Cover
Titel
'Böse Lust'. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik


Autor(en)
Siebenpfeiffer, Hania
Reihe
Literatur - Kultur - Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. Große Reihe 38
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
409 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Uhl, KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora

Die Germanistin Hania Siebenpfeiffer stellt in ihrer Dissertation über „Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik” wichtige Fragen. Zum einen fördert ihre Studie den interdisziplinären Austausch zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft, zum anderen betreibt Siebenpfeiffer Geschlechterforschung im eigentlichen Sinne, d.h. sie nimmt Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit vergleichend in den Blick. Siebenpfeiffer geht in zwei Teilen vor. Dabei kann der erste Teil, der die strafrechtlichen, kriminologischen und literarischen Diskurse in Bezug auf Gewaltverbrechen untersucht, als eine längere ideengeschichtliche Einleitung gelten. Einzelne literarische, wissenschaftliche oder publizistische Behandlungen von fiktiven oder realen Giftmord-, Kindstötungs- und Lustmordfällen bespricht Siebenpfeiffer dann im zweiten umfangreicheren und motivgeschichtlichen Teil ihrer Arbeit.

Im ersten Teil folgt einer angemessen kurzen Abhandlung der Strafrechtswissenschaft eine intensivere Darstellung der „kriminologischen Diskurse“ (S. 37), von denen Siebenpfeiffer bewusst im Plural spricht, da die Unterschiede zwischen Kriminalbiologie, Kriminalsoziologie und Kriminalpsychologie fundamental gewesen seien. Dabei macht sie eine „deutliche Konkurrenz“ aus, die zwischen den kriminologischen Schulen geherrscht habe. Es sei um konkurrierende Deutungen darüber gegangen, das Phänomen des Verbrechens auf den Körper, die Psyche oder die Umwelt zurückzuführen. Siebenpfeiffer vernachlässigt bei dieser These freilich jüngere Forschungspositionen, die gezeigt haben, dass die Kriminologie des frühen 20. Jahrhunderts gerade zu einer multifaktoriellen Ätiologie der Kriminalität vorstieß.1 Dabei bildete – auch in der Kriminalsoziologie – die Anlage des Delinquenten stets den unbestreitbaren Ausgangspunkt; Umweltfaktoren konnten in diesem Modell nur das auslösende Moment bilden. Diese „grundsätzliche diskursive Dominanz des Endogenen über das Exogene“ (S. 57) hält auch Siebenpfeiffer für einen wesentlichen Bestandteil der Kriminologie in der Weimarer Republik.

Die relativ langen Unterkapitel über Krieg und Kriminalität sowie über Psychoanalyse und Kriminalität deuten darauf hin, dass es Siebenpfeiffer nicht in erster Linie um eine weitere kurzgefasste Geschichte der Kriminologie geht. In der Fokussierung auf literarische und publizistische Diskurse erscheint diese Entscheidung folgerichtig, da die Psychoanalyse ebenso wie die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges für Literatur und Publizistik von großer Bedeutung waren, während sie in der Geschichte der Kriminologie eine untergeordnete Rolle spielen. Im folgenden Abschnitt betont Siebenpfeiffer vor allem die besondere Funktion literarischer Texte. Weil sie nicht unter dem Diktat der Anwendbarkeit und Eindeutigkeit standen, sei es ihnen im Gegensatz zur Wissenschaft möglich gewesen, konkurrierende Darstellungen von Kriminalität hervorzubringen.

Der zweite Teil der Arbeit widmet sich realen und fiktiven Fallgeschichten dreier Verbrechensformen, bei deren Erklärung dem Geschlecht der Täter/innen jeweils eine zentrale Rolle zukam. Während die Kindstötung ein privilegiertes Delikt darstellte, das per definitionem ausschließlich von Müttern direkt nach einer Geburt begangen werden konnte, wurde der Lustmord als ein von Natur aus rein männliches Verbrechen angesehen, der Giftmord dagegen effeminiert. Der Eindruck dieser Kapitel ist erneut zwiespältig: Überzeugende Interpretationen literarischer Texte gehen oft mit Fehldeutungen von Entwicklungen innerhalb der Kriminologie einher.

So sieht Siebenpfeiffer zu Recht den Begriff der „Sexualverbrecherin“ als paradigmatisch für das kriminologische Bild von der kriminellen Frau an, obwohl der Terminus explizit nur bei dem populärwissenschaftlichen Autor Erich Wulffen eine zentrale Rolle spielte. Fehl geht Siebenpfeiffer allerdings in der Annahme, Verbrecherinnen seien folglich generell als „abnorm“ eingestuft worden. Vielmehr beruhte die kriminologische Annahme, Frauen seien in ihren kriminellen Taten von ihrer Sexualität bestimmt, auf einem sehr weiten Begriff von Sexualität. Auch „normale“ Frauen waren in dieser Denkstruktur geschlechtsspezifischen Körpervorgängen wie der Menstruation unterworfen und konnten, ohne eine Abweichung von der Geschlechternorm zu verkörpern, zu Verbrechen regelrecht getrieben werden.

Den größten Teil des Kapitels über Giftmörderinnen nimmt die publizistische und literarische Verarbeitung des Falles Klein/Nebbe ein, der 1923 in Berlin für Aufsehen sorgte. Dieser Fall zweier Frauen, die eine sexuelle Beziehung zueinander unterhielten und gemeinsam die Vergiftung von Kleins Ehemann planten, diente Alfred Döblin zum Vorbild seiner 1924 erschienen Erzählung „Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord“. Sehr differenziert gibt Siebenpfeiffer die Presseberichterstattung über den „Sensationsprozess“ (S. 103) wieder und schließt zu Recht auf eine darin zum Ausdruck kommende „Modernisierung“ des Bildes von Giftmörderinnen (S. 112), die nun nicht mehr heroisiert, sondern vielmehr pathologisiert worden seien. Siebenpfeiffer entgeht allerdings, dass sich diese Verschiebung in der Kriminalanthropologie bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts angedeutet hatte.

Siebenpfeiffer sieht Döblins literarische Fallgeschichte von narrativer Skepsis getragen. Der Autor habe versucht, vermeintliche Gewissheiten zu relativieren und so „die Tat tendenziell aus der Monokausalität des Giftmordstereotyps“ (S. 126) herauszulösen. Die Bandbreite der literarischen Texte illustriert Siebenpfeiffer des Weiteren an Ernst Weiss’ „Der Fall Vukobrankovics“ und Claire Golls „Jedes Opfer tötet seinen Mörder“. Dabei verharre Weiss weitgehend im Affirmativen, während sich Goll „zwischen Dekonstruktion und Affirmation des Klischees“ (S. 144) bewege. Sehr wichtig ist der kurze Hinweis Siebenpfeiffers darauf, dass männliche Giftmörder in Presse und Wissenschaft oft verweiblicht dargestellt wurden, weil der Giftmord als eine grundsätzlich weibliche Tat galt.

Das Delikt der Kindstötung handelt Siebenpfeiffer vergleichsweise knapp ab. Die umfangreichen Forschungen zur Kindstötung in der Aufklärung und im 19. Jahrhundert fließen kaum in diese Studie ein – wohl ein Grund, weshalb Siebenpfeiffer auch die Kriminologie des frühen 20. Jahrhunderts fehlinterpretiert. Gerichtsreportagen der 1920er-Jahre seien ihrer Einschätzung nach als „gegendiskursiv“ zu bewerten, weil sie „das von den kriminologischen Diskursen errichtete und im juristischen Diskurs fortgeschriebene Bild der kindstötenden Frau als einer gegen das ‚Naturgebot’ der Mütterlichkeit verstoßenden Täterin“ unterliefen (S. 167). Ganz im Gegensatz zu dieser Einschätzung herrschte jedoch in der Kriminologie in der Nachfolge der Gerichtsmedizin des 19. Jahrhunderts in erster Linie ein großes – von sexistischen Annahmen getragenes – Verständnis für Kindsmörderinnen vor: Die Pathologisierung der Frau als beim Geburtsvorgang nur eingeschränkt zurechnungsfähig ermöglichte die Einforderung von Milde im Verbrechensfall. Unverständlich bleibt zudem, warum Siebenpfeiffer in diesem Kapitel, entgegen der rechtlichen Definition der Kindstötung, den Mord an einem fremden sechsjährigen Kind durch eine Frau behandelt. Deutlich stringenter ist dagegen erneut die Interpretation der literarischen Texte. Plausibel kann Siebenpfeiffer darlegen, dass in Bertolt Brechts Ballade „Von der Kindsmörderin Marie Farrar“ die Täterin weder als Subjekt noch als Objekt fungiert, sondern als diskursiv erzeugter Gegenstand sichtbar wird. Die „indirekte Erzählhaltung“ Brechts habe einer „Demaskierung und Entlarvung von Zuschreibungsprozessen“ gedient (S. 180f.).

In dem umfangreichen Abschlusskapitel widmet sich Siebenpfeiffer dem explizit durch die Männlichkeit der Täter erklärten „Lustmord“. Siebenpfeiffer kann zeigen, dass der Typus dieser Tat gegen 1880 geprägt wurde. Besonders einflussreich war der Psychiater Richard von Krafft-Ebing, der einen seit 1808 als „Raubmord“ behandelten spektakulären Fall erstmals als „Lustmord“ umdeutete. In der Typenbildung wurde dem Lustmörder generell eine dreifache sexuelle Abweichung zugeschrieben: Der Mord sei eine sexuelle Ersatzhandlung, der Täter homosexuell oder päderastisch veranlagt und weise zudem einen übersteigerten Sexualtrieb auf. Siebenpfeiffer stellt die These auf, dass der Lustmörder in allen Darstellungen der Weimarer Republik als Doppelgestalt mit bürgerlicher Oberfläche und gewalttätigem Innenleben beschrieben wurde. In Kunst und Literatur sei männliche Gewalt systematisch zum Lustmord ästhetisiert worden, während die Möglichkeit eines weiblichen Lustmordes gleichzeitig ausgeschlossen wurde.

Im Zentrum dieses Kapitels steht der Fall Fritz Haarmann. Dessen zwanzigfacher Mord an jungen Männern in Hannover zog in den 1920er-Jahren eingehende publizistische, wissenschaftliche und literarische Beschäftigungen mit dem Fall nach sich, die Siebenpfeiffer gründlich analysiert. Die Presseberichterstattung habe den kriminologischen Befund, in Harrmann eine „Verkörperung des Monströsen“ (S. 234) zu sehen, größtenteils affirmativ wiedergegeben. In Theodor Lessings „Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs” von 1925 habe der Mörder dagegen als eine positive „Gegenfigur zum Bürger“ (S. 245) fungiert. Die zutreffende Deutung Siebenpfeiffers, Lessing habe Haarmann als einen „seiner selbst nicht mächtigen und an sich selbst leidenden“ (S. 247) Täter skizziert, übersieht freilich einmal mehr Parallelen zur Kriminologie, die sich längst von dem Konzept des freien Willens verabschiedet hatte und Verbrecher/innen weniger als schuldig denn als Gefahr für die Gesellschaft (und für sich selbst) betrachtete.

Hier liegt wohl generell die Schwäche der Studie: Während Siebenpfeiffers inhärente Analysen literarischer Texte größtenteils zu überzeugen vermögen, neigt sie andererseits dazu, die Zirkulation des Wissens zwischen Literatur und Kriminologie deutlich zu unterschätzen. In einigen Fällen nutzt Siebenpfeiffer eine oberflächliche Einschätzung der Kriminologie dazu, literarischen Texten vermeintlich subversive Eigenschaften zuzubilligen. So werden in der Arbeit zwar fundierte Lesarten einzelner literarischer Texte geboten, eine Synthese mit einem zusätzlichen analytischen Nutzen bleibt aber aus.

Anmerkungen:
1 Vgl. Wetzell, Richard F., Inventing the Criminal. A History of German Criminology, 1880-1945, Chapel Hill 2000; Uhl, Karsten, Das „verbrecherische Weib“. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800-1945, Münster 2003; Müller, Christian, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform 1871-1933, Göttingen 2004; Galassi, Silviana, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Stuttgart 2004; jüngst erschien: Baumann, Imanuel, Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980, Göttingen 2006.

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