M. Andel u.a. (Hrsg.): Propaganda, (Selbst-)Zensur, Sensation

Cover
Titel
Propaganda, (Selbst-)Zensur, Sensation. Grenzen von Presse- und Wissenschaftsfreiheit in Deutschland und Tschechien seit 1871


Herausgeber
Andel, Michal; Brandes, Detlef; Labisch, Alfons
Reihe
Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 27
Erschienen
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
€ 18,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Miroslav Nemec, Lehrstuhl für Germanistik der Jan-Evangelista-Purkyne-Universität in Ústí nad Labem

Der Sammelband mit dem sehr erschöpfenden, aber halbwegs verwickelten Titel bietet eine erwünschte Erholung von den in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft favorisierten Diskursen um die Identitäten, Erinnerungen und Migrationen. Dies bedeutet keinesfalls, dass die Autoren der Beiträge diese meiden würden. Die Mehrheit von ihnen bedient sich aktueller Methodik, um allerdings ein thematisch etwas andersgelagertes Bündel von wissenschaftlichen Fragestellungen zu lösen.

Die hier versammelten Beiträge wurden während einer mittlerweile traditionellen Begegnung von Wissenschaftler/innen zweier Partneruniversitäten – der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der Prager Karlsuniversität1 – im Jahre 2003 vorgetragen. Auch diesmal beschränkten sich die Kontakte nicht nur auf ein Forschungsgebiet. An der Konferenz nahmen neben Historiker/innen und Mediziner/innen auch Germanisten/innen, Sozialwissenschaftler/innen und Juristen/innen teil. Deshalb versprechen die Aufsätze einen vielfältigen Vorrat an methodischen Zugängen, Ansätzen und Themen, welche die nationalen und disziplinären Grenzen sprengen. Den Abwechslungsreichtum steigert zusätzlich die Zeitspanne der publizierten Beiträge, welche von der Bismarckschen Reichsgründung bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts reicht und Anreize zu spannenden Vergleichen bietet.

Die Herausgeber teilen die 16 Beiträge in drei thematische Gruppen ein, wobei die Chronologie Berücksichtigung fand. Im ersten Block „Zensur - Selbstzensur“ sind vier Beiträge versammelt, die die Problematik der Medienbeeinflussung in der Zeit von 1871 bis 1933 behandeln. Alle vier Betrachtungen haben einen gemeinsamen Nenner: die Suche nach und das Entdecken der Zensur bzw. der Selbstzensur in unterschiedlichen politischen Systemen. Wolfgang Mommsen konstatiert zwar, dass das Imperium Bismarcks über keine staatliche Zensur verfügt habe, jedoch sei die damalige Presse keinesfalls frei gewesen. Der Staatsapparat wollte selbstverständlich seine Weltanschauungen propagieren und zugleich konkurrierende oder gar oppositionelle Meinungen unterdrücken. Mommsen führt allerdings auch vor, welche Strategien die unter den staatlichen Eingriffen besonders leidenden Journalisten/innen (Katholiken/innen, Sozialdemokraten/innen und Andersnationale) entwickelten. Sie reichten von der Selbstzensur, einer neugeschaffenen Institution von „sitzenden Redakteuren“, deren einzige Aufgabe es war, die Haftstrafe stellvertretend für die Redaktion abzusitzen, bis zur Gründung stets neuer Presseorgane oder dem Bezug der Presse aus dem benachbarten Ausland. Die staatlichen Propaganda- und Zensurmaßnahmen erwiesen sich daher als wenig erfolgreich, ja manchmal gar kontraproduktiv.

Christoph Cornelißen beschäftigt sich mit der verschärften Zensur und Propaganda in Deutschland während des Ersten Weltkriegs. Dabei kommt auch er zu dem Ergebnis, dass Zensur und Propaganda nur einen „schalen Erfolg“ (S. 45) verzeichnen konnten. Als ein nicht beabsichtigtes (Neben-)Ergebnis der strengen Kriegszensur, welche die militärischen Niederlagen zu verbergen suchte, zeigte sich erst in den Nachkriegsjahren, denn die nicht wahrheitsgetreue Berichterstattung forcierte nach 1918 die Ausbreitung der Dolchstoßlegende in der Öffentlichkeit.

