Cover
Titel
Die Nation im Schulbuch. Zwischen Überhöhung und Verdrängung


Autor(en)
Furrer, Markus
Reihe
Studien zur internationalen Schulbuchforschung 115
Erschienen
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Árpád von Klimo, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die 2004 in Freiburg im Üechtland eingereichte Habilitationsschrift Furrers weist in dreifacher Hinsicht über das engere Thema, die Darstellung der Schweizer Nationalgeschichte in Schulbüchern der Nachkriegszeit, hinaus: Erstens analysiert der Autor, wie Geschichtsbilder zu Meistererzählungen komponiert werden, eine Methode, die sich auf jegliches andere nationale Beispiel anwenden ließe. Zweitens untersucht er die aus den angewandten Konstruktionsprinzipien resultierenden Probleme, wie etwa die „Falle“ einer eindimensional-teleologischen, national-liberalen Konzeption, die mehr Probleme und Widersprüche erzeugt, als man von einem so stromlinienförmigen Plot erwarten könnte. Drittens stellt er die Konjunkturen und Wendungen in der schulischen Geschichtsdarstellung in den Kontext der Schweizer und europäischen Geschichte seit 1945. Das Buch gliedert sich in zwei große Teile: einen ersten, der etwa ein Drittel des Gesamtumfangs umfasst und das Thema historiografisch, theoretisch, methodisch und didaktisch in den breiteren Kontext der Nationalismusforschung einbettet und einen zweiten, empirischen Teil, der sich der Analyse der einzelnen Elemente der nationalgeschichtlichen Konstruktion in Schweizer Schulbüchern und den sich daraus ergebenden Problemen widmet. Kurze Schlussbetrachtungen, die das Thema in den weiteren Kontext der paradoxen Entwicklung eines Bedeutungsverlustes des Nationalstaats bei gleichzeitiger Bedeutungszunahme nationaler Strömungen der letzten Jahrzehnte stellen und Ideen zu einer offeneren Darstellung der Nationalgeschichte entwickeln, runden die Studie ab.

Das zentrale theoretische Konzept des Buches bilden Geschichtsbewusstsein erzeugende nationale „Geschichtsbilder“ (S. 19ff., 91ff.), die mit Hilfe einer deskriptiv-hermeneutischen Analyse von Schulbuchtexten herausgearbeitet und untersucht werden. Solche durch Texte und bildliche Darstellungen erzeugte und imaginierte „Bilder“ werden nach Rüsen als „narrative Typen“ aufgefasst, die in kanonisierter Form reproduziert werden und nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Wirkung entfalten können. Ihnen liegt eine Konstruktion zugrunde, welche die Bilder chronologisch verknüpft und zugleich interpretiert. An dieser Stelle hätte der Leser allerdings gerne noch mehr über das Verhältnis der textlichen „Bilder“ zu den gerade in „illustrierten“ Geschichtsdarstellungen so zentralen bildlichen Darstellungen erfahren. Im empirischen Hauptteil des Buches gelingt es Furrer, die fast schon korsetthaft enge, sich seit dem späten 19. Jahrhundert abzeichnende, und sich großteils bis in die 1970er-Jahre durchgehaltene Konzeption herauszuarbeiten, nach der der historische Verlauf quasi „naturhaft“ auf den Nationalstaat Schweiz hinausläuft. Dieses erzählerische Korsett wurde gerade in Krisenzeiten, wie während der Weltkriege, nach dem Landesstreik 1918 und im Kalten Krieg immer wieder aktualisiert, aber in seinen Grundzügen beibehalten. So wird plausibel, wie fest gefügt sowohl für die Produzenten als auch die Konsumenten der Schulgeschichte die Erzählung eines seit spätestens 1291 eingeschworenen Männerbundes wirken musste, der aufgrund „natürlicher“ Gegebenheiten (Alpen) und seiner „wehrhaften“ und moralisch überlegenen Art (Mythos des Schweizer „Samariters“, Rotes Kreuz) auch die größten Bedrohungen des 19. Jahrhunderts (französische Intervention 1798, innere Uneinigkeit, „ausländische“ Einflussnahme, Sonderbundkrieg 1847) und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts quasi unbeschadet überdauern konnte.

