N. Frei (Hrsg.): Transnationale Vergangenheitspolitik

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Titel
Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg


Herausgeber
Frei, Norbert
Reihe
Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 4
Erschienen
Göttingen 2006: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
656 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Burkhardt, Graduiertenkolleg "Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart", Justus-Liebig-Universität Gießen

Der Zweite Weltkrieg, in dem Deutschland und seine Verbündeten weite Teile Europas mit einer Schreckensherrschaft überzogen hatten, hinterließ nach seinem Ende bei allen betroffenen Staaten die Frage, was nun mit den Schuldigen geschehen solle. In den ehemals von den Deutschen besetzten Gebieten betraf dies vor allem zwei Gruppen: Kollaborateure, die aus unterschiedlichen Gründen mit den Besatzern zusammengearbeitet hatten, und Vertreter der Besatzungsmacht, die auf dem jeweiligen Territorium Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen hatten. Während es hinsichtlich der Bestrafung der Kollaborateure zumindest Ansätze einer europäischen Gesamtschau gibt1, wurde die juristische Ahndung deutscher Verbrechen in den betroffenen Ländern von der deutschsprachigen Forschung bisher – wenn überhaupt – nur in Einzelstudien thematisiert.2 Der von Norbert Frei herausgegebene Sammelband soll diese Lücke schließen. Frei begründet sein Interesse an dem Vergleich einleitend mit der „Vermutung [...], [es] habe sich nicht nur in Deutschland, sondern gleichsam staatenübergreifend eine auf Vergessen und Verdrängen angelegte Vergangenheitspolitik entwickelt, die den Tätern zum Vorteil gereichte“ (S. 15).

Die 14 Länderstudien, die in dem Band versammelt sind, wurden zumeist von ausgewiesenen Expert/innen auf ihrem Gebiet verfasst. Behandelt werden die Bundesrepublik, die DDR und Österreich als Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ (Annette Weinke), die USA (Frank M. Buscher), Großbritannien (Donald Bloxham), die Sowjetunion und die SBZ/DDR (Andreas Hilger), Frankreich (Claudia Moisel), die Niederlande (Dick de Mildt und Joggli Meihuizen), Belgien (Pieter Lagrou), Dänemark (Karl Christian Lammers), Norwegen (Stein Ugelvik Larsen), Polen (Włodzimierz Borodziej), die Tschechoslowakei (Kateřina Kočová und Jaroslav Kučera), Griechenland (Hagen Fleischer), Italien (Filippo Focardi) und Kanada (Ruth Bettina Birn). Die meisten Beiträge haben einen rechtshistorischen Schwerpunkt; an verschiedenen Stellen werden auch der Einfluss der Politik und die Rezeption der Öffentlichkeit in die Darstellung einbezogen.

Doch beinhaltet dieser umfassende Überblick schon eine transnationale Perspektive? Das untersuchte Phänomen könnte insofern schon als transnational angesehen werden, als die verschiedenen Staaten durch die deutsche Expansionspolitik gezwungen waren, sich mit der strafrechtlichen Verfolgung der Kriegs- bzw. NS-Verbrecher zu befassen. Gab es jedoch auch eine tatsächlich transnationale Behandlung des Problems, das heißt eine Kooperation und Koordinierung zwischen den betroffenen Ländern? Frei nennt in der Einleitung fünf systematische Fragen, die beantwortet werden sollen, um auf übergeordneter Ebene eine Vergleichsbasis herzustellen (S. 14f.); sie umfassen die nationalspezifischen Voraussetzungen und Erfahrungen in der Ahndung von Kriegsverbrechen und die konkrete juristische Praxis sowie den Aspekt der nationalen Erinnerung und der Mythenbildung. Schließlich soll auch das Gebiet der zwischenstaatlichen Beziehungen betrachtet werden.

Im Kreis der behandelten Länder nehmen die Alliierten eine Sonderrolle ein – auf der einen Seite Großbritannien und die USA, auf deren Territorien keine unmittelbaren Kriegshandlungen stattgefunden hatten, auf der anderen Seite die Sowjetunion sowie Frankreich, das sowohl Besatzungs- als auch Kollaborationserfahrung aufwies und dennoch an den alliierten Maßnahmen beteiligt wurde. Diese Maßnahmen, die im Nürnberger Hauptprozess vor dem International Military Tribunal (IMT) gipfelten, hatten in der Tat einen transnationalen Charakter. Auf der Grundlage der 1943 eingerichteten United Nations War Crimes Commission (UNWCC) und des Londoner Abkommens von August 1945 wurde das Statut des IMT ausgearbeitet. Die UNWCC wurde bei der Sammlung von Informationen über Kriegs- und NS-Verbrecher von zahlreichen Staaten unterstützt, und auch an der Diskussion über die Bestrafung der „Hauptkriegsverbrecher“ nahmen nicht nur die alliierten Mächte teil. Gerade diese Zusammenarbeit offenbarte zugleich aber unüberbrückbare Differenzen, die weitere IMT-Verfahren verhinderten. Während in Nürnberg internationales Recht umgesetzt wurde, laborierten die einzelnen Länder häufig auf eigene Faust an der Bestrafung der deutschen Kriegsverbrecher – wie übrigens auch die Alliierten in ihrer jeweiligen Besatzungszone.

Die interessantesten Erkenntnisse liefert der Band denn auch an jenen Stellen, an denen übergreifende Muster der innerstaatlichen Ahndung deutlich werden – auch wenn sich insgesamt große Unterschiede in Umfang und Härte der Verurteilungen zeigen, die teilweise mit den unterschiedlichen Besatzungsrealitäten erklärt werden können. Alle Staaten, die eigene Prozesse gegen Kriegs- und NS-Verbrecher durchführen wollten, hatten mit der Frage nach den juristischen Grundlagen einer solchen Aburteilung zu kämpfen: Sollte das herkömmliche nationale Strafrecht herangezogen werden – das meist weitgehend ungeeignet erschien, die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges angemessen zu bestrafen –, sollte das Militärrecht gelten, oder musste eine neue Rechtsgrundlage geschaffen werden? Letztere Lösung brachte Schwierigkeiten mit dem Grundsatz „nulla poena sine lege“ (keine Strafe ohne [vorheriges] Gesetz) mit sich. In den meisten Ländern wurde eine Kombination der drei Möglichkeiten angewandt – teils vor zivilen, teils vor Militärgerichten, teils auch vor eigens geschaffenen Sondergerichtshöfen. Dem neuartigen Charakter der nationalsozialistischen Verbrechen konnten diese Kompromissregelungen von Anfang an kaum gerecht werden.

Claudia Moisel weist in ihrem Beitrag zu Frankreich darauf hin, dass die zeitgenössische Bezeichnung „Kriegsverbrecher“ auch die Wahrnehmung der Verbrechen in der Öffentlichkeit beeinflusste (S. 265). Zugleich konnten durch diese Verkürzung die „klassischen“ Kriegsverbrechen einfacher geahndet werden als beispielsweise der Terror gegen die Zivilbevölkerung, ganz zu schweigen von der Verfolgung und Ermordung der Juden. Donald Bloxham stellt für Großbritannien eine „anglozentristische Wahrnehmungsblockade in bezug auf den Extremcharakter der NS-Massenverbrechen“ fest (S. 159). Ähnlich konstatieren de Mildt und Meihuizen, dass die niederländische Justiz „kaum Verständnis für das komplexe Phänomen von Regierungs- und Schreibtischkriminalität entwickelte“ (S. 289), was dazu führte, dass in den Niederlanden neben einigen hochrangigen Tätern vor allem Angehörige der unteren und mittleren Exekutive verurteilt wurden, während die Schreibtischtäter häufig davonkamen (S. 322). Man bestrafte in erster Linie diejenigen Verbrechen, die juristisch handhabbar erschienen. Ein drastisches Beispiel dafür ist die Tatsache, dass Denunzianten hart bestraft wurden, aber kaum die NS-Richter, die aufgrund der Denunziationen Todesurteile verhängt hatten (S. 316).

Ein weiteres Kennzeichen, das sich in vielen Fällen findet, ist die geringere Bestrafung der deutschen Täter verglichen mit inländischen Kollaborateuren. Die Autor/innen der Beiträge über Belgien, Dänemark, Norwegen, Polen und Italien stellen ein solches Ungleichgewicht in Art und Umfang der Urteile fest. Eine mögliche Erklärung dafür lautet, dass die Prozesse gegen Kollaborateure oft früher stattfanden als diejenigen gegen die Besatzer und das Rachebedürfnis der Bevölkerung unmittelbar nach Kriegsende noch höher war als Ende der 1940er-Jahre. Dies verweist auf eine andere Konstante der Ahndung deutscher Verbrechen: Kaum einer der verurteilten Deutschen musste seine Strafe voll verbüßen. Die Todesurteile, die nicht unmittelbar nach Kriegsende vollstreckt worden waren, wurden in lebenslängliche oder kürzere Haftstrafen umgewandelt, und die meisten Inhaftierten kamen bis Mitte der 1950er-Jahre durch individuelle oder kollektive Amnestien frei. In West- wie Osteuropa hing dies wesentlich mit den internationalen Entwicklungen und dem beginnenden Kalten Krieg zusammen. Während die westlichen Staaten rasch ein Interesse daran entwickelten, sich mit der neu gegründeten Bundesrepublik gut zu stellen und die Westintegration zu befördern, verfolgten Ostblockstaaten wie zum Beispiel Polen ähnliche Strategien gegenüber der DDR. Die Folge war, dass auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs massenhaft verurteilte deutsche Kriegsverbrecher freigelassen und nach Deutschland abgeschoben wurden, wo sie kaum noch mit einer juristischen Verfolgung rechnen mussten. Es zeigt sich, dass der Kalte Krieg nicht nur einen direkten Einfluss auf die Zusammenarbeit der Alliierten hatte, sondern auch einen indirekten auf das Verhalten der einzelnen Staaten.

Neben den allgemeinen Fragestellungen bieten die einzelnen Länderstudien in sich trotz teilweise massiver Quellenprobleme gut recherchierte Beiträge zum Umgang mit dem Problem der deutschen Kriegs- und NS-Verbrecher – auch wenn der eine oder andere Aufsatz etwas komprimierter hätte ausfallen können. Sie liefern gerade bei weniger bekannten Fällen wie etwa Dänemark oder der Tschechoslowakei interessante Details über die juristische „Vergangenheitsbewältigung“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch wenn wirklich transnationale Phänomene wie etwa Aushandlungsprozesse zwischen einzelnen Staaten oder öffentliche Reaktionen auf Prozesse in anderen Ländern in den Aufsätzen nur hin und wieder vorkommen, wird insgesamt doch deutlich, dass die deutsche Besatzungspolitik europaweit ähnliche Folgen und Probleme nach sich zog.

Anmerkungen:
1 Vgl. Henke, Klaus-Dietmar; Woller, Hans (Hgg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration, München 1991.
2 Z.B. Fühner, Harald, Nachspiel. Die niederländische Politik und die Verfolgung von Kollaborateuren und NS-Verbrechern, 1945–1989, Münster 2005 (rezensiert von Christoph Strupp, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-182>); Moisel, Claudia, Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Politik und Praxis der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2004 (rezensiert von Cord Arendes, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-024>).

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