T. Kössler u.a. (Hgg.): Vom Funktionieren der Funktionäre

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Titel
Vom Funktionieren der Funktionäre. Politische Interessenvertretung und gesellschaftliche Integration in Deutschland nach 1933


Herausgeber
Kössler, Till; Stadtland, Helke
Erschienen
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gunilla-Friederike Budde, Institut für Geschichte, Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg

Die „schlechte Presse“ der Funktionäre hat eine lange Tradition. Rosa Luxemburg nannte die Funktionäre „Schablonenmenschen“, Helmut Schelsky fragte „Gefährden sie das Gemeinwohl?“, andere qualifizierten sie als „Schreibtischtäter“ und „Apparatschiks“ ab. So viel Häme und Misstrauen, unabhängig von der politischen Couleur, weckt Differenzierungsbedarf. Gemeinsam mit neun anderen AutorInnen haben sich Till Kössler und Helke Stadtland der längst überfälligen Aufgabe gestellt, der „Anatomie“ dieses „Sozialtyps“ seit den 1930er-Jahren nachzugehen.

In ihrer Einleitung formulieren die Herausgeber die Ausgangsthese des Bandes: Es sei anzunehmen, dass die von den Funktionären verkörperten politischen Ideen und Praktiken Aufschluss geben über Spezifika der jeweiligen Herrschafts- und Gesellschaftssysteme, in die sie eingebunden sind. Ziel ist es, die Funktionäre vornehmlich als handelnde Akteure zu beobachten und dabei sowohl die beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts als auch die Bundesrepublik zu beleuchten. Mit dem Blick auf Kreisleiter der NSDAP, das SS-Führerkorps, Wirtschafts- und Gewerkschaftsfunktionäre in der DDR, Spitzenfunktionäre der SPD in den 1950er-Jahren, bundesrepublikanische Spitzenfunktionäre bis in die Gegenwart, Funktionäre im Katholizismus, in der CDU und im Bundesverband der Deutschen Industrie deckt der Band ein breites Spektrum ab, das es erlaubt, Kontinuitäten und Brüche aufzuzeigen.

Als Grundlage schlagen Kössler und Stadtland eine relativ offene Definition vor, die den einzelnen AutorInnen Varianten erlaubt. Funktionäre seien „Personen, die, durch Auswahlverfahren rekrutiert, eine leitende oder leitungsvermittelnde, auf den politischen Raum bezogene Funktion innerhalb von nicht- beziehungsweise semistaatlichen bürokratisch organisierten Organisationen übertragen bekommen haben, die sie haupt- oder ehrenamtlich ausüben, wobei sie oft im Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen der Mitglieder und den Organisationszielen Interessen organisieren, die sie nicht notwendigerweise selbst besitzen“ (S. 19).

Die Ergebnisse sind facettenreich und können hier nur skizzenhaft wiedergegeben werden. So arbeitet Armin Nolzen als gemeinsame Basis der NSDAP-Kreisleiter einerseits ihre Gewaltpraxis und andererseits ihren ausgeprägten Sozialpopulismus heraus. In dem sehr heterogenen SS-Führerkorps, das Jan Erik Schulte untersucht, wirkten Karrierestreben, gemeinsame Mentalität und tägliche Unrechtspraxis als kollektive Klammern. Wie auch in der ersten deutschen Diktatur des 20. Jahrhunderts fungierten Funktionäre in der DDR, wie Christoph Boyer und Helke Stadtland plausibel nachzeichnen, als Stabilisatoren des Regimes. Beim „Elitenwechsel“ in der frühen DDR wurden in den Spitzenpositionen lange Zeit Konzessionen hinsichtlich der sozialen Rekrutierung gemacht; die Systemloyalität wurde als höherrangig gewertet. Erst als die betriebliche Gewerkschaftsarbeit in den 1970er und 1980er-Jahren zur Frauensache wurde, wies diese Variante der „funktionslosen Funktionäre“ (Renate Hürtgen) die dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ opportune soziale Herkunft auf.

Von einem neuen, wenn auch gänzlich anders gearteten Gewerkschaftstyp der akademischen Seiteneinsteiger lässt sich hingegen in der Bundesrepublik erst seit den 1990er-Jahren sprechen. Bis dahin waren die Spitzenfunktionäre, die Karl Lauschke betrachtet, in der Regel fest in dem Milieu verankert, dessen Interessen sie vertraten. Dass es auch außerhalb der Welt der Arbeiterbewegungen Funktionäre gab und gibt, ist in der bislang ohnehin noch seltenen Forschung zum Thema weitgehend unberücksichtigt geblieben. Dass sie nach ähnlichem Muster „funktionierten“, zeigen Frank Bösch am Beispiel des „verdeckten Funktionärsapparats“ und der „verkappten Funktionäre“ der CDU sowie Christian Schmidtmann anhand der Funktionäre der katholischen Kirche, die sich zu „hauptamtlich besoldeten Berufskatholiken“ entwickelten. Das Fazit Werner Bührers über die Funktionäre im explizit funktionärskritischen Bundesverband der Deutschen Industrie ließe sich auch für alle der hier betrachteten Bereiche ziehen: Stabile Funktionärsapparate trugen wesentlich zur Stabilität des jeweiligen Systems bei, dem sie dienten.

Wie sich dieses „Dienen“ in der Alltagspraxis konkret gestaltete, hätte man an einigen Stellen gern genauer erfahren. Den vielversprechenden, bislang in der Geschichtsschreibung noch wenig umgesetzten praxeologischen Ansatz, der in der Einleitung in Aussicht gestellt wird, findet man in den Aufsätzen selbst längst nicht so konsequent eingelöst, wie man es sich gewünscht hätte. Stadtlands These etwa, dass in der Praxis die einzelnen Funktionärstypen von den Selbstbildern häufig abwichen (S. 145), hätte durch Beispiele dieser abweichenden Handlungen an Plausibilität gewonnen. Auch die in der Einleitung geforderte Differenzierung nach Geschlecht wird in den meisten Aufsätzen vernachlässigt; stellenweise bleibt sie gänzlich außer Acht. Lediglich im Aufsatz von Renate Hürtgen, die die Feminisierung der gewerkschaftlichen Vertrauensleute in den 1970er und 1980er-Jahren beleuchtet, wird das Thema explizit aufgegriffen. „Weitgehend offen ist […] die Frage, welche Auswirkungen es hatte, wenn sich ein Funktionärskörper überwiegend oder ganz aus Männern zusammensetzte“ (S. 21), formulieren die Herausgeber ein Forschungsdesiderat. Diese Frage bleibt auch in ihrem Band offen; die Chance, die häufig männlich dominierte Funktionärsgruppe unter männergeschichtlichem Blickwinkel zu betrachten, bleibt ungenutzt.

Dies ist jedoch die einzige eingangs gestellte Frage, auf die die meisten AutorInnen eine Antwort schuldig bleiben. Der Band beeindruckt durch die stringente, von den Herausgebern vorgegebene und von den AutorInnen umgesetzte Strukturierung, die zu einer für einen Aufsatzband ungewöhnlich gelungenen Geschlossenheit geführt hat. Rekrutierung, Zusammensetzung, Gewicht weltanschaulicher Überzeugungen, Chancen und Grenzen funktionärsspezifischer Schulungen, die Bedeutung generationeller Zugehörigkeit, Motive der Funktionärstätigkeit werden von allen Beiträgen ebenso ausgelotet wie Tendenzen der Spezialisierung, die Relation zwischen vor- und innerorganisatorischer Sozialisation, das Verhältnis zur außerorganisatorischen Umwelt und die Auswirkungen der massenmedialen Revolutionen des 20. Jahrhunderts.

Auf diese Weise entsteht ein hochdifferenziertes Bild eines wenig homogenen „Sozialtypus“, das nur noch wenig gemein hat mit der Vorstellung des Macht akkumulierenden und Innovationen blockierenden Funktionärs, wie ihn 1910 Robert Michels entworfen hatte und wie er in der soziologischen Forschung lange fortlebte. Auch wenn nicht zuletzt von VertreterInnen der Sozialgeschichte Kritik an diesem dem Realtypus wenig nahe kommenden Idealtypus geübt worden ist und im Rahmen der Bürokratie- und Unternehmensgeschichte erste Versuche unternommen worden sind, den Funktionär vielschichtiger zu zeichnen, betritt diese Studie mit ihrer thematischen Bandbreite und zeitlichen Ausdehnung Pionierland. Sie zeigt eindringlich, dass die gerade durch Flexibilität, Anpassungs- und Wandelbereitschaft gekennzeichnete Gruppierung ungeachtet ihres notorisch schlechten Rufes eine Erfolgsgeschichte verbuchen konnte, deren Ende nicht absehbar ist.

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