K. Bade: Sozialhistorische Migrationsforschung

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Titel
Sozialhistorische Migrationsforschung. Hg. von Michael Bommes und Jochen Oltmer


Autor(en)
Bade, Klaus J.
Reihe
Studien zur historischen Migrationsforschung 13
Erschienen
Göttingen 2004: V&R unipress
Anzahl Seiten
548 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Kleinschmidt, Graduate School of Humanities and Social Sciences, University of Tsukuba

Der Osnabrücker Neuzeithistoriker Klaus Jürgen Bade legt mit diesem Band einige seiner wissenschaftlichen Aufsätze zur Migrationsgeschichte erneut vor, die im Zeitraum zwischen 1980 und 2003 veröffentlicht wurden. Fast zeitgleich publizierte Bade im Jahr 2005 eine „Internet-Ausgabe“ seiner Torso gebliebenen Erlanger Habilitationsschrift aus dem Jahr 1979 unter dem neuen Titel „Land oder Arbeit. Transnationale und interne Migration im deutschen Nordosten vor dem Ersten Weltkrieg“ (<http://www.imis.uni-osnabrueck.de/BadeHabil.pdf>). Die im zweiten Teil des Sammelbands abgedruckten Aufsätze basieren auf der Habilitationsschrift.

Im methodologischen Teil (S. 13-48) grenzt Bade seine Praxis der historischen Migrationsforschung gegen andere Verfahrensweisen ab. In Anknüpfung an die Soziologie der 1920er-Jahre will er „Wanderungsgeschehen“ und „Wanderungsverhalten“ zunächst untersuchen und dann „einbetten“ „in die Bevölkerungs-, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte“ (S. 20). Die Politikgeschichte soll unberücksichtigt bleiben. „Qualifizierend“ will Bade vorgehen, wobei er sich mit Migration „als einem außerordentlich komplexen Spektrum historischer Wirklichkeit konfrontiert“ sieht (S. 28). Bade reduziert Migration auf Gesamtvorgänge, die ganze Bevölkerungsgruppen als „Massen“ betreffen, und stellt Hypothesen über Migrationsgründe auf, die für Populationen erschlossen werden sollen. Dazu dienen Bade quantitative Quellen, insbesondere Erhebungen zur Geschichte des Arbeitsmarkts.

Als zweiter Teil ist ein Aufsatz zur Gesellenwanderung vor allem des 18. Jahrhunderts eingeschoben (S. 49-87). Darin zeigt Bade die scheinbaren Aporien des Zunftwesens auf, dessen Niedergang er für seinen Berichtszeitraum konstatiert. Bade singt hier ein Loblied auf die Gewerbefreiheit; Migrationsgeschichte ist ihm Mittel der bürgerlichen Absolutismuskritik.

Die Aufsätze des dritten Teils (S. 89-388) führen die methodologischen Grundsätze aus und behandeln für den Zeitraum zwischen 1879 und 1914 Auswanderung aus den preußischen Ostprovinzen (im Wesentlichen in die USA), innerpreußische Migration (zumeist in das Ruhrgebiet), preußisch-sächsische Migration sowie Einwanderung in die preußischen Ostprovinzen (zumeist aus Polen). Bades These lautet, dass dieses „Wanderungsgeschehen“ interdependent gewesen sei. Armut und Landnot im preußischen Osten verursachten Auswanderung in die USA, in die preußischen Westprovinzen sowie nach Sachsen, zogen „Leutenot“ im preußischen Osten nach sich, Einwanderung von „Auslandspolen“ und anderen Gruppen aus Ostmittel- und Osteuropa. Dies wiederum führte zu xenophoben administrativen Maßnahmen mit dem Ziel der Immigrationsrestriktion. Bade versteht Migrationsgeschichte als arbeitsökonomisch bedingte deutsche Aus-, Binnen- und Einwanderungsgeschichte.

Im vierten Teil (S. 389-500) bezieht Bade zu deutschen migrationspolitischen Kontroversen an der Wende zum 21. Jahrhundert Stellung, fordert die politische Anerkennung Deutschlands als „Einwanderungsland“, taxiert die politischen Kosten der Selbstbeschreibung Deutschlands als „Nicht-Einwanderungsland“ und kritisiert die Migrationspolitik der Bundesregierungen als improvisierend und inkonsistent. Der abschließende fünfte Teil (S. 501-546) wiederholt noch einmal Bades Kernthese, dass Deutschland stets sowohl Aus- wie auch Einwanderungsland gewesen sei.

„Sozialhistorische Migrationsforschung“ in der Konzeption Bades ist sinnvoll, im Kontext der Forschung des 21. Jahrhunderts aber unzureichend. Auch in Bades jüngsten Veröffentlichungen zur Migrationsgeschichte fehlt jedes Verständnis dafür, dass der Migrationsbegriff selbst in den letzten 20 Jahren politisiert worden ist. Rein soziologische Definitionen, die Bade weiterhin wie in den 1970er-Jahren positivistisch anwendet, sind längst der Einsicht gewichen (Anthony Fielding, Arie de Haan, Nikos Papastergiadis, Peter Stalker, Aristide Zolberg), dass Vorstellungen der Migranten selbst mindestens in die wissenschaftliche Begriffsbildung, wenn schon nicht in die politische Praxis, einbezogen werden müssen. Im Vordergrund von Bades forschendem Interesse stehen jedoch nicht Migranten, sondern die Art, wie Gesellschaft mit Migranten umgeht und umgehen soll.

Bade ist sich der migrationspolitischen Voreingenommenheit seiner Quellen nicht hinreichend bewusst. Er benutzt hauptsächlich die amtliche Statistik, die er gelegentlich mit Prisen aus der Korrespondenz Bismarcks mit Kultusminister von Goßler zur negativen preußischen Polenpolitik sowie mit kathedersozialistischen Analysen anreichert. Die amtliche Statistik ist aber, wie Bade selbst weiß, nicht in der Lage, Migration angemessen zu erfassen – insbesondere transnationale Migration. Wie in Bades Statistiken entschwinden auch in seiner Darstellung Migranten aus dem Blickfeld, sobald sie den Kontrollbereich eines „Auswanderungshafens“ verlassen haben, und sie geraten erst in Bades Suchlichtkegel, nachdem sie einen Fuß auf deutsche Erde gesetzt haben. Bades Bezugsgröße für transnationale Migration ist das Deutsche Reich. Historische Migrationsforschung gerinnt zu einem Teilbereich der historischen Arbeitsmarktforschung. Die Perspektive in Bades „Europa in Bewegung“ (München 2000) ist vergrößert, der Struktur nach aber dieselbe wie in seinen früheren Werken.

Bade übernimmt nicht nur die nationalpolitische Enge seiner Statistiken, sondern auch ein Gutteil der Einstellungen, die er ohne Kommentar (S. 136, Anm. 90, S. 211) zitiert. Diese Einstellungen sind, wie Bade sehr wohl erkennt, rassistisch. In seinen Aufsätzen feiern schwer fassbare „Schubkräfte“ fröhliche Urständ. Wie in einem Wasserschlauch pumpen sie Massen armer Tagelöhner aus dem preußischen Osten in den preußischen Westen und nach Nordamerika und saugen ebensolche Massen von „Auslandspolen“ in den preußischen Osten. Statistiken knetet Bade solange, bis er aus ihnen wirtschaftliche Not als hauptsächliches Migrationsmotiv geformt hat und dieses seinen amorphen Auswanderermassen überstülpen kann.

Die Herausgeber seiner Aufsätze preisen Bade dafür, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung „zur Dämpfung von unangemessenen wissenschaftlichen und politischen Aufgeregtheiten“ eingesetzt zu haben (S. 10). Das ist ehrenvoll. Aber ist es auch hilfreich? Eine Politik, die weniger rational als relational ist und nach den Ergebnissen der publizistischen Nachrichtenforschung nicht primär der Aufklärung dienen will, geht erfahrungsgemäß über wissenschaftliche Quisquilien schnell hinweg. Bade bewegt sich – wie die Politik – zudem nur in den engen Grenzen der derzeit existierenden Staaten. Dass es in Europa eine regionale Migrationspolitik geben muss, gerät nicht ins Blickfeld. Die EU-Kommission steht nicht im Verdacht, Lobbyistin für Migranteninteressen zu sein. Dennoch hat sie seit den 1990er-Jahren migrationspolitische Initiativen ergriffen, die von mehr Liberalismus und humanitärer Gesinnung getragen waren als diejenigen der Regierungen der Mitgliedsstaaten. Letztere, die deutsche Regierung allen voran, haben diese Initiativen durchweg niedergewalzt. Dafür mag es viele Gründe geben. Einer davon ist, dass es in Deutschland für europäische Migrationspolitik keine Lobby gibt. Dies ist bedauerlich, denn die EU-Kommission gehört zu den wenigen Institutionen, die zumindest ahnen, dass sich der Migrationsdiskurs radikal von der Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen gesellschaftlicher Integration abgewandt und der Forderung nach Beachtung der Personalität der Migranten zugewandt hat. Damit treten persönliche Einstellungen, Wahrnehmungen, Forderungen und Sicherheitsbedürfnisse der Migranten in den Vordergrund – anstelle von amtlichen Mutmaßungen über Befindlichkeiten von Menschen in Bewegung. Dieser Paradigmenwechsel hat offensichtlich weder in die Beratungen des so genannten Zuwanderungsrats Eingang gefunden noch Bades Interesse erregt.

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