R.-U. Kunze: Nation und Nationalismus

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Titel
Nation und Nationalismus.


Autor(en)
Kunze, Rolf-Ulrich
Reihe
Kontroversen um die Geschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
126 S.
Preis
16,50 €
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Hedwig Herold-Schmidt, Institut für Volkskunde und Kulturgeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die mit dem Bologna-Prozess verbundene Einführung neuer Studiengänge bringt allenthalben eine Flut einführender und grundlegender Studienliteratur hervor, so auch in den Geschichtswissenschaften. Das hier anzuzeigende Werk erschien in den „Kontroversen um die Geschichte“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt 1, die nach dem Vorwort der Reihenherausgeber darauf abzielen, „Studierenden die Vorbereitung auf Lehrveranstaltungen und Examenskandidaten ihre Prüfungsvorbereitung zu erleichtern“, indem der Schwerpunkt auf die „ausgewogene Diskussion wichtiger Forschungsprobleme“ (S. VII) gelegt werden soll, die nicht nur die Geschichtsschreibung zum Thema „Nation und Nationalismus“ sondern auch die „zeitgenössische öffentliche Diskussion“ (S. VII) beeinflusst haben. Letzteres - dies sei hier bereits vorweggenommen - kann nur zum Teil eingelöst werden, da die Einbettung der verschiedenen Interpretationen und Theorien in den jeweiligen zeithistorischen Entstehungskontext gerade für den angesprochenen Leserkreis doch sehr knapp ausfällt und zudem einiges an Vorwissen voraussetzt.

Aber der Reihe nach: Der 126 Seiten starke Band ist in drei Hauptkapitel gegliedert. Dem Hauptteil „Forschungsprobleme der Nationalismusgeschichte“ (Kap. III, S. 27-111) wird eine Einleitung vorangestellt, die zunächst Gegenstand und Leitfragen der Nationalismusforschung (z. B. Konstruktionsmechanismen und ihre Trägerschichten, Entstehungsbedingungen von Nationalismus, Funktionen von Nationalstaat und Nationalismus, Selbst- und Fremdbilder, Nationalismustypologien) umreißt; der heute allgemein akzeptierte, konstruktivistische Ansatz zur Entstehung nationaler Identitäten wird bereits zu Beginn der Darlegungen als Ausgangspunkt der Arbeit benannt.2

Kap. II bietet einen Überblick zu Nation, Nationalstaat und Nationalismus und liefert zunächst eine Begründung der Themenauswahl. Um „ausgewählte Schlüsselfragen und zentrale Interpretationskontroversen des historisch-politischen Themenfeldes Nation und Nationalismus problemorientiert zu präsentieren“ (S. 7), geht Kunze vom Begriff der Nation und der mittlerweile klassischen Frage Ernest Renans aus : „Qu’est-ce que c’est une nation? (1882). An den genannten Schlüsselwerken Renans und Benedict Andersons orientiert sich dann auch sein Versuch, nationalismusgeschichtliche Forschung in drei Phasen einzuteilen: vor 1882, 1882-1983, seit 1983, wobei der angestrebte „didaktische Zweck“ dieser auch forschungsgeschichtlich fraglichen Periodisierung (S. 13) nicht recht überzeugen kann. In diesem Teil werden bereits einige Nationalismustheorien bzw. -typologien knapp angesprochen, die dann in Kap. III eine ausführliche Behandlung erfahren. Es folgt ein Abschnitt über „Definitionsansätze zu Nation, Nationalstaat und Nationalismus“, der einschlägige Überlegungen etwa von Karl Lamprecht, Max Weber, Hans Kohn, Eugen Lemberg, Peter Alter, Eric J. Hobsbawn und Ernest Gellner vorstellt, bevor abschließend zentrale Probleme der Nationalismusforschung zusammenfassend und übersichtlich aufgelistet werden.

Kap. III widmet sich in einem ersten Teil zunächst „Nationalismustypologien und ihre(r) historische(n) Anwendung“, bevor sich Kunze mit „Nationalismustheorien und ihre(r) historische(n) Anwendung“ befasst. Indem er die Entstehung verschiedener Typologien chronologisch verfolgt und überzeugend erläutert, kann er nicht zuletzt belegen, wie viel neuere „kulturalistisch“ orientierte „Nationalismenanalysen“- im allgemeinen eher typologienfeindlich ausgerichtet - (S. 27) älterem Gedankengut im einzelnen verdanken. Konkret behandelt er u.a. die Typologie Theodor Schieders, Miroslav Hrochs Überlegungen zum nationalen „Erwachen“ kleinerer europäischer Nationen sowie verschiedene Unterscheidungsversuche zwischen „gutem/ schlechtem“ bzw. „progressivem/ nicht progressivem“ Nationalismus. Auch nimmt er zur Forschungsdiskussion über die Abgrenzung eines vormodernen von einem modernen Nationalismus Stellung, wie sie jüngst Dieter Langewiesche ausführlich reflektiert hat.

Der folgende Abschnitt thematisiert an „neun Beispielen nationalismusgeschichtlicher Theoriebildung“ u. a. den Nationalismus als anpassungsfähige Metaideologie, die „andere Ideologien wie Liberalismus und Kapitalismus überformt“ (S. 48). Die Auswahl geschah dabei v.a. unter der Prämisse der Nützlichkeit für den Vergleich zwischen unterschiedlichen Nationalismusformen. So entfaltet der Autor verschiedene Interpretationsansätze, beginnend mit dem sozialpsychologischen Eugen Lembergs und gefolgt vom kommunikationstheoretischen Ansatz K. W. Deutschs, dem organologischen Klaus von Sees, dem säkularisierungsgeschichtlichen H.- U. Wehlers („Nationalismus als Religion“) - und die kontroversen Debatten darüber, u.a. die Kritik an der weitgehenden Ausblendung der Religion und einem „zu naive(n) Gebrauch des Konstruktionsparadigmas“ (S. 60) - , sowie aus soziologischer Sicht den ideologiegeschichtlichen Ansatz Edward Shils. Breiter Raum wird dem anthropologischen Ansatz Gellners gewidmet 3 , in dem der kulturellen Homogenität besondere Bedeutung insofern zukommt, als nach diesem der Nationalismus davon ausgeht, „dass soziale Bindung von kultureller Übereinstimmung abhängt“ (S. 64). Die Nationalismusanfälligkeit einer Gesellschaft ist demnach umso größer, je industrieller und moderner diese ist. Der konstruktivistische Ansatz hat - wie bereits erwähnt - die neuere Forschung nachhaltig geprägt; dementsprechend werden die Konstruktionsmechanismen der Erfindung der Nation ausführlich dargelegt. Aus der Auseinandersetzung mit Andersons „imagined communities“ ging eine Reihe von Studien hervor, die das Konstruktionsparadigma teils kritisch hinterfragen und/ oder sozialgeschichtlich unterfüttern bzw. rückbinden. Abschließend wird die Nützlichkeit einiger Elemente der institutionenökonomischen Wirtschaftstheorie (Pfadabhängigkeit, initial costs, learning effects, coordination effects) diskutiert.

Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich anhand des Vergleichs Deutschlands und der Niederlande mit dem Zusammenhang von Modernisierung, nation building und Nationalismus, wobei die Möglichkeiten des modernisierungstheoretischen Zugangs kritisch ausgelotet werden. Eine Reihe von Studien hat sich zudem mit dem sog. integralen Nationalismus und seinen Entstehungsbedingungen beschäftigt, denen Kunze ein weiteres Unterkapitel widmet, bevor er sich - leider nur am Rande - dem auch weltweit sehr virulenten Verhältnis Region und Nation, von Regionalismus bzw. Separatismus und Nationalismus zuwendet. Hervorzuheben, weil in diesem Kontext nur selten ausführlich thematisiert - sind die Ausführungen zum sog. juristischen nation building am Beispiel des Deutschen Kaiserreichs: „juristische ‚Erfindung der Nation’ durch Rechtsetzung und juristische Institutionengründung“ (S. 98).

Die abschließende Skizzierung aktueller Forschungstrends spiegelt zum einen die unterschiedlichen Positionen sozial- bzw. kulturgeschichtlich orientierter Nationalismusforschung wider; zum anderen wird der Vergleich, insbesondere der nationalismusgeschichtliche Ost-West-Vergleich wie ihn Ulrike von Hirschhausen und Jörg Leonhard angeregt haben 4, als zukünftig lohnendes Forschungsfeld ausführlich propagiert und formuliert.

Obwohl - wie die Reihenherausgeber anmerken (S. VII) - „eine vergleichende Perspektive zu anderen Regionen und Staaten Europas“ angestrebt wird und Kunze selbst auf die Bedeutung der „universalgeschichtlichen Perspektive“ und den „latenten Eurozentrismus“ verweist (S. 1) ist die Studie insgesamt doch sehr „deutsch“ geraten. Das einzige „außerdeutsche“ Fallbeispiel, auf das näher eingegangen wird - die Niederlande - wirft zwar ein interessantes Schlaglicht auf die gemeinhin wenig bekannten Spezifika dieses 'nation-building' -Prozesses, macht jedoch die nur knappen Verweise auf weitere europäische Entwicklungen umso deutlicher. Zudem ist grundsätzlich zu fragen, ob eine so akzentuierte Begrenzung auf Europa heutzutage noch gerechtfertigt und sinnvoll ist. So wird der Komplex Entkolonisierung und Nationalismus im 20. Jahrhundert nur sehr knapp gestreift. Kunze konzentriert sich hier auf die 1978 formulierten Thesen Dietmar Rothermunds 5 bzw. zum universalhistorischen Vergleich von Nationalismen auf die jüngeren Ausführungen von Immanuel Geiss.6 Man mag von der postkolonialen Theorie halten, was man will, doch ist unbestreitbar, dass sie in den letzten Jahren - u.a. mit dem Konzept der Hybridität oder dem der failed states - auch die Debatten über nation building und Nationalismus stark beeinflusst hat, auf die jedoch in diesem Buch leider kaum Bezug genommen wird.

Anmerkungen:
1 Der Verlag behandelt verschiedene Aspekte der Thematik in zwei unterschiedlichen Reihen, eine didaktisch nicht unbedingt überzeugende Entscheidung. Vgl. Weichlein, Siegfried, Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa, Darmstadt 2006, in der Reihe „Geschichte kompakt“.
2 Vgl. Anderson, Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, 2. Auflage, Frankfurt/ Main 2005 (Original 1983).
3 Gellner, Ernest, Nations and Nationalism, Oxford 1983.
4 von Hirschhausen, Ulrike; Leonhard, Jörg(Hgg.), Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001.
5 Rothermund, Dietmar, Nationalismus und sozialer Wandel in der Dritten Welt. Zwölf Thesen, in: Dann, Otto(Hgg.), Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978, S. 187-208.
6 Geiss, Immanuel, Imperien und Nationen. Zur universalhistorischen Topographie von Macht und Herrschaft, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 28 (1999), S. 57-91. Vgl. neuerdings: Geiss, Immanuel, Nation und Nationalismen. Versuche über ein Weltproblem 1962-2006, Bremen 2007.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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