A. Jacobson, B. Schlink (Ed.): Weimar. A Jurisprudence

Titel
Weimar. A Jurisprudence of Crisis


Herausgeber
Jacobson, Arthur J.; Schlink, Bernhard
Erschienen
Berkeley/Los Angeles/London 2000: University of California Press
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
DM 126,27
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. jur. Susanne Benöhr, Hochschule für Öffentliche Verwaltung/Universität Bremen

Den Bucheinband zieren die "Stützen der Gesellschaft". Sollte George Grosz´ boshaftes Portrait der Weimarer Republik auch ein Abbild ihrer Staatsrechtslehre sein? Diese Frage hat bereits in der Vergangenheit eine umfangreiche Debatte ausgelöst.1 Warum also dieses Buch? Die Antwort liegt in der konzeptionellen Gestaltung, nämlich der kaleidoskopartigen Darstellung ausgewählter Werke bekannter Weimarer Staatsrechtslehrer wie Kelsen, Preuss, Anschütz, Thoma, Triepel, Kaufmann, Smend, Heller und Schmitt. Das Werk ist durchgehend englisch verfasst, die Originalauszüge aus den deutschen Quellen sind entsprechend übersetzt worden. Kurze Einführungen über den persönlichen und fachlichen Werdegang der Staatsrechtslehrer von Clemens Jabloner (Kelsen), Christoph Schönberger (Preuss), Walter Pauly (Anschütz), Peter C. Caldwell (Thoma), Ralf Poscher (Triepel), Stephen Cloyd (Kaufmann), Stefan Korioth (Smend), David Dyzenhaus (Heller) und Volker Neumann (Schmitt) sowie eine Darstellung der Staatsrechtslehre während der Spätphase der Regierungszeit Wilhelms II. (Stefan Korioth) und derjenigen des Nationalsozialismus (Reinhard Mehring) flankieren den Hauptteil des Buches. Eine verfassungsgeschichtliche Einleitung von Arthur J. Jacobson und Bernhard Schlink komplettiert das Werk.

Solange die Weimarer Reichsverfassung galt, ging mit ihr eine rechtsdogmatische Diskussion einher, die als "Methoden- und Richtungsstreit" oder auch als "Weimarer Staatsrechtslehrerstreit" bezeichnet wird. Der Disput entzündete sich insbesondere an der Frage, welchen Stellenwert man dem Rechtspositivismus zubilligen wollte. Angesichts der neuen verfassungsrechtlichen Situation, der sozialen sowie außen- und innenpolitischen Probleme der jungen Republik, war eine Antwort auf diese Frage unausweichlich. Einen ausgezeichneten Überblick über die Methoden und Richtungen und das zum Teil hartnäckige und kompromisslose Ringen der Positivisten und Antipositivisten um die "richtige Auslegung" bietet die vorliegende Publikation.

Gleichwohl wollen Arthur J. Jacobson und Bernhard Schlink mehr. Bereits das von Ihnen einleitend verfasste Kapitel offenbart ihren Anspruch, nicht nur die Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik darzustellen, sondern sie auch ansatzweise mit derjenigen der Vereinigten Staaten zu vergleichen.(S.1 ff) Zwar wird die verfassungsrechtliche Entwicklung geschickt mit dem jeweiligen politischen und geschichtlichen Hintergrund verwoben, allerdings wirft spätestens die eingängige Darstellung der Rechtsprechung des Supreme Court Fragen auf: Sind beide Verfassungssysteme wirklich vergleichbar? Und falls ja, was bedeutet dies für den "Methoden- und Richtungsstreit"?

Das Charakteristikum der amerikanischen Verfassungsdynamik resultiert in erster Linie aus dem Umstand, daß der Supreme Court die Gesetze der Staaten und des Bundes auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen kann. Freilich findet sich ein derartiges Prüfungsrecht nicht in der Verfassung. Es wurde von Chief Justice Marshall 1803 eingeführt und ist seit diesem Zeitpunkt ein fester Bestandteil des amerikanischen Verfassungssystems. Im Gegensatz dazu sah die Weimarer Reichsverfassung kein Prüfungsrecht vor. Dessen ungeachtet bejahte das Reichsgericht im Jahre 1925 das richterliche Prüfungsrecht von Reichsgesetzen auf deren Übereinstimmung mit der Weimarer Reichsverfassung.2 Damit trat die Krise der Weimarer Staatsrechtslehre in ihrer ganzen Schärfe zutage. Die Befürwortung der richterlichen Nachprüfung von Gesetzen führte einerseits zwangsläufig zur Einbeziehung außerjuristischer Faktoren und damit zur eingangs gestellten Frage, welcher Methode und Richtung der Vorzug zu geben ist. Vor allem aber warf das richterliche Prüfungsrecht von Gesetzen die Frage auf, welche Verbindlichkeit man dem parlamentarischen System und damit der Weimarer Reichsverfassung zubilligen wollte.

An diesem Punkt wäre ein eingehender Vergleich der Rechtsprechung des Supreme Court in den Fällen Lochner v. New York und Nebbia v. New York mit der Entwicklung der Weimarer Staatsrechtslehre wünschenswert gewesen. Dieses aus folgendem Grunde: Während der Supreme Court ab 1905 im Zuge der Entscheidung Lochner v. New York ungefähr 200 legislative Regelungen für verfassungswidrig erklärte, zog er sich ab Mitte der 30´er Jahre (Nebbia v. New York) auf die Überprüfung des Willkürgesichtspunktes zurück.3 Durch diese Herabsetzung des Prüfungsmaßstabes gewann die Legislative an Spielraum. Der Unterschied zu Weimar ist frappant, denn hier erwies sich der richterliche Prüfungsmaßstab des Willkürverbotes als ein Einfallstor zur Disziplinierung des demokratisch gewählten Reichstages. Das richterliche Prüfungsrecht wird damit zum Kristallisationspunkt für die unterschiedlichen verfassungs- und staatstheoretischen Konzeptionen. Diesem interessanten Vergleich entziehen sich leider die Herausgeber wie auch die anderen Autoren weitestgehend. Dies hat zur Folge, dass das in sich geschlossene Kapitel eigenartig separiert für sich steht und die Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Verfassungssystem der Vereinigten Staaten ergeben, weder aufgegriffen noch beantwortet werden.

Demgegenüber lotet der Hauptteil des Buches geschickt in Textauswahl und Kommentierung die Tiefen der Weimarer Staatsrechtslehre aus.

Auch in diesem Werk kommt den beiden Antipoden der Weimarer Staatsrechtslehre Kelsen (Positivist) und Schmitt (Antipositivist) eine besondere Bedeutung zu, wie ihre Positionierung deutlich zeigt. Folgt man der Überzeugung der Herausgeber, wonach Weimar ein dunkles wenn auch nützliches Anschauungsmodell für den Einfluss antidemokratischer und antiliberaler Kräfte darstellt,(S. XI) so überrascht es zunächst nicht, Kelsen an erster Stelle und Schmitt an letzter zu finden. Gleichwohl ist diese Rangfolge aus zwei Gründen angebracht: Zum einen verhindert diese Anordnung eine Reduzierung der Weimarer Staatsrechtslehre auf den Disput Kelsen versus Schmitt. Zum anderen zeigt das von Clemens Jabloner verfasste Kapitel in seiner pointierten Darstellung der "Reinen Rechtslehre" eindrucksvoll die Stringenz im Rechtsdenken Kelsens.(S. 77 ff)

Während der Artikel "Juristischer Formalismus und Reine Rechtslehre" (S. 76 ff) die Methodik, die Bedeutung des Formalismus und die Relevanz des an der Wirklichkeit auszurichtenden positiven Rechts verdeutlicht, wird die Quintessenz der Theorie in dem Klassiker "Vom Wesen und Wert der Demokratie" (S. 84 ff) offenbar. Kelsens Feststellung, dass Politik und Rechtswissenschaften eine untrennbare Verbindung miteinander eingegangen seien entsagt im Endeffekt dem Absolutismus und eröffnet die Möglichkeit unterschiedlicher Politikkonzepte. Vor dem Hintergrund der Krise ist daher Kelsens Eintreten für die Weimarer Republik überdeutlich, wenn er folgert, dass der Demokratie der Vorzug zu geben ist, weil sie den politischen Willen jedermanns zumindest gleich einschätzt, wie sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck ja nur der politische Wille ist, gleichermaßen achte.(S. 108)

Das im Gegenteil dazu Schmitt die Verfassungsgrundlagen der Weimarer Republik radikal in Frage stellte, den autoritären Staat befürwortete, zum Kronjuristen der Nationalsozialisten avancierte und schließlich bis ins hohe Alter seinen politischen Einfluss geltend machte, darf mittlerweile als bekannt vorausgesetzt werden. Volker Neumanns kritische Einleitung (S. 287/288) ist dann auch durchgängig von der schon philosophisch anmutenden - bereits von Bernhard Schlink aufgeworfenen - Fragestellung beherrscht "Why Carl Schmitt?"4 Ob sich die Antwort aus den zeitlichen Umständen, seiner Themen- und Methodenwahl oder gar aus der "Banalität des Bösen" ergibt, ist diskussionswürdig. Diskussionsbedürftig ist hingegen die in den letzten Jahren stetig zunehmende Passion Schmitt und sein Werk erörtern zu wollen. Volker Neumanns und Bernhard Schlinks berechtigter Frage sollte daher der Passus hinzugefügt werden: "And why now?"

In Anbetracht der umfangreichen europäischen und amerikanischen Schmitt-Rezeption wurde mit "Status Quo und Friede"(S. 290 ff), "Der Bürgerliche Rechtsstaat" (S. 294 ff) sowie "Staatsethik und pluralistischer Staat" (S. 300 ff) auf drei eher unbekannte Artikel zurückgegriffen, die aber gerade aufgrund ihrer Knappheit Schmitts "Frontstellung" zur Weimarer Republik um so deutlicher unterstreichen. In diesem Kontext ist der Unterschied zu Kelsen überdeutlich, wenn Schmitt die politische Kraft einer Demokratie daran misst, inwieweit sie in der Lage ist, das Fremde und Ungleiche fernzuhalten.(S. 299)

Eine besondere Beachtung verdient das Kapitel über Smend.(S. 207 ff) Seine "Integrationslehre" - als eine Facette der zum damaligen Zeitpunkt neuen und modernen "geisteswissenschaftlichen Methode"- führte innerhalb der Weimarer Staatsrechtslehre zu einer starken Polarisierung. Stefan Korioths Bearbeitung in Verbindung mit einem über dreißig Seiten (!) umfassenden Auszug aus "Verfassung und Verfassungsrecht" (S. 213 ff) verdeutlichen die Ursprünge und die Genese von Smends Positionen, nämlich seine Ablehnung sowohl des Rechtspositivismus als auch der "Reinen Rechtslehre" von Kelsen, verbunden mit einer Orientierung an der damaligen aktuellen philosophischen Entwicklung. Der Rückgriff auf die Phänomenologie, die Schöpfung einer "sachlichen", "funktionellen" und "persönlichen" Integration in den Staat, waren von Smend als aktuelle Reaktion auf die defizitäre Funktion der deutschen Legislative gedacht.(S. 215 ff)

Infolgedessen sucht man nach eingehenderen dogmatischen Erläuterungen seiner Lehre vergeblich. Demgegenüber sind seine Hinweise auf das funktionierende Integrationssystem des italienischen Faschismus überdeutlich.(S.218) In diesem Zusammenhang sei der Hinweis erlaubt, dass neben Smends Passage zur "funktionellen Integration" auch seine Einschätzung bezüglich des liberalen Parlamentarismus von Interesse gewesen wäre, dem er nachhaltig die Eigenschaft als Staatsform abgesprochen hatte.5 Smends spätere Selbstkritik (S. 212), wonach die Integrationslehre in ihrem Bemühen um die Ineinssetzung von Norm und Faktum den Eigenarten des Rechts nicht immer entsprach, dürfte daher auch in diesen Zeilen ihren Ursprung haben.

Damit rückt die eingangs gestellte Frage wieder in den Vordergrund: Gehörte die Weimarer Staatsrechtslehre zu den Totengräbern der Republik? Ja und nein. Allerdings kann man sich nach der Lektüre des Buches nicht des Eindrucks erwehren, dass der Weimarer "Methoden- und Richtungsstreit" in seinem apathischen Verharren auf der Suche nach der einzigen richtigen Antwort einen nicht zu unterschätzenden Anteil am Abbau einer Staatsform leistete. Eine deutsche Ausgabe erscheint daher um so wünschenswerter.

Anmerkungen:
1 Informativer Überblick bei: Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 3. Band, Staats- und Verwaltungswissenschaften in Republik und Diktatur 1914-1945, München 1999.
2 Reichsgerichtsurteil in Zivilsachen (RGZ) 111, S. 320 ff (S. 322/323).
3 Brugger, Winfried: Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2. Auflage, München 2001, S. 108 ff.
4 Schlink, Bernhard: "Why Carl Schmitt?", in: Rechtshistorisches Journal 1991, S. 160 ff.
5 Smend, Rudolf: Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Auflage, Berlin 1968, S. 219.

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