H. Miard-Delacroix u.a. (Hgg.): Wandel und Integration

Cover
Titel
Wandel und Integration. Mutations et intégration. Deutsch-französische Annäherungen der fünfziger Jahre. Les rapprochements franco-allemands dans les années cinquante


Herausgeber
Miard-Delacroix, Hélène; Hudemann, Rainer
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Marie-Benedicte Vincent, Université Paris-1, Frankreich

Das Buch ist die Veröffentlichung von Vorträgen einer deutsch-französischen Tagung, die in Paris im Oktober 2004 anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Pariser Verträge stattfand. Es untersucht die verschiedenen Wege und Aspekte des ‚rapprochement’ zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, die von den Pariser Verträge ausgingen oder begleitet wurden. Das Interessante des Buches liegt in seinem methodischen Ansatz. Es lädt nämlich zu einer Reflexion darüber ein, wie man einen historischen Vergleich von zwei Ländern unternimmt, die in den 1950er-Jahren eine vielfältige Konvergenz erlebten.

Seiner Form nach ist das Buch ein Manifest der deutsch-französischen wissenschaftlichen Kooperation. Es ist ein zweisprachiger Band, in dem die 25 Beiträge jeweils in ihrer Originalsprache (13 auf Französisch, 12 auf Deutsch), mit einer in der anderen Sprache verfassten Zusammenfassung veröffentlicht wurden. Nur die Einleitung von Hélène Miard-Delacroix und Rainer Hudemann ist in beiden Sprachen zu lesen. Wenn die Zweisprachigkeit auch vollkommen zum Thema passt und programmatisch für die Zukunft wirkt, steht jedoch zu befürchten, dass viele französische Historiker/innen außerhalb des kleinen Milieus der „Germanisten“ aufgrund ihrer Unkenntnis der deutschen Sprache keinen vollständigen Zugang zum Buch haben werden (möglicherweise stellt sich dies für Deutschland anders dar).

Der Vergleich beginnt mit einer einleitenden Reflexion über die verschiedenen Begriffe der Konvergenz. Das französische Wort ‚rapprochement’ umfasst nämlich drei Bedeutungen, die drei deutschen Begriffen entsprechen: erstens die bilaterale Regelung juristischer Streitigkeiten zwischen beiden Ländern, zweitens die gezielte politische Annäherung der Regierungen und drittens die immer größere Angleichung der Gesellschaften und Wirtschaften. Das Buch behandelt jeden dieser drei Bereiche. Die Vielfalt der Gesichtspunkte (Diplomatie, Wirtschaft, Militär, europäische Integration, Demografie, Kulturbeziehungen, Massenkultur, Freizeit, Jugend) ermöglicht eine Art „totalen Vergleich“, der weit über das diplomatische Feld hinausgeht. Die Verträge von 1954 werden also in einen thematisch sehr breiten Zusammenhang eingebettet.

Ein besonderes Interesse des deutsch-französischen Vergleichs in diesen Jahren liegt in der Einbeziehung der amerikanischen Komponente. Die methodische Herausforderung besteht dabei darin, ein bilaterales Vergleichsdesign zu entwickeln, welches die gemeinsame transatlantische Konvergenz zu fassen vermag. Georges-Henri Soutou erinnert daran, dass die Pariser Verträge zum primären Ziel die völlige Integration der Bundesrepublik Deutschland in den Westen hatten (am 8. Mai 1955 trat die BRD der NATO bei) und für den Verbleib Frankreichs im atlantischen Lager sorgen sollten. Es ist klar, dass der internationale Systemkonflikt der 1950er-Jahre den Rahmen der deutsch-französischen Kooperation darstellte. Die Wirkung des Kalten Krieges wurde daher von manchen Autoren/innen als Faktor der Konvergenz gesehen, sei es im politischen oder im kulturellen Bereich (Thomas Lindenberger veranschaulicht dies beispielsweise anhand der Entwicklung des Filmwesens). Die Solidarität mit dem Westen schloss aber auch Kompromisse ein, so zum Beispiel eine Bundesrepublik, die angesichts der französischen Dekolonisierung trotz der Anerkennung ihrer Vollberechtigung 1954 nur bedingt ihre politische Unabhängigkeit behaupten konnte (Jean-Paul Cahn).

In diesem Zusammenhang spielen die Begriffe Westernisierung/ Amerikanisierung/ Europäisierung (und die Diskussion darüber) eine große Rolle. Einstimmigkeit herrscht in den Beiträgen des Sammelbandes darüber, diese Konzepte nicht absolut, sondern sektoral zu verwenden. So sieht Andreas Wirsching im Zusammenhang von moderner Massenkultur und demokratisch legitimierter politischer Stabilität ein westliches Modell, das sich in den 1950er-Jahren sowohl in Frankreich als in Deutschland entfaltete. In gleicher Perspektive analysiert Hartmut Kaelble die Wege hin zu einer europäischen Konsumgesellschaft innerhalb eines größeren, von den USA initiierten Prozesses, der überall ähnlich verlief und auf globalen Verflechtungen beruhte. Für ihn stellt sich damit die Frage, welches die europäischen Besonderheiten gegenüber dem amerikanischen Vergleichsmaßstab waren und ob es deutsch-französische Unterschiede in der Durchsetzung dieser Konsumgesellschaft gab. Dieser doppelten Fragestellung wenden sich mehrere andere Beiträge des Buches zu. Innovativ erscheint dabei besonders das Beispiel von Dietmar Hüser zur Rezeption der amerikanischen Populärkultur in Europa, das die Perspektive des Kulturvergleiches mit jener des Kulturtransfers verbindet und einen innereuropäischen Blick in die von transatlantischen Strömen betroffenen Ländern eröffnet. Dieses derzeit wissenschaftliche Neuland könnte in der Zukunft gewinnbringend erforscht werden.

Das methodische Interesse des deutsch-französischen Vergleichs liegt ferner in seiner zeitlichen Komponente. Die Frage der Temporalität wird je nach Thema unterschiedlich behandelt. Dennoch werden die 1950er-Jahre fast immer in größere Zeitabschnitte eingebettet, die die Besonderheit dieser noch unzureichend erforschten Jahre herausarbeiten. Die ‚longue durée’ wird exemplarisch im Beitrag von Michel Hubert über Demografie eingeführt: obwohl der demografische Wandel in Frankreich und Deutschland ausgesprochen unterschiedlich erfolgte (langsam ab dem Ende des 18. Jahrhundert in Frankreich, rasch am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland), herrschte in beiden Ländern ab 1954 eine ähnlich post-transitionnelle Phase, auch wenn jedes Land seine Besonderheiten behielt. Im politischen Bereich erscheint die ‚moyenne durée’ sinnvoll, um die Unterschiede in der politischen Praxis beider Länder nach dem Krieg zu erklären (Stabilität der bundesdeutschen Regierung unter Bundeskanzler Adenauer einerseits, extreme Instabilität der französischen Regierungen andererseits). Demgegenüber erinnert Thomas Raithel an die unterschiedlichen parlamentarischen Erfahrungen der Dritten Republik und der Weimarer Republik, die auf die Beschlüsse der Nachkriegszeit wirkten. Im kulturellen Bereich zeigt Alfred Wahl, dass die Wiederherstellung von sportlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg zwar wegen der in den öffentlichen Meinungen herrschenden Vorurteilen schwierig war, doch rascher (1950) von statten ging als nach dem Ersten Weltkrieg. Auch hier erweist sich der Vergleich mit der Zwischenkriegszeit als erhellend.

Der Bruch mit der gegenseitigen Feindschaft erfolgte durch eine bestimmte Generation, die nicht in den Vorurteilen der vorigen Generation gefangen war und deren Voluntarismus in mehreren Beiträgen betont wird. Neben der Konvergenz der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen beider Länder spielten nämlich die Initiativen privater Organisationen und Akteure eine große Rolle in der Annäherung. Die drei Beiträge von Corinne Defrance, Emmanuelle Picard und Christophe Charle, die diesbezüglich eine Einheit bilden, untersuchen prosopografisch die Vermittler aus der Zivilgesellschaft, die sich für eine bessere Kenntnis des Nachbarlandes engagierten. Ihre vielfältigen Aktionen vor Ort für die Jugend (Austausch, Städtepartnerschaften, Begegnungen) hat zur Bildung eines erweiterten Kulturbegriffs geführt, welcher im Elysée Vertrag von 1963 anerkannt und aufgenommen wurde. Am Beispiel der intellektuellen Transfers zeigt Christophe Charle, dass die wechselseitigen Übersetzungen, Publikationen und Einladungen von Schriftstellern/innen die Gründung neuer und autonomer Netzwerke zur Folge hatte, die den Weg für die offizielle kulturelle Kooperation der 1960er-Jahre bereiteten.

Der vergleichende Ansatz des Buches zeigt sich auch in der Begegnung der unterschiedlichen Lesarten deutscher und französischer Spezialisten/innen. An mehreren Stellen vermag das Buch eine Debatte zwischen den Autoren/innen widerzuspiegeln, zum Beispiel in der Wirtschaftsgeschichte. Während Bernard Poloni behautet, dass man für beide Länder in den 1950er-Jahren von einem wirtschaftlichen Wachstum sprechen kann, obwohl ihre Wirtschaftsordnungen radikal unterschiedlich waren (französischer Staatsinterventionismus gegen deutsche liberale Auffassungen einerseits, Stimulation des Wachstums durch die Inflation in Frankreich gegen strikte Stabilität der deutschen Mark in der Bundesrepublik andererseits), nuanciert Christoph Buchheim diese Unterschiede und zeigt, dass auch in der Bundesrepublik zahlreiche Unternehmen unter öffentlicher Kontrolle standen. Seiner Meinung nach waren beide Volkswirtschaften ganz überwiegend durch privates Unternehmertum und Marksteuerung gekennzeichnet. Der Begriff „rapprochement“ sei also für den wirtschaftlichen Bereich nicht geeignet, da beide Länder von Anfang an wesentlich ähnlicher waren als zunächst angenommen.

Im Ganzen ist der vorliegende Sammelband ein ausgesprochen stimulierendes Buch. Kritik kann allerdings an der Heterogenität der Beiträge geübt werden. Sie unterscheiden sich stark in ihrer Qualität (ein paar sorgen für ‚déjà vu’-Erlebnisse) und nicht alle Autoren/innen haben ihren Vortrag in eine schriftliche, mit einem wissenschaftlichen Fußnotenapparat ergänzte Form gebracht. Manche Aufsätze hingegen bringen neue Forschungsergebnisse an den Tag und öffnen sogar neue Forschungsfelder für die Zukunft, die hauptsächlich im Bereich der Ökonomie und der Kulturgeschichte liegen werden.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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