C. Fröhlich: Wider die Tabuisierung des Ungehorsams

Cover
Titel
Wider die Tabuisierung des Ungehorsams. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen


Autor(en)
Fröhlich, Claudia
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 13
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Burkhardt, Graduiertenkolleg "Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart", Justus-Liebig-Universität Gießen

Prozesse, die nationalsozialistische Verbrechen zum Gegenstand haben, wurden in den letzten Jahren immer häufiger als Untersuchungsobjekte für den (bundesdeutschen) Umgang mit der NS-Vergangenheit herangezogen. Dabei kam vor allem dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main (1963-1965) eine herausragende Stellung zu, der gemeinhin als wichtige Zäsur in der öffentlichen Wahrnehmung des Holocaust gesehen wird.1 Während auf internationaler Ebene der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 wesentlich größere Aufmerksamkeit auf sich zog, gilt das Verfahren in Frankfurt mittlerweile als Prozess, der „wie kaum ein anderes Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte das Selbstverständnis der Bundesrepublik verändert“ habe.2 Das Fritz Bauer Institut, benannt nach dem damaligen Generalstaatsanwalt von Hessen, hat einiges zur detaillierteren Erforschung dieses Prozesses und seiner Rezeptionsgeschichte beigetragen.3 Mit der Person Fritz Bauers selbst hat sich die Forschung dagegen kaum beschäftigt; bisher sind relativ wenige Publikationen über sein Leben und Werk zu verzeichnen.4 Auch Prozesse, die einen weniger spektakulären Charakter aufweisen als die großen „Lehrstücke“, werden weitgehend ignoriert, obwohl deren eingehende Untersuchung oft ebenfalls interessante Facetten der politischen Kultur und des Umgangs mit der Vergangenheit offenlegen könnte.

Claudia Fröhlich möchte in ihrer Dissertation diese beiden Aspekte aufgreifen und verbinden. Ihre Untersuchung hat das Ziel, das politische Denken Fritz Bauers im historischen Kontext der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre nachzuvollziehen. Fröhlich stellt ausdrücklich klar, dass es sich bei ihrer Arbeit „keinesfalls um eine Biographie“ handle (S. 26); die biografische Perspektive bietet aus ihrer Sicht vielmehr eine Zugriffsmöglichkeit für die Rekonstruktion überindividueller Positionen. Als „,Pars pro toto‘“ (S. 19) für die vergangenheitspolitischen Debatten und Kontroversen der Zeit wählt Fröhlich den Widerstandsbegriff: Dadurch lassen sich ihres Erachtens zentrale Fragestellungen und Standpunkte des Umgangs mit dem Nationalsozialismus insgesamt verdeutlichen. Zugleich soll die Arbeit „einen Beitrag zur Analyse der Etablierungsmodi der demokratischen Ordnung nach 1945“ leisten (S. 18).

Die Untersuchung ist in drei Schritte gegliedert: Im ersten Kapitel wird der Widerstandsbegriff Fritz Bauers am Beispiel des Prozesses gegen Otto Ernst Remer von 1952 herausgearbeitet. Die Anklage wandte sich gegen eine Verunglimpfung der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944, die Remer in einer Wahlkampfrede als Landesverräter bezeichnet hatte. Der Prozess wurde auch in der Öffentlichkeit als Präzedenzfall betrachtet, der die Frage nach dem Widerstandsrecht im Nationalsozialismus klären sollte. Im zweiten Kapitel wird dieser Widerstandsbegriff mit Hilfe verschiedener Schriften und Reden Bauers konkretisiert und kontextualisiert; hier steht die Kontroverse mit Hermann Weinkauff im Mittelpunkt. Die Auseinandersetzung Bauers mit dem Präsidenten des Bundesgerichtshofs drehte sich um die subjektive Dimension des Widerstandsrechts: Sind nur der Staat und die Regierung zum Widerstand gegen ein Unrechtsregime berechtigt, oder gilt dies auch für das Volk? Fröhlich begründet die „antagonistischen Auffassungen“ (S. 21) der beiden Widersacher mit einem grundsätzlich konträren Demokratieverständnis: „Naturrecht versus Pluralismus“ (S. 187ff.).

Im dritten Kapitel wird der diskutierte Widerstandsbegriff auf zwei Prozesse wegen NS-„Euthanasie“ angewandt, die Bauer seit Ende der 1950er-Jahre anstrebte: zum einen das Ermittlungsverfahren gegen Werner Heyde, Arzt und ehemaliger Leiter der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“, zum anderen die Untersuchung gegen die noch lebenden ehemaligen Generalstaatsanwälte und Oberlandesgerichts-Präsidenten, die 1941 auf einer Konferenz in Berlin das bereits laufende „Euthanasie“-Programm juristisch abgesichert hatten. In keinem der beiden Fälle kam es jedoch zu einer Verurteilung; während das erste Verfahren eingestellt wurde, wurde das zweite gar nicht erst eröffnet.

Fröhlich zeigt anhand dieser Beispiele die Entwicklung von Bauers Widerstandsbegriff auf. Formulierte Bauer im Prozess gegen Remer das Widerstandsrecht noch eindeutig vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Regimes, so sah er dieses Recht Anfang der 1960er-Jahre auch in demokratischen Systemen gegeben (S. 372f.). Fröhlich ordnet Bauers Demokratie- und Widerstandsbegriff in die Tradition eines demokratischen Sozialismus ein; dieser zeichne sich durch ein Denken aus, „das den Einzelnen in seiner empirischen Individualität als normativen Bezugspunkt anerkennt, von einer realen Gesellschaftsanalyse ausgeht und eine maximale freie Entwicklung des Einzelnen postuliert“ (S. 275).

Die Arbeit stellt eine quellennahe und dichte Analyse von Fritz Bauers Wirken anhand einer spezifischen Fragestellung dar. Die Argumentation ist insgesamt schlüssig, könnte jedoch an mancher Stelle etwas straffer und übersichtlicher sein, wo teilweise sehr ausführlich und nicht immer chronologisch aus den Quellen zitiert wird; vor allem einige zusätzliche Zwischenüberschriften wären für eine bessere Orientierung hilfreich. Im Vergleich mit dieser intensiven Quellenarbeit erscheinen einige Absätze über historische Hintergründe etwas farblos und undifferenziert – wie zum Beispiel der Abschnitt über die allgemeinere Situation in der jungen Bundesrepublik (S. 129-132). Und sollte man nicht erwarten, dass Vorwürfe gegen Weinkauff, die sich auf das Verschweigen bestimmter Aspekte seiner Karriere während des Nationalsozialismus beziehen (z.B. seine NSDAP-Mitgliedschaft), neben dem Verweis auf Bernt Engelmann mit weiteren Angaben belegt werden (S. 221)?

Insgesamt fällt auf, dass Bauer nach Fröhlichs Lesart aus allen dargestellten Kontroversen zumindest als moralischer Sieger hervorgeht. An einigen Stellen hat man jedoch den Eindruck, dass es wünschenswert gewesen wäre, auch seine Position zu hinterfragen. So wird beispielsweise vermerkt, dass in einer rheinland-pfälzischen Landtagsdebatte über einen Text Bauers „die tatsächlichen historischen Ungenauigkeiten“ dieser Schrift nicht thematisiert wurden (S. 149) – sie werden dann aber auch von Fröhlich mit keinem weiteren Wort erläutert. Dennoch gelingt es der Studie, eine tiefgehende Detailanalyse der Entwicklung der politischen Kultur in der Bundesrepublik zu liefern.

Abschließend noch eine formale Anmerkung: Bringt jemand nach jahrelanger Arbeit die Dissertation endlich zur Publikation, ist es schade, wenn diese nicht sorgfältig ediert wird. Vor allem die zahlreichen Bindestriche an Stellen, wo sie nicht hingehören, empfindet auch die wohlwollende Rezensentin mit der Zeit als störend.

Anmerkungen:
1 Siehe z.B. Balzer, Friedrich-Martin; Renz, Werner (Hgg.), Das Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965). Erste selbständige Veröffentlichung, Bonn 2004 (rezensiert von Heike Krösche: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-026>); Greve, Michael, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt am Main 2001 (rezensiert von Guillaume Mouralis: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-021>); Weinke, Annette, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949-1969, oder: eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002 (rezensiert von Sabine Horn: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-008>); Werle, Gerhard; Wandres, Thomas, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz, München 1995.
2 Herzinger, Richard, Am Anfang der Wahrheit, in: Die Zeit, 11.12.2003.
3 Hier sind besonders die Jahrbücher zu nennen, die das Institut seit 1996 herausgibt (vgl. <http://www.fritz-bauer-institut.de/publikationen/jahrbuch.htm>), sowie die Ausstellung „Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main“ (rezensiert von Sabine Horn: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=22&type=rezausstellungenngen>).
4 Z.B. Loewy, Hanno; Winter, Bettina (Hgg.), NS-„Euthanasie“ vor Gericht. Fritz Bauer und die Grenzen juristischer Vergangenheitsbewältigung, Frankfurt am Main 1996; Wojak, Irmtrud; Perels, Joachim (Hgg.), Fritz Bauer. Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main 1998; Meusch, Matthias, Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956-1968), Wiesbaden 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension