'68 - Brennpunkt Berlin

Veranstalter
Bundeszentrale für politische Bildung Bundeszentrale für politische Bildung (12307)
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12307
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.01.2008 - 31.05.2008
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Schneider, Humboldt-Universität zu Berlin

Wer derzeit in Berlin die Hardenbergstraße entlang läuft, unweit des Bahnhofs Zoologischer Garten, dem wird kaum jener Blickfang entgehen, der vor den Türen des früheren Amerika-Hauses platziert wurde. Dort steht ein eigentlich blaugrüner, durch einen Farbanschlag seit kurzem knallroter historischer Wasserwerfer, aus dessen Lautsprechern immerfort die gleiche Aufforderung ertönt: „Achtung, hier spricht die Polizei! Machen Sie bitte die Fahrbahn frei für den nächsten Wasserwerfereinsatz! Räumen Sie den Bereich!“ Der Ort der Ausstellung, das etwas in Vergessenheit geratene ehemalige Amerika-Haus, ist klug gewählt – schließlich fungierte der von den USA geführte Krieg in Vietnam als weltweiter „Katalysator der Proteste“.1 So wurde das Gebäude seit Mitte der 1960er-Jahre zur Kulisse zahlreicher studentischer Demonstrationen. Anlässlich des 40. „Dienstjubiläums einer Revolte“ (so die Formulierung Franz Schneiders zum 25. Jahrestag 1993) scheint die Zeit nun für deren Musealisierung reif zu sein.2

Im Foyer erwartet die Besucher und Besucherinnen zunächst ein breites Spektrum an zeitgenössischen Exponaten: Plakate, Flugblätter und Wandzeitungen der studentischen Protestbewegung, theoretische Schriften von Marx, Marcuse und Che Guevara, Ausschnitte aus der „Bild“-Zeitung über das Dutschke-Attentat, verschiedene Audiodokumente (etwa mit den Klängen der Rocklegenden The Doors und Bob Dylan) sowie Filmsequenzen und eine Vielzahl gegenständlicher Überreste. Zu letzteren zählen beispielsweise jene das persische Herrscherpaar Mohammed Reza Pahlevi und Farah Diba karikierenden Porträtmasken, die der Künstler Rainer Hachfeld entworfen hatte und die am 2. Juni 1967 zahlreichen Demonstranten und Demonstrantinnen dazu dienten, ihren Unmut über den unerwünschten Staatsbesuch zum Ausdruck zu bringen. Darüber hinaus beherbergen die vor einer großen Leinwand positionierten Vitrinen unter anderem einen Stapel originaler „Mao-Bibeln“, Bauhelme (mit denen sich die Demonstranten vor den Schlägen der Polizisten zu schützen versuchten) sowie die Ende der 1960er-Jahre noch von der Berliner Polizei genutzten Tschakos, die für gewaltsame Auseinandersetzungen jedoch wenig zweckdienlich waren und bald ausrangiert wurden.

Das Obergeschoss ist reserviert für eine „repräsentative Auswahl“ dokumentarischer Schwarz-Weiß-Aufnahmen des 1941 geborenen Fotografen Günter Zint, der nicht nur die Berliner Protestereignisse der Jahre 1967/68 dokumentierte und inszenierte, sondern in den 1970er- und 1980er-Jahren etwa auch den Widerstand der Atomkraftgegner in Brokdorf und Gorleben mit der Kamera begleitete.

Welches Bild von „1968“ wird in der Ausstellung gezeichnet? Welchen Erzählmodellen folgt die Darstellung? Wer sind die Akteure, die in den Blick geraten? Und wie steht es mit der Einbettung der Geschehnisse in den transnationalen und globalen Kontext? Hinsichtlich der präsentierten Narrative ist der Eindruck enttäuschend. Einmal mehr werden jene stereotypen Bilder reproduziert, die vor allem die massenmediale Erinnerung an die späten 1960er-Jahre dominieren. Diese Fokussierung lässt sich besonders gut an der Auswahl der Fotografien von Günter Zint ablesen. Von den annähernd 70 Aufnahmen zeigen nahezu alle die spektakulären Ereignisse des Jahres 1968: Da sieht man zahlreiche Bilder von Anti-Vietnamkriegs-Demonstrationen; da wird neben sichtlich wütenden West-Berliner Passanten und Passantinnen ein Arbeiter vor den Werkstoren einer Fabrik gezeigt, der mit erhobenem Zeigefinger einer rebellierenden Studentin droht; da werden Polizisten mit Schlagknüppeln und durch Molotow-Cocktails in Brand gesetzte Fahrzeuge des Springer-Verlags präsentiert, und zur Abrundung des Gesamtbildes bedarf es offensichtlich auch einer Großaufnahme Rudi Dutschkes. Ein ähnliches Narrativ prägt auch die Ausstellung im Foyer: Die übergroße Leinwand, vor der die Exponate angeordnet wurden, zeigt in einer Endlosschleife Aufnahmen von Anti-Schah-Demonstrationen und eingesetzten Wasserwerfern. Im Mittelpunkt stehen fast ausschließlich die spektakulären Protest-Ereignisse; hinzu gesellt sich die unvermeidliche Kommune 1.

Doch lässt sich „1968“ auf solche Momentaufnahmen reduzieren? In der jüngeren zeithistorischen Forschung überwiegt mittlerweile die Perspektive, „1968“ als „Teil einer einschneidenden gesellschaftlichen Transformation und Ausdruck eines vielgestaltigen Umbruchs in der westlichen Welt“ zu deuten.3 Dieser Wandel begann auch nicht erst 1967/68, sondern setzte bereits gegen Ende der 1950er-Jahre ein. In der Ausstellung wird jedoch behauptet, das Jahr 1968 habe eine „Zäsur“ markiert, was durch folgenden Text einer Infotafel unterstrichen wird: „Es ging gegen Notstandsgesetze, mangelnden Reformwillen, gegen Pressekonzentration und gegen Autoritäten, die sich für unantastbar hielten, und es ging gegen die mangelnde Bereitschaft, sich mit der Verantwortung für die Verbrechen der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen.“ Manches davon mag zutreffen, gerade in der erinnerten Wahrnehmung. Dass es aber erst die protestierenden Studenten gewesen seien, die eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes initiiert hätten, ist längst widerlegt worden.4 Gleiches gilt für die Behauptung, dass in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre ein Mangel an „Reformwillen“ vorgeherrscht habe. Hiermit wird lediglich jenes Bild fortgeschrieben und festgezurrt, wonach es die Außerparlamentarische Opposition gewesen sei, die eine durch Monotonie geprägte Gesellschaft aufgerüttelt und zum Besseren verändert habe. Aus dem Blick gerät dabei, dass es weniger die bekannten Protagonisten des SDS und der Kommune 1 waren, denen das maßgebliche „Verdienst“ einer Liberalisierung zukommt, sondern vielmehr die vermeintlich unpolitische Jugendkultur, viele Angehörige einer reformwilligen „45er“-Generation sowie zahlreiche weitere Gruppierungen und Einzelpersonen, die die Gesellschaft verändern, aber nicht revolutionieren wollten.5

Auch der weitgehende Verzicht darauf, „1968“ als transnationales Medienereignis zu akzentuieren, trübt den Gesamteindruck erheblich. Gewiss, auf einer Wandtafel gleich am Eingang des Amerika-Hauses werden die Besucher und Besucherinnen darauf hingewiesen, dass es sich bei „1968“ um ein weltweites Phänomen handelte. Dies schlägt sich zum Teil auch in der Visualisierung der Ausstellung nieder, etwa in einer Großaufnahme von der Exekution eines gefesselten Vietcong durch den südvietnamesischen Polizeichef auf offener Straße oder mittels einer Fotografie von Demonstrationen während des „Prager Frühlings“. Die transnationale Vernetzung der Protestbewegungen wird hierdurch aber nicht deutlich. Dabei hätte man beispielsweise eine Aufnahme von Pariser Studierenden zeigen können, die am 19. April 1968 im Zuge einer Solidaritätskundgebung für den niedergeschossenen Rudi Dutschke – durch die Präsenz von westdeutschen SDS-Mitgliedern erstaunlich gut informiert über die Sachlage im Nachbarland – gegen die Springer-Presse und die Notstandsgesetze der Großen Koalition demonstrierten.6 Stattdessen dominieren die West-Berliner Ereignisse und Protagonisten, da die geteilte Stadt neben Frankfurt am Main zum „Zentrum des Protests in Deutschland“ gehört habe. Ein lokalgeschichtlicher Zugriff ist durchaus gerechtfertigt, aber die globalen Kontexte sowie die wechselseitigen Wahrnehmungen hätten deutlicher herausgestellt werden können. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die Ausstellungsmacher auf eine bilinguale Kommentierung verzichteten – Besucher und Besucherinnen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, müssen sich mit der Suggestionskraft der Bilder begnügen.

Überhaupt lässt der Informationsgehalt der Ausstellung zu wünschen übrig. Die Schau setzt vorrangig auf symbolische Verdichtungen, Tondokumente und bisweilen obskure Devotionalien – Hintergrundinformationen in Textform fallen hingegen spärlich aus. Um das überbordende Ensemble von Bildern und Ausstellungsstücken einordnen zu können, muss das Publikum daher einiges an Vorwissen mitbringen. Insbesondere die Fotoausstellung im Obergeschoss ist lediglich minimal kommentiert. Oftmals begnügten sich die Ausstellungsmacher mit knappen Bemerkungen wie „Ku’damm Ostern 1968“, „Demonstrationsszene 1968“ oder schlicht „Berlin 1968“. Auf einen begleitenden Katalog haben die Verantwortlichen verzichtet – stattdessen gibt es ein umfangreiches Begleitprogramm, wobei insbesondere eine Gesprächsreihe zur Ausstellung für die notwendige Kontextualisierung sorgen soll.7 Dieses Programm ist zwar abwechslungsreich und spannend, doch welcher Ausstellungsbesucher hat schon die Zeit, sämtlichen Veranstaltungen beizuwohnen?

Demjenigen, der sich mit dem Ereigniskomplex „1968“ bereits auskennt – sei es durch eigene Zeiterfahrungen oder die professionelle Beschäftigung mit dem Gegenstand –, wird die Ausstellung wenig bis gar nichts Neues bieten. All jene aber, die kaum Vorwissen mitbringen, erhalten im Rahmen der Ausstellung keine Orientierung.8 Durch die einseitige Akzentuierung spektakulärer Demonstrationen und Straßenschlachten werden die späten 1960er-Jahre als revolutionärer Einschnitt in die Geschichte der Bundesrepublik inszeniert, was nicht zuletzt den konservativen Gegnern von „1968“ in die Hände spielen dürfte.9 Und dass die Besucherinnen und Besucher zu einer Abstimmung aufgefordert sind, ob „die Studentenbewegung die Gesellschaft positiv oder negativ beeinflusst“ habe (zu beantworten mit „Pro“, „Contra“ oder „keine Meinung“), lässt sich nicht ernsthaft als politische Bildung bezeichnen – zumal sich das Abstimmungsergebnis beliebig manipulieren lässt.

Anmerkungen:
1 Gilcher-Holtey, Ingrid, Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2001, S. 35.
2 Auch im Historischen Museum in Frankfurt am Main wird zu diesem Thema eine Ausstellung zu sehen sein: „Die 68er. Kurzer Sommer – lange Wirkung“ (1. Mai bis 31. August 2008; siehe <http://www.die-68er.de>).
3 Etzemüller, Thomas, 1968 – Ein Riss in der Geschichte? Gesellschaftlicher Umbruch und 68er-Bewegungen in Westdeutschland und Schweden, Konstanz 2005, S. 9 (rezensiert von Franz-Werner Kersting: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-2-058>).
4 Vgl. etwa Mausbach, Wilfried, Wende um 360 Grad? Nationalsozialismus und Judenvernichtung in der „zweiten Gründungsphase“ der Bundesrepublik, in: Hodenberg, Christina von; Siegfried, Detlef (Hrsg.), Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 15-47.
5 Siehe hierzu die umfassende Studie von Siegfried, Detlef, Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, sowie von Hodenberg; Siegfried, Wo „1968“ liegt (beide rezensiert von Philipp Gassert: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-183>).
6 Vgl. Frei, Norbert, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008, S. 12.
7 Das begleitende Diskussionsprogramm findet sich unter <http://www.bpb.de/veranstaltungen/AA676K> (14.3.2008).
8 Immerhin werden für Schulklassen und Gruppen ab zehn Personen Führungen angeboten.
9 Als jüngstes Beispiel für eine völlig holzschnittartige „68er“-Kritik vgl. den Artikel des brandenburgischen CDU-Innenministers Jörg Schönbohm, 1968 – Selbstbetrug einer Generation, in: Tagesspiegel, 9.3.2008, S. 8, online unter <http://www.tagesspiegel.de/meinung/kommentare/1968%3Bart141,2491296> (14.3.2008).