I. Scheffler (Hrsg.): Literatur im DDR-Hörfunk

Cover
Titel
Literatur im DDR-Hörfunk. Günter Kunert-Bitterfelder Weg-Radio Feature


Herausgeber
Scheffler, Ingrid
Reihe
Jahrbuch Medien und Geschichte
Erschienen
Konstanz 2005: UVK Verlag
Anzahl Seiten
311 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sylvia Klötzer, Institut für Germanistik, Universität Potsdam

Ingrid Schefflers Sammelband zur Literatur im DDR-Hörfunk bietet drei Beiträge: zu einem Autor (Günter Kunert), zu einem ästhetischen Programm (dem Bitterfelder Weg) sowie zu einer Präsentationsform (dem Feature). Diese drei Schwerpunkte sind nicht miteinander verzahnt, weder vertritt Günter Kunert den Bitterfelder Weg, noch wurde die Frage aufgeworfen, ob die Entwicklung des Radio-Features ab 1962 Aspekte des Bitterfelder Weges weiterverfolgte. Das Format dreier nebeneinanderstehender Beiträge, einschließlich ihrer separaten wie individuell strukturierten Literaturverzeichnisse weist auf den Ertrag des Bandes: Er skizziert eine Fülle von Aspekten zum DDR-Hörfunk und nutzt dazu vor allem Quellen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg, welche er ausführlich präsentiert und zu den drei Schwerpunkten systematisiert.

Der Beitrag von Ingrid Pietrzynski – „Im Orkus verschwunden?“ (S. 13-128) – versammelt die frühen Hörfunk-Arbeiten Kunerts aus den Jahren 1953 bis 1962. Er geht auf seine Satiren, Glossen und Parodien ein, die er für das Literaturprogramm und das „Funkkabarett“ lieferte, auf seine Lyrik, die damals gesendet wurde, auf Kunerts Literaturkritik, Krimis, Funkerzählungen und Hörspiele sowie im letzten Abschnitt auf seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten Kurt Schwaen bei Kantaten, Musikballaden und Funkopern. Akribisch verzeichnet Pietrzynski die Beiträge des Autors ab 1953, die zunächst für die zentrale Literaturabteilung des Hörfunks entstanden, danach für die drei Sender „Radio DDR“, „Deutschlandsender“ und „Berliner Rundfunk“. Sie kommentiert dabei häufig auch den Überlieferungsstand der Archivalien und bietet ausführliche Textproben. Die drei Jahre von 1956 und 1958 weist sie mit Blick auf Kunerts Satiren, Glossen und Parodien als die produktivste Hörfunk-Phase des Autors aus. In diese Zeit fallen auch die Gedicht- wie Literatursendungen mit Selbstzeugnissen zu seiner Poetik und Belegen für sein pädagogisches Interesse: den Hörern Lyrik nahezubringen (S. 49ff.). Ingrid Pietrzynski eröffnet gelegentlich Bezüge, die über den (DDR-)Hörfunk hinausgehen und auf entscheidende Zusammenhänge weisen. So erinnert sie im Abschnitt zu Kunerts Kriminalhörspielen an die (konkurrierende) RIAS-Krimifolge „Es geschah in Berlin“; ähnliches hätte sich beim Unternehmen „Radio-Kabarett“, für das Kunert arbeitete, angeboten, das den RIAS-„Insulanern“ Paroli bieten sollte. Ingrid Pietrzynskis Fokus konzentriert sich jedoch auf den DDR-Hörfunk und dessen Überlieferungen. In diesem Rahmen liefert sie zu den frühen Arbeiten Kunerts im Hörfunk ein vielschichtiges und genaues Bild, etwa zu dessen Erprobung ästhetischer Gestaltungsvarianten mit seinen Hörspielen oder zu der auf Kürze orientierten Syntax, die mit dem Medium Hörfunk sehr gut kompatibel war.

Ingrid Schefflers Studie gilt dem Bitterfelder Weg („Direktive Kulturpolitik und literarische Praxis im DDR-Hörfunk“, S. 139-248). Der Beitrag richtet sich auf die Jahre 1959 bis 1964, auch er kommentiert präzise die Quellenlage und wertet eine Reihe von Dokumenten des Deutschen Rundfunkarchivs aus. Ingrid Scheffler entfaltet ihr zentrales Thema, indem sie zunächst dessen Verankerungen rekapituliert: erstens die (politische) Geschichte des Bitterfelder Weges (vor allem unter Bezug auf Wolfgang Emmerich), zweitens spezifische Sendebedingungen und Sendepraxis von Literatur im DDR-Hörfunk im Ost-West-Kontext. Dabei weist sie unter anderem auf die Bedeutung von Kontrollinstanzen hin, eingeschlossen das Ministerium für Staatssicherheit, und im Zusammenhang ihres Themas ausdrücklich auch darauf, dass die Literatur des Bitterfelder Weges im eigentlichen Sinne keiner Literaturkritik unterworfen war, sondern vielmehr propagiert wurde. Auch differenziert die Autorin zwischen einzelnen Sendern, wenn sie auf Nuancierungen zwischen „Radio DDR“ und „Deutschland-Sender“ verweist.

In diesen Bezügen konzentriert sich die Arbeit dann im Hauptteil auf die Belletristik des Bitterfelder Weges im Hörfunk, auf deren Themen und Formen. Nicht unerwartet lautet das zentrale Thema „Literatur und Ökonomie“ (S. 174ff.); unter Bezug auf Günther Rüther bietet die Autorin für die von der ersten Bitterfelder Konferenz „postulierten Symbiose von Politik und Kunst“ (S. 174) eine Reihe von Sendebeispielen, in denen die Rolle von Literatur bei der Lösung ökonomischer Aufgaben behauptet wurde. So machte der Hörfunk mit zahlreichen „Zirkeln schreibender Arbeiter“ bekannt, berichtete in Beiträgen über das (bereits 1955 gegründete) „Literaturinstitut Johannes R. Becher“, welches „schreibende Arbeiter“ ausbildete und Schriftsteller für das Schreiben über die Arbeitswelt schulte (S. 178). Besonders genau geht Ingrid Scheffler auf literaturprogrammatische Sendungen zum Bitterfelder Weg ein und macht auch hier auf die umfangreichen Archivbestände zur Konzeption und Funktion des Gegenwartshörspiels aufmerksam (S. 183). Zum Bitterfelder Weg gehört auch das Genre der Brigadetagebücher (S. 212ff.). In diesem Zusammenhang bietet die Autorin ein Fallbeispiel zum „Bitterfelder Tagebuch“ des Hörfunkautors Gerhard Stübe, das im Mai 1959 entstand, und unveröffentlichtes Manuskript blieb. Es bietet einen exemplarischen Beleg dafür, „wie individuelle Wahrnehmung und offizielle Rundfunkarbeit kontradiktorisch verlaufen konnten“ (S. 238).

In den gesendeten Beiträgen, so arbeitet Ingrid Scheffler heraus, spiegelt sich die propagandistische Funktion der Berichte über den Bitterfelder Weg ebenso wie sich Belege für Arbeiterliteratur finden lassen. Auffällig war die Dichotomie einerseits sprachlich dürftiger, affirmativer Texte aus der Feder der Laien, andererseits sprachlich anspruchsvollerer Beiträge von Berufsautoren, in denen ein differenzierteres Bild der DDR-Gesellschaft aufschien.

Die beiden Beiträge zur Literatur im engeren Sinne werden ergänzt durch Patrick Conleys Arbeit zum „Radio-Feature und seinen Themen“ (S. 249–310). Im großen Zeitraum von 1964 bis 1989 skizziert Conley die „thematische Spannweite“ dieser Form im Rundfunk seit der Gründung der „Feature-Abteilung“ 1964, die der Hauptabteilung Funkdramatik unterstand. Der Sinn der neuen Abteilung Feature lag darin, dass der Anteil an „Alltags- und aktuellen Themen“ erhöht werden sollte. Sie produzierte bis 1989 schließlich 740 Features und 114 Reportagen (S. 250). Nach einer Begriffsdifferenzierung zwischen Feature und Hörspiel stellt der Autor das weite Feld kursorisch vor; im Zentrum stehen eine Auswahl von Kernthemen, die Features boten, vom „Berufsleben“ zu „Freizeit und Alltag“ bis zu „Ländern, Landschaften und Städten“. Patrick Conley fächert vor allem das thematische Spektrum auf und systematisiert das Archiv-Material zum Radio-Feature. Inhaltlich kommt er zu dem Fazit, dass es drei Schwerpunkte gab: die Selbstdarstellung der Arbeiterklasse, die Kritik am kapitalistischen System und die Geschichtsdarstellungen.

Der Schwerpunkt und Gewinn des vorliegenden Sammelbandes liegt darin, dass er das Feld Hörfunk (weiter) nutzbar macht, indem er eine Vielzahl von Dokumenten des Deutschen Rundfunkarchivs Potsdam-Babelsberg erschließt und systematisiert. Sichtbar wird das große Warenlager, aber ebenso die Attraktivität der Bestände, von denen einige ans Tageslicht gebracht werden. Damit öffnet er künftigen Forschungsunternehmen den Zugang zum Medium Hörfunk und lädt vor allem zu medienvergleichenden Arbeiten ein.

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