Cover
Titel
Charlemagne. Empire and Society


Herausgeber
Story, Joanna
Erschienen
Anzahl Seiten
330
Preis
£16.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Salten, Bonn

Karl der Große ist gefragt. Politiker haben in ihm immer wieder eine Symbolfigur für die Frage der europäischen Einigung gesehen 1, aber auch die mediävistische Forschung hat sich seiner in den letzten Jahren verstärkt angenommen, wobei ihr Beitrag exemplarisch an den vielen Biografien des Frankenherrschers zu erkennen ist, die im Umfeld des 1200. Jahrestages des Treffens Karls mit Papst Leo III. in Paderborn 1999 sowie seiner Kaiserkrönung 2000 erschienen sind.2 In diesen Rahmen ist auch das hier zu besprechende Buch einzuordnen, das Produkt einer Tagung, die im Februar 2000 in Oxford stattfand. Die hier versammelten Aufsätze bieten einen Querschnitt aus nahezu allen Bereichen der historischen Forschung zur Karolingerzeit.

Als erstes behandelt Paul Fouracre die Frage, wie die karolingerzeitlichen Quellen die Absetzung der merowingischen Könige rechtfertigten (S. 5-21). Da die Legitimität der Merowinger nicht in Frage gestellt werden konnte, war es notwendig, moralische Gründe heranzuziehen. In ihrer Auseinandersetzung mit älteren Quellen, wie etwa dem Liber Historiae Francorum, etablierten daher vor allem die Annales Mettenses priores das Bild Pippins des Mittleren als Retter der Franken vor den dahinsiechenden Merowingern. Er, nicht Karl Martell, musste als idealer Herrscher dargestellt werden, da Karls kompromissloses Vorgehen gegen seine Widersacher nur seine Porträtierung als militärischer Anführer erlaubte.

Janet L. Nelson versucht dem Menschen Karl näher zu kommen (S. 22-37). Anhand dreier Stationen aus Karls Leben, alle in verschiedenen Quellen beschrieben, stellt sie die Faktoren dar, die identitätsbildend auf Karl einwirkten, wobei nicht nur Karl als Individuum zur Sprache kommt, sondern auch als in ihr familiäres Umfeld eingebundene Person. Neben der Betrachtung des lebenden Karl ist auch die Charakterisierung der Größe des fränkischen Herrschers nach seinem Tode durch Einhard von Interesse. Dieses ist der zentrale Punkt der Überlegungen von David Ganz (S. 38-51). Einhard etablierte mit der Biografie eines zeitgenössischen Herrschers ein neues Genre. Er errichtete mit Hilfe antiker Vorbilder ein Denkmal für seinen verehrten Kaiser und konnte dabei in seiner Eigenschaft als Augenzeuge Authentizität für sich beanspruchen. Gerade die bereitwillige und rasche Annahme des Titels Karolus magnus in der Geschichtsschreibung zeigt, wie sehr Einhards Charakterisierungen bis heute unser Karlsbild prägen.

Roger Collins beschäftigt sich mit der Darstellung der Kaiserkrönung in den Lorscher Annalen (S. 52-70). Das Ergebnis seiner quellenkritischen Darstellungen, in der er manche Ansicht der älteren Forschung zu diesem Annalenwerk in Frage stellt, liegt darin, dass nach dem Eintrag für das Jahr 798 ein Bruch vorliegt. Den Einträgen für die Jahre 799 bis 801 liegt wohl die Tendenz zugrunde, dem Leser darzustellen, dass die Kaiserkrönung ohne vorherige Planung erfolgt sei. Die 800 in Rom versammelten geistlichen und weltlichen Großen hätten erst dort beschlossen, Karl die Kaiserwürde anzutragen. Collins sieht im Bericht der Lorscher Annalen den frühesten Legitmationsversuch dieser Krönung vor dem Hintergrund der unsicheren Position Leos III. in Rom und der Auffassung der Vakanz des Kaisertitels aufgrund des femineum imperium in Byzanz. Als sich die Lage nach 801 änderte, entstand schließlich die andere Version der Geschehnisse, die uns die Reichsannalen überliefern.

Die Frage der Regierungsführung Karls behandelt Matthew Innes (S. 71-89). Sein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den lokalen Eliten und den Bemühungen Karls, über den Erlass von Kapitularien die Aussendung von missi, die Vergabe von Ämtern sowie die Ableistung von Treueid und Militärdienst engere Beziehungen zu diesen zu knüpfen. Die notwendigen Verbindungen zwischen dem Hof und den lokalen Großen machen jedoch auch deutlich, dass der Adel vor allem als Partner Karls zu betrachten ist, wie Stuart Airlie ausführt (S. 90-102). Über materielle Zuwendungen konnten sich die Karolinger die Loyalität des Adels sichern, was indes nicht die unterschiedliche Parteinahme Adliger bei innerkarolingischen Auseinandersetzungen verhinderte.

Die Rolle der Kirche wird im Beitrag von Mayke de Jong (S. 103-135) thematisiert. Das Frankenreich selbst wurde als ecclesia angesehen, eine Auffassung, die ihren Ausdruck in dem Bemühen fand, neben der politischen auch eine religiöse Einheit herbeizuführen. De Jongs Ausführungen werden ergänzt durch die etwas zu knapp geratenen biografischen Skizzen dreier „Men of God“ Karls durch Donald A. Bullough (S. 136-150), nämlich Alkuins, Hildebalds von Köln und Arns von Salzburg.3

Zwei Aufsätze behandeln die „karolingische Renaissance“. Rosamond McKitterick (S. 151-166) betrachtet die kulturelle Erneuerung vornehmlich vor dem Hintergrund der Schriftlichkeit und der Verpflichtung Karls, die Schirmherrschaft über diese Bemühungen zu übernehmen, um seinem Ideal der correctio und emendatio gerecht zu werden. Der Erneuerung Roms widmet sich Neil Christie (S. 167-182) und stellt die Bedeutung Karls durch ideelle und materielle Unterstützung der päpstlichen Baumaßnahmen sowie durch die Befreiung des Papsttums von äußerer Bedrohung heraus. Gleichzeitig betont Christie jedoch, dass die Wurzeln dieser kulturellen Wiederbelebung bereits im Langobardenreich lagen.

Die Außenbeziehungen des Frankenreiches beleuchten Timothy Reuter (S. 183-194) und Joanna Story (S. 195-210). Reuters Aufmerksamkeit gilt den Völkerschaften östlich des Rheins. Normannen, Awaren und Slawen waren weder Ziel einer zentral koordinierten Missionierung noch einer auf Dauer angelegten Eroberung. Anders lag der Fall jedoch bei den germanischen gentes. Deren „Frankisierung“ mittels der Übertragung fränkischer Institutionen folgte letztlich jedoch nur Strategien, die bereits vor der Herrschaft Karls bestanden. Karls Leistung war nur die Vollendung der Inkorporation. Die vielfältigen Beziehungen Karls zu den Angelsachsen betrachtet Story. Reger Austausch von Briefen, gegenseitiges Gebetsgedenken, die Anwesenheit angelsächsischer Exilanten am fränkischen Hof, aber auch autoritative Elemente seitens der Franken prägten das Verhältnis. Leider geht Story in ihrer Untersuchung nicht wesentlich über bereits 2003 veröffentlichte Ergebnisse zu diesem Thema hinaus.4

Die neuesten Forschungsergebnisse zur karolingischen Münzprägung werden von Simon Coupland präsentiert (S. 211-229). Die Münzen, deren Gebrauch weitläufiger war, als man es lange angenommen hatte, zeugten nicht nur vom Anspruch Karls die wirtschaftliche Entwicklung seines Reiches zu kontrollieren, auch vom Standpunkt der Verbreitung seiner politischen Ideologie aus hatten sie einen nicht zu unterschätzenden Wert.

Den zeitlichen Rahmen Karls des Großen verlassen die Studien zur ländlichen Siedlung von Christopher Loveluck (S. 230-258) und zur städtischen Entwicklung von Frans Verhaeghe (S. 259-287), weswegen die Bezugnahme auf Karl in ihren Titeln etwas unglücklich gewählt erscheint. Archäologische Beobachtungen in Bezug auf die Siedlungsformen und auf produktive und konsumtive Tätigkeiten ihrer Bewohner stehen im Mittelpunkt dieser Untersuchungen. Loveluck betrachtet hierbei nicht nur die bäuerlichen Siedlungen, sondern auch befestigte Stätten und Königspfalzen sowie Klöster. Soziale Unterschiede lassen sich insbesondere am Nachweis von Steinbauten, Luxusgütern und einem bestimmten Konsumverhalten feststellen, wobei allerdings oft sehr unterschiedliche Siedlungstypen recht nah beieinander lagen. Was die städtischen Siedlungen der Karolingerzeit angeht, so muss man mit Verhaeghe das 9. Jahrhundert als einen Zeitraum der wachsenden Bedeutung der Städte, ob sie nun römischen Ursprungs oder Neugründungen waren, im Sinne von regionalen Zentren ansehen. Nachfolgende Forschungen müssen demnach die frühmittelalterliche Stadt nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Handelstätigkeit, sondern auch als Produktions- und Konsumzentrum, als Teil eines Netzwerkes mit ihrer ländlichen Umgebung untersuchen.

Einige Aspekte zur Geschichte Karls vermisst man schmerzlich, wie die Beziehungen Karls zu den islamischen Reichen oder zu Byzanz, was die Herausgeberin selbst einräumt (S. 4). Man muss jedoch insgesamt konstatieren, dass dieses Buch nicht nur eine kompetente Zusammenfassung des neuesten Forschungsstandes zu den behandelten Themen bietet, sondern auch neue Überlegungen und Anregungen, was ihm sicherlich für die weitergehende Forschungen zu Karl dem Großen Bedeutung verleihen wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Rede von Valéry Giscard d’Estaing anlässlich der Verleihung des Karlspreises im Jahre 2003 (www.karlspreis.de).
2 Collins, Roger, Charlemagne, London 1998; Becher, Matthias, Karl der Große, München 1999; Favier, Jean, Charlemagne, Paris 1999; Barbero, Alessandro, Carlo Magno. Un padre dell’Europa, Rom 2000; Hägermann, Dieter, Karl der Große. Herrscher des Abendlandes. Biographie, München 2000.
3 Zu Alkuin ist kürzlich posthum erschienen: Bullough, Donald A., Alcuin. Achievement and Reputation, Leiden 2004.
4 Story, Joanna, Carolingian Connections. England and Francia c. 750-870, Aldershot 2003.

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