H.-D. Lucas (Hg.), Genscher, Deutschland und Europa

Titel
Genscher, Deutschland und Europa.


Autor(en)
Lucas, Hans-Dieter
Erschienen
Baden-Baden 2002: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
444 Seiten
Preis
€ 79,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Werner Bührer Institut für Sozialwissenschaften, Technische Universität München

Die Einleitung des Herausgebers und Hauptbeiträgers, langjähriger Mitarbeiter im Auswärtigen Amt und von 1995 bis 1998 Leiter des Persönlichen Büros Genschers, lässt Schlimmes befürchten: Von einer langfristigen „Vision“ des gebürtigen „Hallensers“ und „Außenministers der Einheit“ ist da die Rede, von seinen „zum Teil bis heute spürbaren konzeptionellen und modernisierenden Impulsen“ (S. 11) für die deutsche Außenpolitik und von seinem Anteil an wichtigen Weichenstellungen wie der KSZE-Konferenz, der Entspannungspolitik gegenüber dem Osten, dem NATO-Doppelbeschluss oder dem Vertrag von Maastricht. Dabei hat sich der derart Gepriesene dem Zeitgenossen doch eher als geschmeidiger, umtriebig-reisefreudiger „Genschman“ oder als Verkörperung des „Genscherismus“ eingeprägt, einer auf Ausgleich mit der Sowjetunion oder, so seine Gegner, auf Appeasement gegenüber der östlichen Supermacht bedachten Politik. Das Unbehagen steigert sich noch beim Blick in die Anmerkungen, stützen die Autoren ihre Lobeshymnen doch hauptsächlich auf veröffentlichte Quellen und die publizierten Erinnerungen Genschers. Ist eine objektive Würdigung der Außenpolitik Genschers überhaupt möglich, solange der größte Teil der einschlägigen Akten noch der amtlichen Sperrfrist unterliegt?

Der Herausgeber hat den Band im wesentlichen nach chronologischen Gesichtspunkten in vier Kapitel gegliedert. Im ersten verfolgt er selbst in zwei Aufsätzen Genschers Weg in die Außenpolitik: Zunächst rekapituliert er „frühe Prägungen und Stationen“ auf dem Weg von Genschers Heimatstadt Halle nach Bonn. Dazu zählt er vor allem Genschers Dienst als Flakhelfer und Soldat in den letzten Kriegsmonaten, dessen 1952 getroffene Entscheidung für ein „Leben in Freiheit“ und die Übersiedlung in den Westen, den Eintritt in die FDP und schließlich sein Wechsel in die Politik im Jahr 1956, zunächst als Wissenschaftlicher Assistent der FDP-Bundestagsfraktion, später als Fraktionsgeschäftsführer und Bundestagsabgeordneter. Rasch wuchs Genscher in die „Rolle des zwar unauffälligen, aber ungemein einflussreichen Beraters der Fraktions- und Parteispitze hinein – insbesondere auch in der Deutschlandpolitik“ (S. 34). 1966 meldete er sich erstmals auch in der Öffentlichkeit mit mehreren außenpolitischen Grundsatzreden zu Wort, die als neues Element den Vorschlag einer „gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz“ enthielten. In der 1969 gebildeten sozialliberalen Regierung musste er dennoch mit dem Amt des Innenministers Vorlieb nehmen. Gleichwohl nutzte er seine Stellung als „Verfassungsminister“, um auf die Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts Einfluss zu nehmen, wie Lucas in seinem zweiten Aufsatz zeigt. So achtete Genscher insbesondere darauf, dass die „Option auf friedliche Grenzveränderungen und damit auch für die deutsche Einheit“ erhalten blieb (S. 67).

Im zweiten Kapitel geht es um Genscher und seine Außenpolitik in den Jahren 1974 bis 1984, die durch den „Zweiten Kalten Krieg“ und die Rückkehr zur Entspannung nach dem Amtsantritt Gorbatschows gekennzeichnet waren. Das Spektrum der Themen reicht von der Europapolitik (mit Beiträgen von Lucas und Wolfgang Wessels) über das deutsch-amerikanische Verhältnis (Helga Haftendorn), die Entspannungspolitik (Ernst-Otto Czempiel und Dieter Bingen) und erste Ansätze einer westdeutschen „Globalpolitik“ (Wolfram Kaiser) bis zu Genschers (Süd)Afrikapolitik (Hans-Joachim Vergau). Der zweite Außenminister der sozialliberalen Koalition wird als „überzeugter Europäer“ gelobt, welcher die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften als Chance begriffen habe, „die Wirkungsmöglichkeiten seines geteilten und in seiner Souveränität beschränkten Landes zu erweitern“ (S. 89). Nicht minder wichtig war ihm die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den USA, wenngleich seine Politik dort mitunter missverstanden wurde: Der abwertend gemeinte Ausdruck „Genscherismus“ scheint jedenfalls von einem Korrespondenten der „New York Times“ in Umlauf gebracht worden zu sein. Das amerikanische Misstrauen erwuchs vor allem aus Genschers multilateral angelegten, „realistischen Entspannungspolitik“, die sich ihrer Möglichkeiten bewusst blieb und „Illusionen über eine Liberalisierung der östlichen Systeme“ vermied (S. 159). Die wachsende weltwirtschaftliche und -politische Interdependenz veranlassten den Außenminister aber auch dazu, sich Gedanken über die künftige internationale Ordnung zu machen. Sein daraus resultierendes Konzept einer „Weltordnung der Partnerschaft“ wird als „langfristig angelegte Vision in einer liberal-idealistischen philosophisch-völkerrechtlichen Tradition“ charakterisiert (S. 220). Welche Probleme bei dem Versuch entstanden, westdeutsche „Globalpolitik“ zu betreiben, verdeutlichten die Beziehungen zum südlichen Afrika.

Dem Außenminister der deutschen und der europäischen Einigung ist der dritte Teil gewidmet. Zunächst werden Genschers Rolle im Prozess der deutschen Vereinigung (Stephan F. Szabo und Christian Hacke) – die erwartungsgemäß als bedeutsamer eingestuft wird als in der CDU-nahen Literatur – und sein Anteil an den europapolitischen Weichenstellungen der Jahre 1983 bis 1992 (Hans Werner Lautenschlager) analysiert. Anschließend beantwortet Stefan Fröhlich die Frage nach eventuellen Spannungen zwischen der Richtlinienkompetenz Kohls und der Ressortverantwortlichkeit Genschers mit dem Hinweis auf die „große Interessenkongruenz“ der beiden Politiker, die „jede Bedeutung der Richtlinienkompetenz des Kanzlers gegenüber dem Koalitionspartner“ relativiert habe (S. 341). Zum Schluss weist Michael Libal in seinem Beitrag über die deutsche Jugoslawienpolitik die These von der „verfrühten“ und „einseitigen“ Anerkennung Kroatiens und Sloweniens zurück, spart aber zugleich auch nicht mit Kritik an dem durch Halbherzigkeiten und Unglaubwürdigkeit gekennzeichneten Kurs des Bundesaußenministers, der „den klaffenden Widerspruch zwischen der deutschen Rhetorik und den deutschen Forderungen einerseits und der vergleichsweise minimalen Bereitschaft, sich zu engagieren und entsprechende Risiken mitzutragen andererseits“ nicht habe überwinden können (S. 367).

„Einblicke und Einordnungen“ verspricht das vierte Kapitel: In einem der interessantesten, mit vielen neuen Informationen aufwartenden Beitrag präsentiert Richard Kiessler Genscher als unabsichtlichen Pionier einer „Public Diplomacy“ in der Bundesrepublik, der „konsequenter als andere den Gesetzen der Mediengesellschaft“ gefolgt sei (S. 373); selbst die in der Satire-Zeitschrift „Titanic“ abgedruckte, den „Batman“-Comics nachempfundene Serie „Genschman rettet die Welt“ sei mit Genschers PR-Mann abgestimmt gewesen. Bei der Aufzählung der verschiedenen PR-Gags – Auftritte etwa bei Thomas Gottschalk und Max Schautzer, die Annahme von Karnevalsorden oder der berühmte gelbe Pullover – drängt sich unwillkürlich der Eindruck auf, dass Genscher manchem heutigen FDP-Politiker als Vorbild gedient haben könnte. Wolfgang Mommsen und Hans-Dieter Heumann ergründen schließlich Traditionen und Leitideen der Außenpolitik Genschers, und der Journalist Robert Leicht steuert ein aus eigenem Erleben gespeistes Porträt bei.

Der Sammelband bietet eine erste Bilanz der Außenpolitik des „immerwährenden“ Außenministers (Stefan Fröhlich), die sich mit ihren Prinzipien – „Demokratie, Verantwortung, Multilateralismus, europäische Einheit und friedlicher Wandel“ (S. 19) – gewiss positiv von älteren außenpolitischen Traditionen und Leitbildern abhob. Dies verdient zweifellos Lob. Die Frage indes, ob nicht alle maßgeblichen Außenpolitiker der Bundesrepublik diese Prinzipien für sich in Anspruch nehmen könnten, wird erst gar nicht gestellt, so dass das unverwechselbar „Genscheristische“ dieser Politik etwas im Ungewissen bleibt. Nicht wenige Autoren lassen es zudem an kritischer Distanz zur Selbstdarstellung ihres Protagonisten fehlen – ein Problem, das nur zum Teil auf den Mangel an unveröffentlichten Quellen zurückgeführt werden kann. Die in mehreren Beiträgen auftauchende These von der wichtigen Rolle Genschers bei der Vorbereitung und Verwirklichung der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ hätte beispielsweise anhand einer einschlägigen britischen Aktenedition 1 leicht überprüft werden können – und relativiert werden müssen, denn Belege dafür finden sich in dieser Edition nicht. So hinterlässt die Lektüre einen zwiespältigen Eindruck und die Gewissheit, dass eine „objektive“ Würdigung der Außenpolitik Genschers erst nach der Öffnung der relevanten Archive möglich sein wird.

Anmerkung:
1 Documents on British Policy Overseas, Series III, Vol. II: The Conference on Security and Cooperation in Europe, 1972-1975, ed. by G. Bennett and K. A. Hamilton, London 1997.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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