Bildlich dargestellt ist diese nationale Meistererzählung etwa auf den Buchumschlägen eines 1968 erschienenen zweibändigen Werks („Der Weg der Schweiz“). Dieses zieren zwei farbig skizzierte Köpfe eines „mittelalterlichen“ Kriegers (rot gemalt, mit weißem Kreuz auf dem gehörten Helm) und eines „modernen“ Soldaten mit Kampfhelm und Gasmaske (in Tarnfarben). Die beiden Umschlagbilder, die Markus Furrer auch für den Umschlag seines Buches wählte, zeigen, wie die traditionelle national-liberale Meistererzählung auch in moderner Form bildlich umgesetzt werden konnte. Der Autor behandelt in 10 Kapiteln den Kanon von sich ablösenden und konzeptionell miteinander verknüpften „Geschichtsbildern“. Zwar wurden einzelne, mit dem Kanon zusammenhängende Erfindungen (Wilhelm Tell), Vereinfachungen oder harmonisierte Darstellungen von inneren Konflikten (etwa der bis weit ins 20. Jahrhundert nachwirkende Konfessionskonflikt) schon seit ihrer Entstehungszeit im 19. Jahrhundert immer wieder von einzelnen Historikern angezweifelt oder auch widerlegt. Doch beharrten die meisten Schulbuchautoren und die politischen Entscheidungsträger (Schulbuchkommissionen in den einzelnen Kantonen), die sich auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens, zumindest aber auf die veröffentlichte Meinung stützten konnten, auf der bewährten, nicht immer streng wissenschaftlichen Konzeption. In der Darstellung dieser Auseinandersetzungen treffen die Gegensätze zwischen „mythischen“ und „wissenschaftlichen“ Geschichtsbetrachtungen manchmal etwas vereinfacht aufeinander, doch ist das sich dahinter verbergende komplexe Verhältnis zwischen beiden dem Autor durchaus bewusst (S. 240f., 319) Man erfährt auf diese Weise, zumindest indirekt, auch etwas über die marginalisierte Stellung der historischen Zunft in der Eidgenossenschaft, was möglicherweise mit der im Vergleich zum damaligen Deutschland eher zurückhaltenden Bedeutung einer staatlichen Bürokratie und der föderalen und liberalen Gestalt der Schweiz zusammenhing, die keine so dominierende, staatlich geförderte Großhistorie wie etwa Preußen hervorbrachte.

Seit den 1970er-Jahren, besonders aber seit dem Ausbruch nationalistisch verbrämter Kriege auf dem Balkan und im Kaukasus nach 1989 und seit die Globalisierung des Holocaust in Gestalt der Raubgold-Affäre auch die Schweiz erreicht hat, erschienen solche ungebrochen nationalen Darstellungen nicht mehr haltbar. Zudem hatte gerade die Geschlossenheit und Isolierung der „Schweizergeschichte“, ihre übertriebenen Glättungen und Harmonisierungen zu immer deutlicher hervortretenden inneren Widersprüchen (etwa: kann eine protestantisch-liberale Sichtweise für die ganze Nation sprechen?) und offensichtlichen Auslassungen (gab es keine Frauen, Juden, Ausländer in der Schweiz?) geführt. Furrer meint, dass die Schulbuchautoren auf die Erschütterung des altbewährten Geschichtsbildes zunächst, in den 1970er und 1980er-Jahren, mit einer Verdrängung der Nationalgeschichte reagierten und die Geschichte der Schweiz fast gänzlich in der Weltgeschichte aufgehen ließen. Dies sei jedoch keine adäquate Lösung des Problems gewesen. Denn auch wenn der Nationalstaat an Bedeutung verliere, so blieben seine politischen und kulturellen Funktionen bestehen oder würden sogar noch wichtiger werden. Daher plädiert er abschließend für eine offene, kritische historische Darstellung der Schweizer Gesellschaft, die sich im europäischen und globalen Kontext auf einen sich verändernden Nationalstaat bezieht. Nationale Mythen sollen dabei nicht verschwiegen, sondern ihre Funktion und Bedeutung auf einer Metaebene in das didaktische Konzept miteinbezogen werden. Denn ein bloßes Verdrängen dieser tief verwurzelten Bilder in Schulbüchern würde lediglich dazu führen, dass sie im weiten Raum von Geschichtskultur und Geschichtspolitik umso greller und hemmungsloser auftauchen würden. Man denke dabei nur an den Auftritt Blochers Mitte Juli 2005, wo der Réduite-Mythos (Rückzug der Armee in die Berge als Grund für die ausgebliebene Invasion NS-Deutschlands) einer Festung Schweiz beschworen und damit von den eigentlichen internationalen Verflechtungen (und Verfehlungen) der Eidgenossenschaft abgelenkt wurde. Mit „Die Nation im Schulbuch“ liegt eine gut lesbare und über die engere Geschichtsschreibung zur Schweizer Geschichtskultur hinausgehende Untersuchung vor. Denn sie denkt über ein Problem nach, das angesichts von manchmal politisch forcierten und fragwürdigen Europäisierungsprozessen auf alle europäischen Nationalstaaten zukommt: Wie halten wir es in Zukunft mit der Nationalgeschichte?

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension