M. Krzoska u.a. (Hgg.): Beruf und Berufung

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Titel
Beruf und Berufung. Geschichtswissenschaft und Nationsbildung in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Krzoska, Markus; Maner, Hans-Christian
Reihe
Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas 4
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
321 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Müller, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Dem Zusammenhang zwischen der eigenen Profession und Prozessen der Nationsbildung – sei es indem Historiker nationale Meistererzählungen lieferten oder als Politikberater bzw. Politiker selbst aktiv eingriffen – nachzugehen ist ein ebenso spannendes wie nötiges Unterfangen. Die verstärkte Auseinandersetzung mit dieser Rolle der Historiografie und der Historiker, wie sie in den letzten Jahren in der deutschen Historiografie zu verzeichnen war, scheint nun auch deutsche Osteuropahistoriker/innen zu ähnlich angelegten Studien inspiriert zu haben.1 Dies ist umso notwendiger, als in zahlreichen Historiografien Ostmittel- und Südosteuropas im Zuge der neuen Nachfrage nach nationaler Legitimation nach 1989 im Themenfeld Geschichtswissenschaft und Nationsbildung wieder (oder immer noch) eine patriotisch-panegyrische Betrachtungsweise vorherrscht.

Den beiden Herausgebern, Martin Krzoska und Hans-Christian Maner, gebührt Lob, dass sie Autorinnen und Autor/innen für einen Band gewinnen konnten, der zusammengenommen elf Länder aus allen Teilregionen Osteuropas sowie ein jüdisches Thema behandelt. Insgesamt setzt sich der Band zum Ziel, „die Zusammenhänge zwischen den Publikationen der Historiker und ihrer Breitenwirksamkeit in der Gesellschaft näher zu betrachten, also die Verbindung zwischen der Werkproduktion und den Verbreitungsstrategien, der politischen Instrumentalisierung und letztlich zwischen den Folgen für das kollektive Gedächtnis der Nationen zu untersuchen“(S. 9). Krzoska und Maner haben gut daran getan, einerseits das Erkenntnisinteresse so anspruchsvoll zu formulieren, andererseits aber die oben genannten Zusammenhänge nur „näher betrachten“ zu wollen. Denn in der Tat können Aufsätze von 20 bis 30 Seiten Länge nicht gleichzeitig eine Werkexegese eines/er Historikers/in, die Rezeption des Werkes in Raum und Zeit sowie dessen Bedeutung für das kollektive Gedächtnis der Nation analysieren.

Um Kohärenz des Gesamtbandes und Vergleichbarkeit der beschriebenen Phänomene bemüht, haben alle Beiträge, die Werk und Wirkung einzelner Historiker/innen betrachten, ein gleiches Aufbauschema: Der prosopografischen Einordnung des/er Historikers/in folgen ein Werküberblick und Ausführungen über dessen Beitrag zur Nationsbildung. Diese Gruppe besteht aus fünf Aufsätzen zu Griechenland, Serbien, Rumänien, Weißrussland und Polen.

Ioannis Zelepos betrachtet mit Konstantinos Paparrigopoulos den „Vater der neugriechischen Geschichtsschreibung“ (S. 191-215). Diese Bezeichnung scheint aufgrund seines Geschichtskonzeptes durchaus angemessen zu sein. Dieses hatte er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im mehrfach erschienenen Hauptwerk „Geschichte der griechischen Nation von der ältesten Zeit bis heute“ entwickelt. Es ist in Griechenland bis zum heutigen Tag bewusstseinsprägend. Die Existenz der griechischen Nation wird darin als überhistorisches, transzendentes Wesen als gegeben vorausgesetzt und in Phasen des Glücks und des Unglücks periodisiert wobei er den jeweiligen Generationen des Griechentums eine historische Mission zuschrieb. Unter dem Eindruck des Krimkrieges auf der politisch-militärischen Ebene und geprägt durch ein romantisches Geschichtskonzept, definierte er als Mission der zeitgenössischen Generation die Erfüllung der „Megali Idea“, also eines Prozesses, der mit „dem Ausgang des griechischen Volkes aus der osmanischen Knechtschaft“ begonnen hatte und in der Errichtung eines griechischen Königreiches münden sollte, von dem wiederum „die zukünftige Zivilisierung des Orients ihren Ausgangspunkt nehmen sollte“ (S. 207).

Eine für die rumänische Historiografie zentrale Historikerpersönlichkeit – Nicolae Iorga – beschreibt Hans-Christian Maner (S. 239-263). Die prosopografische Einordnung Iorgas mündet bei Maner – und dies ist für „den Nationalhistoriker“ Rumäniens ein besonderes Desideratum – in dessen methodologischen Verankerung im Umfeld des Leipziger Historikers Karl Lamprecht. Maner führt diese Betrachtung für die polnischen und ungarischen Historiker Waclaw Sobieski und Bálint Hóman fort, um zu zeigen, dass der Lamprechtsche Ansatz der Kultur- und Universalgeschichte bei seinen direkten oder indirekten Schülern in Osteuropa eine nationale Verengung erfuhr. Sowohl im Blick auf das Kulturelle als auch auf das Universelle sah Iorga die Möglichkeit, den Beitrag Rumäniens zur Weltgeschichte stärker herauszustreichen. Dieser bestand seiner Meinung nach darin, als legitimer Erbe von Byzanz das kulturelle Zentrum des orthodoxen Christentums, zugleich aber durch seine Affinität zu Westeuropa der Vermittler dieser Zivilisation in Südosteuropa zu sein.

Die bereits bei Maner thematisierte historiografische Beziehungsgeschichte zwischen einigen deutschsprachigen Universitäten wie Leipzig, Berlin oder Wien und ostmittel- und südosteuropäischen Historikern wird auch von Konrad Clewing und Edvin Pezo in ihrem Aufsatz über den serbischen Anthropogeografen und Historiker Jovan Cvijic aufgegriffen (S. 265-297). Iorga wie Cvijic verbrachten ihre wissenschaftlich formativen Jahre in Leipzig respektive Wien und rüsteten sich dort nicht nur mit den modernsten Methoden aus, sondern auch mit nationalpolitischen Vorbildern. Im Falle Cvijics war es der Wiener Geograf Albrecht Penck, der seine Methoden im Bereich der für die serbisch/jugoslawische Nationsbildung so wichtigen Migrations- und Herkunftsforschung formte. Aufgrund großer wissenschaftsorganisatorischer Leistungen, Netzwerkbildung im In- und Ausland sowie äußerst fleißiger Publikationstätigkeit in vielen Sprachen brachte es Cvijic zu internationaler Anerkennung. Seinem Vaterland diente er sowohl nach den Balkankriegen als auch nach dem Ersten Weltkrieg als geachteter Experte über die ethnischen Siedlungsverhältnisse auf dem Balkan. Methodologisch wird er von den Autoren als Vertreter der damals innovativen „Volksgeschichte“ charakterisiert, da er Erkenntnisse aus Namens-, Siedlungs- und Migrationsforschung zur Erklärung historischer Gegebenheiten verwandte; und zwar in dem Sinne, dass der politisch handelnden Elite je nach Bedarf ein möglichst expansiv definierter Begriff des serbischen Siedlungsgebietes und Volkszugehörigkeit zur Verfügung stand.

Als Kontrast zu den drei genannten Erfolgsstorys politischer Relevanz, ja direkter Verwertbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse können die Aufsätze von Rainer Lindner über den weißrussischen Historiker Mitrafan Dounar-Zapolski (S. 299-318) und von Markus Krzoska über den Lemberger Rechtshistoriker Oswald Balzer (S. 217-238) gelesen werden. Im Falle Dounar-Zapolskis ergibt sich der Kontrast durch den bis heute vergleichsweise erfolglos gebliebenen Versuch, eine eigenständige weißrussische Identität durch eine nationale Geschichtsschreibung zu stiften. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begannen Anstrengungen, die Grundlagen eines weißrussischen Staatswesens auf die Tradition einer spätmittelalterlichen Staatlichkeit sowie frühneuzeitlicher demokratischer Institutionen und Tendenzen, die sie sowohl vom fremden „polnisch-katholischen Joch“ als auch von der „russischen Leibeigenschaftsordnung“ (S. 308) unterschieden, zu erforschen. Aber trotz korenizacija (Verwurzelung) war die Geschichte der weißrussischen Geschichtsschreibung in der Sowjetunion Stalins die Geschichte ihrer Liquidierung, wie Lindner pointiert schreibt.

Als partielle Ausnahme vom Nexus Geschichtswissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert und nationalem Engagement beschreibt Krzoska den Polen Oswald Balzer, da er sich vom „nationalistischen Bazillus“ (S. 220) nicht habe anstecken lassen, nur gelegentlich mittels Stellungnahmen und Rechtsgutachten in national umstrittenen Problemen eingegriffen und im Übrigen für das Prinzip der „organischen Arbeit“ plädiert habe. Bei dieser schrittweisen Modernisierung der polnischen Gesellschaft habe er dem Engagement des Bildungsbürgertums im Zusammenhang zwischen Wissenschaft und sozialem Leben eine besondere Rolle eingeräumt.

Oliver Jens Schmitt und Ulf Brunnbauer widmen sich der albanischen (S. 143-166) und makedonischen (S. 167-190) Geschichtsschreibung seit 1944/45. In beiden Fällen kann vom Beginn einer eigenständigen Historiografie gesprochen werden, die ganz im Dienste des Aufbaus des Sozialismus stand. Dass es sich dabei aber in der Hauptsache um einen marxistisch verbrämten Nationalismus handelte, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, welch großes Augenmerk dem in der Regel ethnisch konnotierten „Anderen“ oder welche große Rolle autoritären Politiker/innen und autoritativen Historiker/innen in der jeweiligen nationalen Meistererzählung zugeschrieben wurde. Brunnbauer und Schmidt verweisen auf die Wirksamkeit solcher Interpretationsmuster bis auf den heutigen Tag, die sich in methodologischem wie institutionellem Traditionalismus niederschlägt.

Jörg Hackmann legt den Schwerpunkt seiner Ausführungen über den Zusammenhang zwischen Historiografie und Nation in Estland auf den Aspekt des/der Historikers/in als unmittelbar in die Politik eingreifende Person, oder als Produzent/in historischer Sinndeutungen (S. 125-142). Er spannt den Bogen von Hans Kruus, der insbesondere in der Zwischenkriegszeit tätig war, bis zu Mart Laar, dem zweimaligen estnischen Ministerpräsidenten (1992-1994, 1999-2002) und kommt dabei – trotz des herausgehobenen Amtes des Historikers Laar – zum Ergebnis, dass in Estland „weniger das konkrete politische Engagement oder eine ausgeprägte Vergangenheitspolitik“ (S. 141) entscheidend gewesen seien, sondern eher die Produktion und Verbreitung von Meistererzählungen seitens professioneller Historiker/innen und historischer Publizist/innen.

Sándor Oze und Norbert Spannenberger (S. 19-39) fokussieren ihren Beitrag auf die Genese und Bedeutung des propugnaculum oder antemurale Christianitatis-Argumentes in der ungarischen Historiografie und Politik seit dem Spätmittelalter. Insbesondere nach dem Vertrag von Trianon (1920) kam es zu einer radikalen Wiederbelebung dieses Argumentes in anti-bolschewistischem und anti-balkanischem Kleide. Wurde bisher in der Hauptsache Ungarn als Schutzmauer der Christenheit vor dem Islam und vor Heiden aus dem Osten in Anschlag gebracht, um dem „blinden Westen“ (S. 34) die europäische Bedeutung des Landes vor Augen zu führen, so war es nun die Bollwerkfunktion gegen den russischen Bolschewismus sowie gegen die orthodox-balkanischen Nachfolgestaaten. Der bereits bei Hans-Christian Maner thematisierte Bálint Hóman sowie Gyula Szekfu gaben von 1928-1934 eine fünfbändige Meistererzählung über die ungarische Geschichte heraus, die diesem Interpretationsschema folgte und Oze und Spannenberger zufolge bis heute wegweisend für die ungarische Historiografie ist.

In Mariana Hausleitners Aufsatz über jüdische Identitäten im 19. und 20. Jahrhundert (S. 99-123) wird Rumänien ein weiteres Mal zum Schauplatz. Sie betrachtet vergleichend jeweils die Anfänge jüdischer kultureller und politischer Organisationen in Siebenbürgen und der Bukowina sowie im rumänischen Altreich und Bessarabien und fragt nach den Identitätsoptionen der wichtigsten Autoren. Hausleitner arbeitet heraus, dass der Hauptgrund für die kaum herzustellende Interessenseinheit der Judenheiten im Großrumänien der Zwischenkriegszeit in den unterschiedlichen Emanzipations-, Integrations- oder Dissimilationserfahrungen zu finden ist, die sie im Habsburger und Russischen Reich sowie in Rumänien machten.

Der umfangreichste Beitrag dieses Sammelbandes stammt von Hans-Lukas Kieser, der sich mit der Herausbildung des nationalistischen Geschichtsdiskurses in der Türkei seit dem späten 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts befasst (S. 59-98). Die Rekonstruktion des jungtürkischen Geschichtsdiskurses – er charakterisiert ihn als Krisenliteratur – bettet Kieser in eine sorgfältige Kontextualisierung ein, erweitert die Betrachtung um eine Analyse der historiografischen Institutionen (Kommissionen, Verbände, Zeitschriften) und rundet das Bild mit einem beziehungsgeschichtlichen Zugriff auf die Personen und Themen der jungtürkischen Historiografie ab. An dieser Stelle Einzelbeispiele zu bringen, würde der Komplexität des Textes nicht gerecht werden.

Wie ein Fremdkörper – im ansonsten bemerkenswert kohärenten Sammelband – dagegen erscheint der Aufsatz von Thomas M. Bohn über den Historismus im russischen Zarenreich (S. 41-57). Nur am Rande und indirekt geht er auf die zentrale Fragestellung des Bandes nach dem Zusammenhang zwischen der Geschichtswissenschaft, der Historiker/innenzunft und der Nationsbildung ein.

Diesem Sammelband sind viele Leser/innen nicht nur unter Osteuropahistoriker/innen zu wünschen, sondern auch unter Kolleg/innen, die in der west- und außereuropäischen Geschichte arbeiten, werden doch Teile der ostmittel- und südosteuropäischen Historiografien vom Nimbus der Exotik befreit und anschlussfähig an den internationalen Stand der Forschung gemacht.

Anmerkung:
1 Ein früher englischer Vorläufer des vorliegenden Bandes: Deletant, Dennis; Hanak, Harry (Hgg.), Historians as Nation-Builders. Central and South-East Europe, London 1988; vgl. Sundhaussen, Holm, Serbische Volksgeschichte. Historiker und Ethnologen im Kampf um Volk und Raum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, in: Volksgeschichte im Europa der Zwischenkriegszeit, Hettling, Manfred (Hg.), Göttingen 2003, S. 301-325.

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