Boris Barth und Sibylle Schönborn setzen sich mit der Selbstzensur auseinander. Schönborn präsentiert, wie sich die Änderung des politischen Klimas auf das Feuilleton in der deutschsprachigen Prager Presse vor dem Ersten Weltkrieg auswirkte und damit der dynamische Prozess der Bildung von kultureller Identität beeinflusst werden konnte. Barth sucht nach der Selbstzensur unter dem Bildungsbürgertum der Weimarer Republik. Er hebt hervor, dass es sich um Selbstzensur nicht nur dann handele, wenn „die Schere im Kopf“ am Werk sei, sondern auch dann, „wenn eine offene Kontroverse über zentrale politische oder gesellschaftliche Fragen innerhalb einer sozialen Gruppe von der Mehrheit grundsätzlich verhindert, verweigert oder bekämpft wird“ (S. 72). Diesen theoretischen Ansatz untermauern beide Referate.

Acht weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Wirkung von Zensur und Propaganda, wobei bevorzugt jene totalitären politischen Systeme als Untersuchungsgegenstände gewählt wurden, welche die Geschichte Mitteleuropas von 1933 bis 1989 beherrschten. Karl-Heinz Reuband präsentiert sehr ausführlich die Ergebnisse seiner Umfrage unter Zeitzeugen der nationalsozialistischen antijüdischen Propaganda. Dabei geht er dem Problem nach, ob besonders die Filmpropaganda unter der deutschen Bevölkerung ihre Früchte getragen hatte. Aus der Fülle relevanter Schlussfolgerungen tritt seine Polemik mit Goldhagens These über den „eliminatorischen Antisemitismus der deutschen Bevölkerung“ hervor. Reuband sieht die nach 1940 verstärkte antijüdische Filmpropaganda im Zeitkontext, denn sie sollte helfen, die breite Öffentlichkeit antisemitisch einzustimmen und sie ideologisch für die seit 1941 verstärkten antijüdischen Exzesse der Shoa „aufzurüsten“.

Detlef Brandes untersucht die tschechische Bevölkerung im Protektorat Böhmen und Mähren, die einer mehrfachen Propaganda ausgesetzt war: der nationalsozialistischen, der alliierten, der sowjetischen als auch der eigenen Flüsterpropaganda, und urteilt, dass die nationalsozialistische antijüdische Propaganda bei den Tschechen keinen Erfolg hätte verzeichnen können. Doch geht Brandes einen Schritt weiter als Reuband und weist darauf hin, dass die tschechischen antijüdischen Klischees der Zwischenkriegszeit durch die Ausschreitungen gegen Juden während der Okkupationszeit nicht geändert werden konnten.

Tim Fauth analysiert anhand der damaligen tschechischen Massenmedien die Folgen der nationalsozialistischen Zensur während der ersten drei Jahre des Protektorats und kommt zum Schluss, dass nicht einmal ein totalitäres Regime und die nationalsozialistische Okkupationsmacht mit ihren drakonischen Maßnahmen imstande waren, das kulturelle Leben der Tschechen vollständig zu beseitigen. Ebenso die Grenzen der Propaganda erörtert Volker Zimmermann, diesmal allerdings anhand der deutsch-tschechoslowakischen Beziehungsgeschichte in der Nachkriegszeit. Auch sein Befund fällt für die „plakative und wenig überzeugende“ (S. 209) Agitation der damaligen Staatsorgane negativ aus. Mehr als diese hätten die zwischenmenschlichen Privatkontakte und eigene im sozialistischen Nachbarland erworbene Erfahrungen geholfen, die durch den II. Weltkrieg und die Aussiedlung und Vertreibung der Sudetendeutschen verschlimmerten Beziehungen der Deutschen und Tschechen in beiden ‚brüderlichen Staaten’ zu verbessern.

