K. Rawe: Ausländerbeschäftigung im Ruhrkohlenbergbau

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Titel
"... wir werden sie schon zur Arbeit bringen!". Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkriegs


Autor(en)
Rawe, Kai
Reihe
Institut für Soziale Bewegungen, Schriftenreihe C - Zwangsarbeit im Bergbau 3
Erschienen
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Thiel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Kai Rawes Studie über Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges, seine Dissertationsschrift von 2003, ist die erste Monografie in einer auf zehn Bände konzipierten neuen Schriftenreihe des Klartext Verlages zur Geschichte der Zwangsarbeit im Bergbau. Das Buch ist, wie auch die geplanten weiteren Studien aus einem mehrjährigen Forschungsprojekt zur „Zwangsarbeit im deutschen Kohlenbergbau“ unter der wissenschaftlichen Leitung von Klaus Tenfelde an der Ruhr-Universität Bochum hervorgegangen. Erste Erträge dieses Projektes liegen bereits in einem Auftaktband der Schriftenreihe vor, der gemeinsam mit einem kommentierten Dokumentenband auf einer Tagung im Bochumer „Haus der Geschichte des Ruhrgebiets“ im März 2005 vorgestellt wurde.1

Obwohl die Geschichte der Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg inzwischen als sehr gut erforscht gilt, sind Forschungslücken offen geblieben, von denen das Bochumer Projekt zumindest einige schließen wird. Das gilt zunächst für die Geschichte des Zwangsarbeitereinsatzes im Steinkohlenbergbau selbst, für den bislang, trotz seiner außerordentlich großen kriegswirtschaftlichen Bedeutung, keine einschlägigen Arbeiten vorlagen. Das gilt noch mehr für die Zwangsarbeit in den von Deutschland besetzten Gebieten während des Zweiten Weltkrieges, über die bis heute vergleichsweise wenig bekannt ist. Vor allem aber gilt dies für den Komplex der Zwangsarbeit und des Ausländereinsatzes im Ersten Weltkrieg. Hier steht die Forschung, wie Rawe zutreffend bemerkt (S. 24), tatsächlich erst am Anfang.2

Lange hat der Blick auf die Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg die entsprechenden Vorgänge im Ersten Weltkrieg beeinflusst oder sogar verstellt. Geriet die Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg überhaupt in den Fokus der Forschung, dann zumeist unter der Fragestellung, ob und inwieweit entsprechende Praktiken von Zwangsarbeit und Ausländerbeschäftigung als „Erfahrungshintergrund“ für den Zwangsarbeitereinsatz im Zweiten Weltkrieg fungierten.3 Abgesehen von zwei größeren Regionalstudien zur Zwangsarbeit in der Landwirtschaft und einigen Aufsätzen, etwa von Jochen Oltmer, hat sich die jüngere Forschung bis heute kaum mit dem Thema Arbeitszwang und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg als einem eigenständigen Forschungsfeld beschäftigt.4

Rawe sieht darin zu Recht ein Desiderat. Das bisherige Desinteresse der Forschung ist in der Tat bemerkenswert, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die deutsche Kriegswirtschaft nicht erst im Zweiten, sondern auch schon im Ersten Weltkrieg ohne den massenhaften Einsatz von Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeitern wohl funktionsuntüchtig gewesen wäre. Die zentrale Bedeutung der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte in den Unternehmen des Ruhrkohlenbergbaus verdeutlicht allein schon ihre quantitative Dimension: zwanzig, zeitweilig sogar bis zu 25 Prozent der Kriegsbelegschaften, so Rawe, rekrutierten sich aus Kriegsgefangenen und angeworbenen bzw. deportierten ausländischen Zivilarbeitern (S. 12). In absoluten Zahlen ausgedrückt, waren teilweise bis zu 75.000 Kriegsgefangene bzw. fast 30.000 ausländische Zivilarbeiter im Ruhrbergbau beschäftigt (S. 75, 182)!

Rawe hat eine Arbeit vorgelegt, die die Vorzüge einer sozialgeschichtlich orientierten Herangehensweise mit Fragestellungen verknüpft, die die neuere Militärgeschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg aufgeworfen hat. Er ordnet seine „Untersuchung der Arbeitsverhältnisse in einem wichtigen industriellen Kernbereich der Kriegs- und Rüstungswirtschaft des Deutschen Reiches“ in die Mobilisierungsgeschichte des Ersten Weltkrieges ein und bezieht sich dabei explizit auf das wesentlich von Stig Förster in den 1990er-Jahren entwickelte Konzept des „totalen Krieges“ und der „Totalisierung der Kriegsführung“ 5, betont jedoch, dass es sich dabei nur um Tendenzen, nicht aber um einen tatsächlich erreichten Zustand gehandelt habe (S. 9ff.). In der Übernahme der Obersten Heeresleitung durch Hindenburg und Ludendorff im Herbst 1916 sieht er demzufolge nicht nur einen allgemeinen Wendepunkt in der Kriegsführung, sondern auch die entscheidende Weichenstellung hin zu einer rücksichtslosen Arbeitskräftepolitik, die sich im so genannten Hindenburg-Programm, im Hilfsdienstgesetz und in der Deportation belgischer und polnisch-russischer Arbeiter zur Zwangsarbeit nach Deutschland äußerte (S. 15, 37ff., 209ff.).

