Cover
Titel
Hamburg im "Dritten Reich".


Herausgeber
Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Erschienen
Göttingen 2005: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
792 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Schmiechen-Ackermann, Historisches Seminar, Universität Hannover / Fachbereich Kulturwissenschaften, Universität Lüneburg

Der in den 1980er-Jahren seinen Höhepunkt erreichende und danach langsam auslaufende Boom der Regionalgeschichtsschreibung zur NS-Zeit hat zwar dazu geführt, dass inzwischen eine kaum noch zu überblickende Zahl von regionalen und lokalen Fallstudien existiert; für die Mehrheit der bevölkerungsreichsten Städte fehlen aber nach wie vor breit angelegte und bilanzierende Überblicke oder gar monografische Gesamtdarstellungen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Mit begrenzten zeitlichen, finanziellen und personellen Ressourcen kann für eine ländliche Region oder eine weniger exponierte Großstadt eine Zusammenschau der Forschungsergebnisse weitaus eher geleistet werden als für die seinerzeit größten deutschen Städte, für die in der Regel davon auszugehen ist, dass die Gemengelagen unterschiedlicher sozialer Gruppen und Milieus sowie die internen Differenzierungen besonders vielfältig waren, die für ein adäquates Gesamtbild zu berücksichtigen sind.

Markiert dieser hier nur ganz knapp angedeutete Themenkreis der NS-Regionalforschung1 den ersten systematischen Kontext des jüngst von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) herausgegebenen Bandes über „Hamburg im ‚Dritten Reich’“, so stellt die aktuell durch die provokanten Thesen Götz Alys2 wiederbelebte Debatte über den Grundcharakter der nationalsozialistischen Herrschaft den zweiten Bezugsrahmen für das fast 800 Seiten starke Sammelwerk dar. Den konzeptionellen Kern des Bandes bildet der Beitrag von Frank Bajohr (Die Zustimmungsdiktatur. Grundzüge nationalsozialistischer Herrschaft in Hamburg, S. 69-121), in dem dieser – in deutlicher Abgrenzung zur überzogenen Deutung Alys – seine jetzt auch empirisch untermauerte eigene Interpretation des Begriffes der „Zustimmungsdiktatur“ entwickelt. Er rekurriert dabei auf die seinerzeit von Alf Lüdtke herausgestellte (und letztlich in Max Webers Herrschaftssoziologie wurzelnde) Erkenntnis, dass auch Diktaturen nicht verkürzt als simple Herrschaftsvollzüge von oben nach unten interpretiert werden dürfen, sondern Herrschaft stets eine „soziale Praxis“ darstelle, an der nicht nur die jeweiligen Machthaber, sondern eben auch die Gesellschaft konstitutiv beteiligt sei. Bajohr kommt zu dem prägnanten Schluss, das „Dritte Reich“ habe insgesamt keine „Nischengesellschaft“ ausgebildet, in der eine weitgehend „resistente“ Bevölkerung das Regime „lediglich formal unterstützt“, sich nach Möglichkeit aber in den privaten Raum zurückgezogen habe. „Stattdessen entwickelte sich nach 1933 schrittweise eine Zustimmungsdiktatur, die sowohl auf diktatorialen Elementen als auch auf einer wachsenden gesellschaftlichen Konsensbereitschaft aufbaute. Die Unterstützung des NS-Regimes durch die Bevölkerung erreichte um 1940 einen Höhepunkt, nahm in der Folgezeit jedoch langsam und ab 1943 rapide ab.“ (S. 121)

Bajohrs Fazit stellt nicht nur eine thesenartige Zuspitzung seines eigenen Beitrages dar, sondern bildet zeitlich wie sachlich eine interpretative Klammer, die die in sieben Rubriken („Machtübernahme“; „Herrschaft und Verwaltung“; „Wirtschaft“; „Gesellschaft und Kultur“; „Sozial- und Gesundheitspolitik“; „Terror und Verfolgung“; „Auflösung der ‘Volksgemeinschaft’“) gruppierten, insgesamt 18 eigenständigen Aufsätze des Sammelbandes umschließt. Hinzu kommen eine kurze Schlussbetrachtung, in der Bajohr die Nationalsozialisten als „Meister der Zerstörung“ charakterisiert, sowie die einleitenden Bemerkungen von Axel Schildt, in denen die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für die Entstehung dieses regionalhistorischen „Gemeinschaftswerk[es] von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der FZH und einigen anderen Autoren aus Hamburg“ benannt werden. Diese „erste umfassende Bilanz zur Geschichte der Hansestadt im ‚Dritten Reich’“ verstehe sich angesichts der „sehr ungleichgewichtigen Forschungslage“ vor allem als eine „Basis für die weitere Forschung“ und keinesfalls als eine Art Endergebnis; er blicke dabei aber „über die städtischen Eliten hinaus auf das Verhalten der breiten Bevölkerung. Mehrmals steht die Frage, inwiefern und in welcher Intensität das nationalsozialistische Regime dort Zustimmung für seine Politik fand, im Mittelpunkt der Betrachtung“ (S. 20).

Nun liegt es also tatsächlich vor uns, das Produkt, das die Hamburger Stadtväter „innerhalb kurzer Zeit“ realisiert sehen wollten, als sie im Jahre 1949 eine „kleine, dürftig ausgestattete ‚Forschungsstelle für die Geschichte Hamburgs 1933-1945’“ einrichteten (die zwischenzeitlich eingestellt, aber wieder etabliert wurde). Im Laufe der über fünf Jahrzehnte mal schleppend und aus politischem Kalkül dilatorisch, über lange Phasen aber auch engagierter als andernorts betriebenen institutionellen Regionalforschung zur NS-Zeit ist der immer wieder durch politischen Streit und wissenschaftliche Kontroversen begleitete Forschungsprozess inzwischen auch selbst zu einem lohnenswerten Untersuchungsobjekt der historischen Forschung geworden. Schildt nimmt in seiner Einleitung diese intensiven Auseinandersetzungen über völlig kontroverse Deutungsmuster auf und konstatiert, dass sich aus den Einzelbeiträgen insgesamt ein sehr differenziertes Gesamtbild ergebe, das weder in der lange Zeit gepflegten exkulpatorischen lokalen Meistererzählung von der „liberalen“, in ihrer Grundhaltung auch anti-nationalsozialistischen Hansestadt noch im Schreckbild eines besonders stark nazifizierten „Mustergaues“ aufgehe. In einigen Handlungsfeldern (etwa der Sozialpolitik) seien tatsächlich spezifische Beiträge zur Radikalisierung der NS-Herrschaft zu erkennen, in anderen Bereichen fehlten solche Hinweise auf eine Vorreiterrolle Hamburgs dagegen völlig.

Die additive Grundstruktur des Überblickswerkes verweist auf die oben bereits angedeutete Problematik: Einzelne Autoren können für eine Stadt dieser Größenordnung die Sysiphos-Aufgabe einer umfassenden und den neuesten Forschungsstand repräsentierenden monografischen Gesamtdarstellung kaum leisten. Insofern ist die Entscheidung, auf das kumulierte Sachwissen von insgesamt 13 einschlägig ausgewiesenen Beiträgern zu vertrauen, sinnvoll und nachvollziehbar. In Kauf genommen werden muss dabei freilich – wie bei so vielen Sammelbänden, die zwar eine möglichst große Einheitlichkeit beanspruchen, aber nur selten erreichen –, dass sehr unterschiedliche konzeptionelle und methodische Ausrichtungen kommentarlos aneinander gereiht werden. So stehen traditionell ausgerichtete politik-, organisations- und verwaltungsgeschichtliche Ansätze (Ursula Büttner über den Aufstieg der NSDAP, Uwe Lohalm über die Entwicklung vom Stadtstaat zum Reichsgau bzw. den öffentlichen Dienst in Hamburg, Rainer Hering über die evangelische und katholische Kirche) neben konzeptionell innovativen Analysen, in denen gesellschaftsgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Perspektiven miteinander verknüpft werden: Hervorzuheben ist vor allem Joachim Szodrzynskis ansprechender Entwurf, die letzten Kriegsjahre in einen komplexen Deutungszusammenhang zu stellen, der auf die eingangs entfaltete These der „Zustimmungsdiktatur“ zwar nicht explizit (warum eigentlich nicht?), aber implizit überzeugend Bezug nimmt, indem die schwindende Loyalität der Bevölkerung zum NS-Regime, mithin also ein Auseinanderbrechen der viel beschworenen „Volksgemeinschaft“, konstatiert wird. Neben prägnanten und sehr instruktiven Überblicken zu zentralen Handlungsfeldern (positiv herauszustreichen sind hier vor allem Bajohrs Aufriss über die Verfolgung der Hamburger Juden und Friederike Littmanns Beitrag über die Zwangsarbeiter) stehen in diesem Sammelband aber auch sich bisweilen in Details verlierende Beiträge (etwa zur Schulpolitik). Bemerkenswert umfangreiche Aufsätze mit sehr ausführlichen Nachweisen (Lohalm über die selektive Erwerbslosen- und Familienpolitik, S. 379-431, mit 158 Anmerkungen) wechseln sich ohne nachvollziehbaren Grund ab mit sehr knapp geratenen Beiträgen zu keineswegs minder wichtigen Handlungsfeldern, die nahezu ohne wissenschaftlichen Apparat präsentiert werden (Karl Christian Führer über Wohnungsbaupolitik, S. 432-444, mit ganzen 11 Anmerkungen).

Aktuelle Orientierungen der jüngeren NS-Forschung werden ganz deutlich reflektiert: Beispielsweise wird dem Bombenkrieg ein eigenes kleines Kapitel gewidmet. Zudem wird der in der Vergangenheit häufig allzu sehr in den Mittelpunkt des Interesses gerückte Widerstand zugunsten des für fast alle Bereiche nachzuweisenden Anpassungsverhaltens so weit relativiert, dass er nun nur noch als Teilthema eines Beitrages vorkommt: Detlef Garbe gibt einen sehr komprimierten Überblick über die „Institutionen des Terrors“ und den „Widerstand der Wenigen“ (wobei zwei Drittel auf die Verfolgungsinstanzen entfallen). So verbleiben von der fast 700 Textseiten umfassenden Darstellung ganze 7 Textseiten für den organisierten politischen Widerstand von Kommunisten, Sozialdemokraten und Linkssozialisten – und man fragt sich am Ende, ob im Zuge einer insgesamt zweifelsfrei notwendigen Perspektivenverschiebung vom Widerstands- zum Anpassungsverhalten an dieser Stelle vielleicht doch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden ist.

Kann diese voluminöse Publikation über „Hamburg im ‚Dritten Reich’“ insgesamt die hohen Erwartungen erfüllen, mit der man sie zur Hand nimmt? Mit gewissen Einschränkungen: Ja. Der Überblicksband bildet zweifellos einen wichtigen Meilenstein für die weitere Stadtgeschichtsforschung zur NS-Zeit, denn er bietet erstmals für eine der ganz großen deutschen Städte eine sehr umfassende und substanzielle, wenn auch in vieler Hinsicht heterogene Zusammenschau der empirischen Ergebnisse. Da es sich nicht um eine monografische Überblicksstudie aus einem Guss handelt, müssen konzeptionelle wie stilistische Brüche wohl unvermeidlicherweise in Kauf genommen werden. Leider ergeben sich aber auch durch diverse inhaltliche Überschneidungen bisweilen erhebliche Redundanzen. Schließlich stehen innovative neue Forschungsergebnisse neben schon vor Jahren in ähnlicher Form publizierten Erkenntnissen. So ist nicht nur der Forschungsstand sehr ungleichgewichtig; dies gilt auch für Aktualität und Komplexität der hier versammelten Analysen. Dennoch kann dieser Überblicksband auch für die durch Alys „Volksstaat“-These medienwirksam angeheizte Kontroverse über den Grundcharakter der nationalsozialistischen Herrschaft einen wichtigen Referenzpunkt bilden, erschließt er doch die Möglichkeit, anhand eines nun vorliegenden breiten empirischen Überblicks über die NS-Zeit in Hamburg die widerstreitenden Deutungsentwürfe des sozialpolitisch fundierten „Volksstaats“ (Aly), einer sich im Laufe der Jahre ganz erheblich verändernden „Zustimmungsdiktatur“ (Bajohr) oder einer „Mobilisierungsdiktatur“ (Tooze) auf den Prüfstand zu stellen. Allerdings ist das hier betrachtete räumliche Feld (eine Großstadt, die zugleich Stadtstaat ist) insgesamt zu klein und speziell, um eine umfassende empirische Fundierung dieser Theoriedebatte zu ermöglichen. Zu wünschen ist also, dass das neu zur Diskussion gestellte Paradigma der „Zustimmungsdiktatur“ möglichst bald auch anhand größerer Untersuchungsfelder (einem Flächenland bzw. einer weiträumiger dimensionierten Region) auf den Prüfstand gestellt wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. Möller, Horst; Wirsching, Andreas; Ziegler, Walter (Hgg.), Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996; Schmiechen-Ackermann, Detlef, Nationalsozialistische Herrschaft und der Widerstand gegen das NS-Regime in deutschen Großstädten. Eine Bilanz der lokal- und regionalgeschichtlichen Literatur in vergleichender Perspektive, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 488-554.
2 Aly, Götz, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005.