene und überzeugende Untersuchung einen erhellenden Einblick in die erste Phase nach Alexanders Tod und macht die Hintergründe der Handlungsweise des Perdikkas anschaulich, so weit dies die Quellen erlauben, ohne in Spekulationen überzugehen. Zugleich bleibt Raum für die weitere Diskussion. Schon aufgrund der Prosopografie der Personen um Alexanders Sterbebett ist Rathmanns Studie eine Bereicherung für die Forschung zu Alexander und den frühen Diadochen, nicht zuletzt jedoch auch aufgrund der differenzierten Sichtweise auf Perdikkas. Für jeden, der sich kritisch mit den Ereignissen jener Jahre auseinandersetzt, ist sie unbedingt empfehlenswert.

Anmerkungen:
1 De Sanctis, G., Perdicca, in: Studi Italiani di Filologia Classica 9 (1931), S. 9-24; Wirth, G., Zur Politik des Perdikkas 323, in: Helikon 7 (1967), S. 281-322; Bosworth, A. B., Perdiccas and the Kings, in: Classical Quarterly 43 (1993), S. 420-427.
2 Dagegen vgl. Hammond, N.G.L., Did Alexander use one or two seals?, in: Chiron 25 (1995), S. 199-203; vgl. auch Ders., Aspects of Alexander's Journal and Ring in his Last Days, in: American Journal of Philology 110 (1989), S. 155-160; Badian, E., The Book and the Ring, in: Will, W.; Heinrichs, J. (Hgg.), Zu Alexander d. Gr., FS G. Wirth, Bd. 1, Amsterdam 1987, S. 605-625.
3 Vgl. Rosen, K., Die Reichsordnung von Babylon (323 v. Chr.), in: Antiquité Classique 10 (1967), S. 95-110, hier S. 98f.
4 Vgl. Bosworth, A. B., The Legacy of Alexander. Politics, Warfare, and Propaganda of the Successors, Oxford 2002, S. 29-63. Sein Kapitel bietet eine fundierte, überzeugende Behandlung der Verhandlungen in Babylon mit der Quintessenz: "In fact, there was constant intrigue, constant negotiation, and constant compromise." (S. 32) Leider berücksichtigt Rathmann diese Publikation nicht.
5 Vgl. Ellis, W. M., Ptolemy of Egypt, London 1994, S. 36.
6 Vgl. Carney, E. D., Women and monarchy in Macedonia, Norman 2000, S. 120. Entgegen Seibert, J., Historische Beiträge zu den dynastischen Verbindungen in hellenistischer Zeit, Wiesbaden 1967, S. 15.
7 Vgl. Berve, H., Die Verschmelzungspolitik Alexanders des Großen, in: Klio 31 (1938), S. 135-168.
8 Vgl. Bosworth, A.B., Alexander and the Iranians, in: Journal of Hellenic Studies 100 (1980), S. 1-21.
9 Vgl. Carney, E. D., Olympias and the Image of the Virago, in: Phoenix 47 (1993), S. 23-55.

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