Rawes Fragestellung ist erfreulich unprätentiös. Vor dem Hintergrund der Totalisierungsthese interessieren ihn die Fragen nach Bedingungen, Erscheinungsformen und Funktionsweisen von Zwangsarbeit und Ausländerbeschäftigung im Ruhrkohlenbergbau unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft sowie die Entscheidungsprozesse und Handlungsspielräume der daran Beteiligten. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der ausländischen Arbeitskräfte im Ruhrbergbau sind Rawes eigentlicher Forschungsgegenstand. Sein Ansatz, die Beschäftigung von Kriegsgefangenen und ausländischen Arbeitern nicht als getrennte Phänomene, sondern als Aspekte eines zusammen gehörenden Problems zu sehen (S. 13), bietet insbesondere für eine vergleichende Untersuchung der beiden Hauptarbeitskräftegruppen viele Vorteile, wirft aber auch Probleme auf. Diese spricht Rawe selbst an. Problematisch ist etwa schon der Begriff der Zwangsarbeit, der im heutigen Gebrauch vor allem durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges geprägt ist. Gegen eine allzu schnelle und automatische Gleichsetzung des Begriffes Zwangsarbeit im Ersten mit dem des Zweiten Weltkrieges wendet sich Rawe dezidiert. Er streift hier auch die Debatten um „free and unfree labour“; umschifft dieses zentrale Problem aber geschickt, in dem er sich einem begriffstheoretischen Zugang weitgehend entzieht. Rawe operiert in seiner Arbeit mit einer offenen, an Mark Spoerer angelehnten Begriffsbestimmung 6, die Zwangsarbeit wesentlich über den „Zwang zur Arbeit“ definiert (S. 13ff.). Dem Wert seiner Arbeit tut diese begriffliche Ungenauigkeit indes keinen wesentlichen Abbruch, zumal Rawe sich den damit eng verbundenen und zeitgenössisch heftig diskutierten Fragen, was denn Zwangsarbeit eigentlich sei und ob der zwangsweise Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern völkerrechtlich zulässig sei oder nicht, in den entsprechenden Abschnitten durchaus zuwendet (S. 70ff. im Zusammenhang mit den Kriegsgefangenen bzw. S. 211ff. für die zur Zwangsarbeit deportierten belgischen Zivilisten). Rawe differenziert trotz seiner weiten Begrifflichkeit auch zwischen den einzelnen Gruppen von ausländischen Zivilarbeitern. Das ist im Falle der angeworbenen Arbeiter besonders wichtig ist, weil nicht nur die DDR-Forschung zu diesem Thema mit einer nicht haltbaren Gleichsetzung operierte, sondern vor allem deshalb, weil selbst in einschlägigen Handbüchern und Übersichtsdarstellungen jüngeren Datums beide Arbeitskräftegruppen zuweilen immer noch gemeinsam unter „Zwangsarbeiter“ subsumiert werden, ohne das auf die vorhandenen Unterschiede hingewiesen wird.

Rawes Arbeit ist gut lesbar und klar strukturiert. Zwei Überblickskapiteln über die Grundzüge der deutschen Kriegswirtschaft (S. 25-45) und den Ruhrkohlenbergbau im Krieg (S. 47-68), die für die Einordnung von Arbeitskräftepolitik, Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit unabdingbar sind, folgen die beiden Hauptkapitel, in denen Rawe sich ausführlich den jeweiligen Spezifika der beiden Hauptgruppen ausländischer Arbeitskräfte, den Kriegsgefangenen (S. 69-154) und den russisch-polnischen bzw. belgischen Zivilarbeitern (S. 155-248) zuwendet. Hier kommen die Vorzüge von Rawes sozialgeschichtlichem Ansatz besonders zum Tragen. Auf der Grundlage einer guten Quellen- und Literaturkenntnis schildert Rawe detailliert die konkrete Arbeits- und Lebenswelt der Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeiter in den Unternehmen des Ruhrkohlenbergbaues, ihren harten Alltag und die Konflikte mit Unternehmern, Behörden und Kollegen, aber auch Fürsorgebemühungen, vor allem seitens der katholischen Kirche und der Behörden. Alles in allem bot sich ein ambivalentes Bild. Miserablen Lebensbedingungen, schlechter Behandlung bis hin zu körperlichen Misshandlungen und ein hartes Vorgehen gegen vermeintliche oder tatsächliche Widersetzlichkeiten auf der einen Seite standen auf der anderen Seite Bemühungen entgegen, die ausländischen Arbeitskräfte korrekt zu behandeln. Das war allein schon aus Gründen des „inneren Friedens“ und des Erhalts ihrer kostbaren Arbeitskraft in Zeiten akuten und ständig wachsenden Arbeitskräftemangels notwendig. Rawe betont mehrfach, dass die Behandlung der Kriegsgefangenen und ausländischen Arbeiter zwischen 1914 und 1918 sehr hart war, jedoch „nicht das Maß an Skrupellosigkeit und Menschenverachtung“ wie im Zweiten Weltkrieg erreichte (etwa S. 240). Die Brutalität, mit der etwa belgische Arbeiter 1916/17 nach Deutschland zur Zwangsarbeit deportiert wurden, verschweigt Rawe dennoch nicht. Vielmehr lässt er schon im Titel seiner Arbeit anklingen, wie sehr auch im Ersten Weltkrieg Menschenverachtung und Zynismus bei der Gewinnung von Arbeitskräften Raum gewonnen hatten: „Man schaffe uns die Leute, wir werden sie schon zur Arbeit bringen!“ Mit solch’ deutlichen Worten setzte Hugo Stinnes, einer der einflussreichsten Befürworter von Zwangsmassnahmen im besetzten Belgien, den zaudernden Generalgouverneur von Belgien, Freiherr von Bissing, in dieser Angelegenheit unter Druck.

Kai Rawe hat eine wichtige Arbeit zu einem Thema vorgelegt, das bisher von der Forschung stark vernachlässigt worden ist. Viele der von ihm angesprochenen Fragen und Probleme, etwa die nach der Vergleichbarkeit von Zwangsarbeitspraktiken im Ersten und Zweiten Weltkrieg oder dem Charakter von Zwangsarbeit, sind von der Forschung längst noch nicht befriedigend beantwortet. Rawes Monografie über Zwangsarbeit und Ausländerbeschäftigung im Ruhrkohlenbergbau im Ersten Weltkrieg hat jedoch erste Anregungen geliefert.

Anmerkungen:
1 Tenfelde, Klaus; Seidel, Hans-Christoph (Hgg.), Zwangsarbeit im Bergwerk. Der Arbeitseinsatz des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiete im Ersten und Zweiten Weltkrieg – Forschungen, Essen 2005; Dies. (Hg.): Zwangsarbeit im Bergwerk. Der Arbeitseinsatz des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiete im Ersten und Zweiten Weltkrieg – Dokumente, Essen 2005.
2 Weitere Ergebnisse zum Komplex Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg sind in allernächster Zeit zu erwarten. So werden bis Ende des Jahres Uta Hinz und Jochen Oltmer eine Studie bzw. einen Sammelband zur Beschäftigung von Kriegsgefangenen und Jens Thiel eine Monografie zur Deportation und Zwangsarbeit im besetzten Belgien vorlegen.
3 Etwa Herbert, Ulrich, Zwangsarbeit als Lernprozeß. Zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter in der westdeutschen Industrie im Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 24 (1984), S. 285-304.
4 Rund, Jürgen, Ernährungswirtschaft und Zwangsarbeit im Raum Hannover 1914 bis 1923, Hannover 1992; Oltmer, Jochen, Bäuerliche Ökonomie und Arbeitskräftepolitik im Ersten Weltkrieg. Beschäftigungsstruktur, Arbeitsverhältnisse und Rekrutierung von Ersatzarbeitskräften in der Landwirtschaft des Emslandes 1914-1918, Bramsche 1995 oder Ders.: Arbeitszwang und Zwangsarbeit – Kriegsgefangene und ausländische Zivilarbeitskräfte im Ersten Weltkrieg, in: Spilker, Rolf; Ulrich, Bernd (Hgg.), Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918, Bramsche 1998, S. 97-107.
5 Programmatisch Förster, Stig, Das Zeitalter des totalen Krieges. Konzeptionelle Überlegungen für einen historischen Strukturvergleich, in: Mittelweg 36 (1999), S. 12-29.
6 Spoerer, Mark, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, Stuttgart 2001, S. 15.