Titel
Fritz Hartnagel. Der Freund von Sophie Scholl


Autor(en)
Vinke, Herrmann
Erschienen
Zürich 2005: Arche Verlag
Anzahl Seiten
266 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Braun, Heidelberg

Hartnagel? Vielleicht muss sogar der eine oder andere historisch Interessierte passen, wenn er diesen Namen hört; in gängigen Nachschlagewerken sucht man ihn meist vergebens. Literatur über die Weiße Rose beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell und Willi Graf. Personen aus deren Umfeld bleiben oft wenig belichtet. Der Journalist Hermann Vinke, der bereits mit „Das kurze Leben der Sophie Scholl“ bewiesen hat, dass er ein einfühlsamer Kenner der Weißen Rose ist 1, hat sich nun mit diesem Menschen aus dem Umfeld der Weißen Rose beschäftigt. Das Ergebnis ist eine 272 Seiten umfassende, gut geschriebene Biografie, die erstmals dem „Freund von Sophie Scholl“ ein Gesicht gibt und seine Wandlung hin zum Gegner des Nationalsozialismus zeigen will. Erleichtert haben ihm diese Annäherung zum einen mehrere Gespräche – mit Fritz Hartnagel selbst und dessen Frau Elisabeth, einer der beiden Schwestern Sophie Scholls; zum anderen der umfangreiche, lange verschollen geglaubte Briefwechsel Hartnagels mit Sophie Scholl (S. 265f.). Die gängige Literatur zur Weißen Rose und zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus überhaupt spielt dagegen kaum eine Rolle, wie auch das nur knapp eine Seite umfassende Literaturverzeichnis deutlich macht.

Wichtiger sind dem Autor die Menschen: Sophie Scholl: Vier Jahre jünger als Hartnagel, aber bald nach ihrem ersten Kennenlernen im Winter 1937 entschiedene Gegnerin des NS-Regimes. Er, Hartnagel, dessen Eltern aus kleinen Verhältnissen stammten, sieht in einer militärischen Laufbahn die Chance voran zu kommen. Dass er damit eine Verbrecherherrschaft stützt, nimmt er zunächst hin. „Soviel ich Dich kenne“, so schrieb Sophie Scholl ihm im August 1940, „bist Du ja auch nicht so sehr für einen Krieg, und doch tust Du die ganze Zeit nichts anderes, als Menschen für den Krieg aus[zu]bilden. Du wirst doch nicht glauben, daß es die Aufgabe der Wehrmacht ist, den Menschen eine wahrhafte, bescheidene, aufrechte Haltung beizubringen.“ (S. 59)

Sätze wie diese bewirken bei Hartnagel massive Minderwertigkeitsgefühle und treiben ihn letztlich in die Verzweiflung: „Hier, das bin ich. Nimm es oder wirf es weg, wenn es Dir nicht gefällt“, schreibt er ihr drei Monate später (S. 68). Die Beziehung droht zu scheitern. „Außer der Tatsache, dass sie sich überhaupt noch schrieben, gab es wenig Verbindendes mehr. Aber keiner von beiden“, so analysiert Vinke, „besaß die Kraft, die Trennung auch wirklich zu vollziehen“ (S. 70). Dass sich in eben dieser Situation auch die Mutter Sophie Scholls, Magdalene Scholl, brieflich an den Freund der Tochter wendet, ist Vinke – zu Recht – mehr als nur eine Randbemerkung wert. Auch der Vater, Robert Scholl, wird mehrfach mit kurzen Schilderungen treffend charakterisiert.

Dennoch handelt es sich keineswegs um eine weitere Biografie Sophie Scholls – auch wenn der Leser durch den Briefwechsel des Paars viel darüber erfährt, mit welcher Intensität diese junge Frau auf Ihre Mitmenschen gewirkt hat. „[…] dafür“, so bekennt Fritz Hartnagel 1944 in einem Brief an Elisabeth Scholl, „bin ich Ihr so dankbar. […] ich schäme mich nicht, daß es ein junges Mädchen war, das mich fast vollkommen gewendet hat“ (S. 8).

An vielen Stellen wird jedoch auch deutlich, dass Hartnagel kein passiv „Gewendeter“ ist. Viele Einsichten resultieren aus seiner eigenen aufmerksamen und mitfühlenden Beobachtung des Kriegsgeschehens und der damit verbundenen Grausamkeiten. Dabei geht das Leiden auch an ihm nicht vorbei. In einem Brief vom 23. Dezember 1942 schreibt der mittlerweile zum Hauptmann Beförderte („Nun bin ich wieder eine Stufe in ein System gedrängt, dem ich am liebsten den Rücken kehren möchte“) (S. 116) aus Stalingrad vom „schlimmsten Angriff seines Lebens“, und – im gleichen Brief – „Auch der Tod verliert allmählich seinen Schrecken“ (S. 132f.). Doch es sollte noch schlimmer kommen: „Seit acht Tagen sind wir bei 30 Grad Kälte im Freien, ohne eine Möglichkeit, uns aufzuwärmen. Mein Bataillon ist vollkommen aufgerieben. Ich selbst habe beide Hände erfroren“, schreibt Hartnagel am 17. Januar 1943 (S. 135). Fünf Tage später gehört er zu den Letzten, die aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen werden können.

„Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir!“2 Dies sind die ersten Zeilen des 6. Flugblatts der Weißen Rose, das Hans und Sophie Scholl am 18. Februar 1943 in den Lichthof der Münchner Universität hinab werfen; auch die Kriegserfahrungen Fritz Hartnagels, der einen Monat zuvor aus Stalingrad entkommen konnte, haben darin ihren Niederschlag gefunden. Die Hinrichtung Sophie Scholls, von der Hartnagel, wie selbst die Eltern Sophie Scholls, erst Tage später erfährt, ist ein Schicksalsschlag, der ihn noch fester an die Familie der so sehr geliebten Freundin bindet. Dort, bei der Trauerfamilie Scholl, findet Hartnagel auch Halt und Trost: „Lieber Herr Hartnagel, verwerfen Sie jetzt nicht das Leben, das Gott Ihnen neu geschenkt hat“, schreibt ihm Magdalene Scholl vor dem Hintergrund seiner Rettung aus Stalingrad (S. 156). Seine Verbundenheit mit den trauernden Eltern und Geschwistern, die er auch materiell unterstützt, dokumentiert er mit einem Trauerband an seiner Offiziersuniform nach außen. Die gegen ihn gerichteten Aktivitäten von Gestapo und Parteistellen ignoriert er mutig.

Hermann Vinke hat mit dieser Biografie feinfühlig einen Zugang zu einem Menschen eröffnet, für den der Partner gleichzeitig zum Prüfstein der eigenen Wahrhaftigkeit und Konsequenz wurde. Dieser einmal gesetzte ethische Anspruch blieb für Fritz Hartnagel im weiteren Verlauf seines Lebens, als SPD-Mitglied, Richter und Atomwaffengegner, ohne Sophie Scholl – dafür an der Seite ihrer Schwester Elisabeth – unverrückbar. Insofern war es Zeit für eine solche Biografie über den „Freund von Sophie Scholl“; der keineswegs nur deren „Anhängsel“ war. Seine Biografie ist jedoch ohne die gemeinsamen Jahre mit Sophie Scholl und die Anstöße, die er in dieser Zeit empfangen hat, kaum vorstellbar. Dies wird auch die im Herbst erscheinende Edition des Briefwechsels der Beiden deutlich machen. Zu wünschen bleibt, dass auf diesen Wegen gerade auch jugendliche Leser angesprochen werden können.

Anmerkungen:
1 Vinke, Hermann, Das kurze Leben der Sophie Scholl. Mit einem Interview von Ilse Aichinger, Ravensburg 1980.
2 Die Flugblätter finden sich auch unter: www.weisse-rose-stiftung.de.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension