Titel
Abgegoltene Schuld?. Über den Widerspruch zwischen entschädigungspolitischem Schlussstrich und interventionistischer Menschenrechtspolitik


Autor(en)
Surmann, Rolf
Reihe
reihe antifaschistischer texte
Erschienen
Hamburg 2005: Unrast Verlag
Anzahl Seiten
189 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralph Klein, Universität Dortmund

Der Band versammelt 17 „Aufsätze, Kommentare und Einwürfe“ (S. 20), die Surmann in den vergangenen fünf Jahren für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und Magazine verfasst hat, also seitdem die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) errichtet wurde. Anders als Eizenstat, Spiliotis und Arning, die diese Stiftung in den Mittelpunkt ihrer Bücher gestellt haben1, nimmt Surmann sie zum Anlass, um sich mit der deutschen Entschädigungspolitik überhaupt kritisch auseinander zu setzen. Ihn interessiert die Frage, ob die bevorstehende Beendigung der Auszahlungen seitens der Stiftung „das endgültige Ende deutscher Entschädigungspolitik gegenüber den NS-Opfern“ sei und welche Schlussfolgerungen sich „angesichts des Widerspruchs zwischen den [...] ‚Lehren aus dem Holocaust’ und dem tatsächlichen Verhalten gegenüber den NS-Opfern“ ergeben (S. 7).

Surmann hat die Beiträge zu drei Gruppen geordnet. In der ersten („Entschädigungspolitik und ihre Aporien“) schlägt er den Bogen von den schon vor Kriegsende diskutierten Überlegungen der Alliierten, in welcher Form Deutschland Reparationen bzw. Entschädigungen leisten müsse, bis hin zur Gründung der Stiftung EVZ. Die Texte der zweiten Gruppe („Entschädigungsverweigerung und ihre Hintergründe“) vertiefen seine Überlegungen mit Hilfe konkreter Beispiele, und die Texte der dritten Gruppe setzen sich kritisch-pointiert anhand der in den vergangenen Jahren diskutierten entschädigungspolitischen Themen mit der „Erinnerungs- und Geschichtspolitik“ in der Bundesrepublik generell auseinander.

Grundlage von Surmanns Argumentation ist die These, dass das Verhalten der Gesellschaft gegenüber den NS-Opfern Indikator für die Fähigkeit der Täter und ihrer Erben sei, „die begangenen Verbrechen wahrzunehmen, und für ihre Bereitschaft, sie aufzuarbeiten“ – und damit ein Maß für die Emanzipation von den NS-Verbrechen. Entschädigung und Rehabilitierung der NS-Opfer seien unverzichtbares „Fundament für jegliche Form ernsthafter Erinnerungskultur“ (S. 8). Genau diese Bereitschaft sieht Surmann nicht. Stattdessen sei eine bloß symbolische Distanzierung von den NS-Verbrechen spätestens seit den 1970er-Jahren das zentrale Merkmal deutscher Geschichtspolitik gewesen, die ihren „integralen Abschluss“ (S. 10) darin finde, dass die NS-Verbrechen heute als Teil der deutschen Nationalgeschichte zwar akzeptiert, aber zugleich relativiert würden. Die Bearbeitung der von Deutschen begangenen Menschheitsverbrechen münde nicht in ein von der Tat her konkret strukturiertes Handeln, sondern gehe von den persönlichen Leid-Erfahrungen der Deutschen während der NS-Zeit aus und habe zu einer fragwürdigen Kategorie „deutsche Opfer“ geführt (S. 10). Theoretische Basis für „die neue Sicht auf Opfer und Täter“ sei die „eigentlich schon überwundene Totalitarismustheorie“ (S. 12), was Surmann in vier Artikeln unter dem Thema „Gleichmacherei: Erinnerungspolitik und Totalitarismustheorie“ (S. 161-180) detaillierter beschreibt.

Als möglichen Gegenpol der historischen Entkontextualisierung, die nur noch Verbrechen gegen die Menschlichkeit kenne, bewertet Surmann die Beschlüsse der Tagung „International Forum on the Holocaust“, die 2000 in Stockholm stattfand. Die Teilnehmenden beschlossen unter anderem, den 27. Januar zum internationalen Holocaust-Gedenktag zu erklären und den Holocaust wegen seiner universalen Bedeutung als festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses zu verankern. Surmann begrüßt zwar die Beschlüsse dieser Konferenz, befürchtet jedoch, dass sie langfristig ein Set ideologischer Codes gegenüber einer inhaltlichen, selbst-reflexiven Auseinandersetzung etablieren könnten, mit der Folge, dass der Holocaust hinter diesen ideologischen Werten verschwände (S. 15f.). In keinem seiner Beiträge führt er dies aber weiter aus. Stattdessen spitzt er seine Kritik am Umgang der offiziellen deutschen Politik mit dem Holocaust auf einige Thesen im letzten Beitrag zu (S. 181ff.) Der Bezug auf die Stockholmer Beschlüsse habe der Bundesrepublik den „Zugang zur imperialen Politik im Zeichen des Kampfs gegen Menschenrechtsverletzungen“ eröffnet, Deutschland habe „Auschwitz im Kosovo“ befreit (S. 183). Zweites Ergebnis sei der Wechsel vom Angeklagten zum Ankläger, vom Täter zum Opfer gewesen (S. 184).

Der mit Abstand längste Einzelbeitrag bietet unter dem programmatischen Titel „Entschädigungsverweigerung“ einen historischen „Aufriss der Entschädigungspolitik“ (S. 23-52). Ausgangspunkt von Surmanns Analyse ist die Politik der Alliierten gegenüber Deutschland, die zwar „gewisse Vorgaben hinsichtlich eines materiellen Ausgleichs für die Nazi-Verbrechen“ gemacht, sie aber wegen politischer Erwägungen im Kontext des Kalten Krieges und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands von vornherein stark begrenzt hätten (S. 25). Die Bundesrepublik bzw. die Regierung Adenauer habe ihre Politik nur unter der Bedingung verwirklichen können, dass sie Leistungen für die NS-Opfer erbrachte sowie Reparationen zahlte. Die Alliierten gewährten dem Land dafür einen großen Spielraum, und Surmann untersucht, wie die Bundesrepublik ihn nutzte. Dabei arbeitet er die „Grundlinien der Entschädigungspolitik“ heraus, die in der Kontroverse um die Zwangsarbeiter-Entschädigung vorerst ihren Abschluss gefunden habe (S. 26).

Als Zentrum deutscher Entschädigungspolitik sieht Surmann das Bundesentschädigungsgesetz von 1956. Dieses – und einige ergänzende Gesetze – verwandelte die zivilrechtlich begründete Schadensersatzpflicht des Staates mit dem darauf beruhenden individuellen und einklagbaren Rechtsanspruch in eine öffentlich-rechtliche Entschädigungsverpflichtung, die primär ökonomischen und (außen)politischen Erwägungen folgte sowie die Definitionsmacht den ehemaligen Tätern überließ (S. 33). Die Folgen dieses Konstruktionsprinzips erläutert Surmann anschaulich und drastisch anhand der Beiträge im zweiten Teil über die verweigerte Entschädigung für das Massaker im griechischen Distomo, für die im Rahmen der „Euthanasie“ Ermordeten und Zwangssterilisierten sowie für die Wehrmachts-Deserteure. Mit der Beseitigung des individuellen Rechtsanspruchs erhielt die Bundesrepublik die gern und regelmäßig genutzte Gelegenheit, die Höhe der Leistungen zu begrenzen. In der Folge hätten NS-Opfer am Ende der Entschädigungsberechtigten gestanden – hinter Kriegsopfern, Lastenausgleichsempfängern oder Beamten des NS-Staates (S. 33).

Zweimal habe es noch eine gesellschaftliche Kräftekonstellation gegeben, in der aus eigenem Vermögen eine Korrektur dieser Politik aus der Adenauer-Zeit möglich gewesen wäre, meint Surmann: Zum ersten Mal infolge der Ostpolitik der Brandt-Regierung, die ihr Ziel einer Normalisierung der Beziehungen zu Osteuropa ohne gewisse Konzessionen hinsichtlich der Entschädigungsforderungen nicht hätte verwirklichen können; zum zweiten Mal 1985, als die GRÜNEN das Thema anlässlich des 50. Jahrestags der Verabschiedung der Nürnberger Rassegesetze im Bundestag auf die Tagesordnung setzten. Beide Male sei die Schlussstrich-Politik jedoch nur modifiziert und nicht grundsätzlich beendet worden (S. 36f.). Surmann nennt die weiteren Auseinandersetzungen der 1990er-Jahre, die um die unterschiedlichen Entschädigungsansprüche geführt wurden (Raubgold, einbehaltene Versicherungspolicen) und schließlich in der Auseinandersetzung um die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit gipfelten. Die Stiftung EVZ sieht Surmann in der Kontinuität der Entschädigungsverweigerung, was er ausführlich anhand der Konstruktion der Stiftung begründet (S. 43ff.). Entschädigungspolitisches Prinzip der Bundesrepublik sei die Verweigerung jeder Entschädigung; sei das aus außenpolitischen Gründen nicht möglich, werde eine Stiftung eingerichtet, die geringe Leistungen erbringe, ohne eine Pflicht zur Entschädigung anzuerkennen.

Die übrigen Beiträge sind das Fleisch zum Skelett dieser beiden Kapitel. Bei aller Nachsicht für Wiederholungen, die bei einer solchen Beitragssammlung wohl zu erwarten sind, sind sie doch ermüdend. Pointiert formulierend, genau beobachtend und auf die Aktualität bezogen, vergegenwärtigt Surmann die Geschichte der Entschädigung und ihre Unterwerfung unter bestimmte politische Ziele. Immer Stellung für die NS-Verfolgten beziehend, unerbittlich kritisch gegenüber den Widersprüchen zwischen der offiziell bekundeten Erinnerungs-/Entschädigungsbereitschaft und der tatsächlichen Verweigerung, fordert er zugleich ein entschiedeneres Vorgehen gegen die noch lebenden Täter (S. 72), was in Auseinandersetzungen um Erinnerungspolitik sonst gerne „vergessen“ wird. Surmanns Argumentation wirkt nicht nur in Bezug auf die Rolle, die er der Totalitarismustheorie zuschreibt, mitunter schematisch. Der skizzierte Bogen ist insgesamt dennoch schlüssig, anregend und, gerade weil er zu Widerspruch reizt, produktiv für eine vertiefende Auseinandersetzung.

Zum Vergleich bietet sich Constantin Goschlers Arbeit zur Geschichte der deutschen Wiedergutmachungspolitik an, eine konsistente und tiefgehende Analyse, die mit den diesbezüglichen Überlegungen der Alliierten während des Zweiten Weltkriegs beginnt und den politischen Prozess untersucht, der letztlich zur Gründung der Stiftung EVZ führte.2 So unterschiedlich Erkenntnisinteresse und Vorgehen der beiden Autoren sind, so konträr sind ihre Ergebnisse. Goschler spricht – ausführlich begründet (S. 11-17) – von „Wiedergutmachung“ und nicht von „Entschädigung“; er interessiert sich primär für die Bedeutung der Wiedergutmachung im Selbstverständnis der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, sucht nach verallgemeinerbaren Erkenntnissen deutscher Wiedergutmachungspolitik und erzählt im Gegensatz zur Surmann letztlich eine Erfolgsgeschichte deutscher Wiedergutmachung, die als international wirksamer Maßstab und „Präzedenzfall für den Umgang mit anderen Fällen historischen Unrechts“ dienen könne (S. 7).

Gerade weil Surmanns politisch genaue Kritik immer wieder aktuelle Entschädigungsforderungen NS-Verfolgter berücksichtigt (etwa die mehr als 60.000 noch anhängigen Klagen aus Griechenland), kann er Goschlers doch sehr positive Einschätzung der deutschen Wiedergutmachungspolitik zurechtrücken. Goschler dagegen liefert die historische Analyse, die in Surmanns knapp gehaltenen Beiträgen fehlt. Insofern ergänzen sich beide Bücher und machen dreierlei deutlich: Die deutsche Wiedergutmachung ist mit der Gründung der Stiftung EVZ keinesfalls beendet; ihre historische Analyse muss ohne die Geschichte der Täterverfolgung und die Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit der NS-Verfolgten einseitig und zu optimistisch bleiben; die politische Auseinandersetzung um die Wiedergutmachung als Ressource deutscher Außenpolitik ist in vollem Gange.

Anmerkungen:
1 Eizenstat, Stuart E., Unvollkommene Gerechtigkeit. Der Streit um die Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit und Enteignung, München 2003; Spiliotis, Susanne-Sophia, Verantwortung und Rechtsfrieden. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, Frankfurt am Main 2003 (beide rezensiert von Mark Spoerer: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=3026); Arning, Matthias, Späte Abrechnung. Über Zwangsarbeiter, Schlußstriche und Berliner Verständigungen, Frankfurt am Main 2001 (rezensiert von Peter Heuss: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=719).
2 Goschler, Constantin, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005 (rezensiert von Clemens Vollnhals: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-015).

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