Die Auswirkungen der Zensur auf die tschechoslowakische Gesellschaft nach dem II. Weltkrieg untersuchen die vier am Band beteiligten tschechischen Historiker/innen. Die Resultate ihrer Studien sind mit denen der vorigen Beiträge durchaus vereinbar. Nach dem Beitrag von Karel Maly, welcher das Presserecht in den böhmischen Ländern zwischen 1945-1990 skizziert, bietet Milan Drápala viele Parallelen zu den Beiträgen von Boris Barth und Sibylle Schönborn. Die Autozensur der Journalisten/innen in einer Umbruchszeit verhalf dazu, die „limitierte“ Demokratie der Tschechoslowakei in den Jahren 1945-1948 auszuschalten und den Weg zur diesmal kommunistischen Diktatur zu ebnen. Alena Mísková legt Strategien dar, wie man den Säuberungen in den wissenschaftlichen Bibliotheken in der Tschechoslowakei der 1950er-Jahre erfolgreich entweichen konnte. Jirí Pešek präsentiert in seinem Beitrag, dass die Zensur für den kommunistischen Staat eine Herausforderung war, die die Machthaber, wie schon früher die Nationalsozialisten/innen, trotz rücksichtsloser Maßnahmen doch nie in den Griff bekamen.

Den Übergang zum letzten Themenblock: „Herausforderung an die Medizin und ihre öffentliche Wahrnehmung“ vollzieht Petr Svobodny. Er analysiert tschechische und slowakische, medizinische und naturwissenschaftliche Fachzeitschriften der Jahre 1945-1952, um zu beobachten, wie sie der fortschreitenden Ideologisierung nach sowjetischem Muster unterlagen. Alfons Labisch beschäftigt sich mit dem kulturhistorischen Problem, wie einerseits die unbekannten Krankheiten von den Medien dämonisiert wurden, andererseits die zwar alltäglichen aber echten „Killerkrankheiten“ in der Medienwelt nicht reflektiert werden. Die Entfesselung der öffentlichen Hysterie besitze allerdings nach Labisch auch eine positive Seite, denn sie mobilisiere die Gesellschaft für den Kampf gegen die Krankheit. Michal Andel geht in seinem deskriptiven Beitrag auf das Bild des tschechischen Gesundheitswesens in den Medien 1968-1990 ein. Thomas Ruzicka und Mark Berneburg stellen den medialen deutschen Arzt (von Fernsehserien über Boulevardpresse bis zu Ärzte(liebes)romanen) in das Zentrum ihrer Schilderung.

Fragt man nach dem Verbindenden der unterschiedlichen Bandbeiträge, ist sicher die immense Bedeutung zu nennen, welche ‚die vierte Gewalt’ im politischen Diskurs seit 1871 einnimmt, wobei festzuhalten wäre, dass Propaganda als Überzeugungsarbeit für positive Werte kaum oder gar nicht untersucht wird. Zu bemängeln wäre auch, dass die Wechselverhältnisse zwischen der Politik, den Medien und den Fragen der Sittlichkeit und Ethik beiseite gelassen wurden. Eine Tatsache, welche gerade bei den Medizinbezogenen Aufsätzen, die die jüngste Zeitgeschichte behandelten, doch eher erstaunt. Trotz dieser Einwände lädt der Sammelband zu komparativen Studien ein. Darüber hinaus bringen einige Beiträge, vor allem jene, die auf Quellenmaterial beruhen, gewichtige und neue Erkenntnisse zu behandelten historischen Perioden. Schließlich kann aus der Sicht der tschechischen Akademiker/innen nur bedauert werden, dass in einem von Deutschen und Tschechen gemeinsam herausgegeben Sammelband immer noch viele Fehler in der Schreibung tschechischer Namen vorkommen. Ja, ein und derselbe tschechische Name taucht auf einer einzigen Seite (S. 181) in drei verschiedenen Varianten auf. Gleichzeitig muss allerdings auch eine spürbare Zahl von Tipp- und/ oder Rechtschreibfehlern und grammatikalischen Makeln im Deutschen beanstandet werden.

Anmerkung:
1 Vgl. den aus einer früheren Tagung hervorgegangenen Band: Andel, Michal; Bojar, Martin; Brandes, Detlef; Labisch, Alfons; Ruzicka, Thomas; Halling, Thorsten(Hgg.), Mensch und Medizin in totalitären und demokratischen Gesellschaften. Beiträge zu einer tschechisch-deutschen Tagung der Universitäten Prag und Düsseldorf (= Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, Bd. 21), Essen 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension