Schalenberg u.a. (Hgg.): "...immer im Forschen bleiben!"

Cover
Titel
'... immer im Forschen bleiben!'. Rüdiger vom Bruch zum 60. Geburtstag


Herausgeber
Schalenberg, Marc; Walther, Peter Th.
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
437 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eckhardt Fuchs, Lehrstuhl Erziehungswissenschaft I, Universität Mannheim

Das Besprechen von Festschriften ist ein ambivalentes Unterfangen: Einerseits geht ein Rezensent dieses Genres selten fehl in der Annahme, dass die Beiträge von engen Kollegen, Freunden und Schülern stammen, dass der Gesamtaufbau des Bandes sich an den Arbeitsschwerpunkten des Jubilars orientiert und dass wenig Kohärenz von den einzelnen Beiträgen zu erwarten ist. Der Zweck besteht schließlich in der Regel zuvorderst in der Würdigung und erst an zweiter Stelle im wissenschaftlichen Anspruch. Das eine muss aber das andere nicht ausschließen, und so können andererseits gerade Festschriften zuweilen eine Fundgrube bilden, in der sich neue Ideen oder provokative Thesen finden lassen, die der eine oder andere Autor anderswo vielleicht (noch) nicht veröffentlicht hätte. Man tut daher wohl gut daran, weniger den Gesamtband zu besprechen oder dessen Bedeutung an der Namhaftigkeit der Beiträger bzw. der Länge der tabula gratulatoria zu bemessen, als auf Goldgräbersuche in den Einzelbeiträgen zu gehen.

Die vorliegende Festschrift ist dem Berliner Historiker für Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Rüdiger vom Bruch, gewidmet. In ihrer kurzen, aber sehr persönlich gefassten Einleitung beschreiben die beiden Herausgeber die wichtigsten Lebensstationen ihres akademischen Lehrers und verweisen mit dem für den Titel ausgewählten Zitat auf die Grundintention der Arbeit von vom Bruchs ein auf liberalen und humanistischen Bildungstraditionen beruhender Forschungs- und Lehrimperativ Humboldtscher Provenienz, der aber stets kritische Distanz zu einem rezeptionsgeschichtlich verklärten "Universitätsmodell" wahrte. Sich an zentralen Forschungsgebieten vom Bruchs orientierend, sind die insgesamt zwanzig Beiträge in vier Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel zu Bürgertum und Kultur in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert wird durch den Beitrag von M. Schalenberg über die Wirksamkeit und Relevanz der Italienreferenz unter den urban-elitären Gebildeten Berlins um 1800 eingeleitet, die, so die These, zwischen 1790 und 1830 einen bedeutenden Einfluss auf das zeitgenössische Verständnis von "Bildung" ausübte. Konzipiert als Sozialgeschichte der Ideen skizziert Schalenberg mit seinen Überlegungen ein Forschungsfeld, in dem durch sozial, politisch, semantisch und diskursstrategisch aufzufächernde "Dekonstruktionsstudien" das Selbstverständnis urbaner Milieus nicht allein aus der Innenperspektive, sondern auch aus deren Auseinandersetzung mit externen Bezügen zu verstehen ist. Nicht nur die Aufsätze von A. Lees über bürgerliche Reformansätze in der Großstadt des kaiserlichen Deutschlands und von J. Thiel über die Fremd- und Feindbilder von belgischen Arbeitern vor und im Ersten Weltkrieg, sondern auch die anderen Beiträge zeigen bereits in diesem ersten Kapitel sowohl die große Bandbreite der behandelten Themen als auch die Vielfalt der methodischen Zugänge. Während etwa G. Hübinger in seiner auch stilistisch sehr lesenswerten "dichten" Textanalyse der "Buddenbrooks" die Selbstzuschreibung Thomas Manns als Vordenker der Weberschen idealtypischen Kategorien der Askese und protestantischen Ethik überzeugend widerlegt, rekonstruiert R. Chickering basierend auf einer breiten Quellengrundlage minutiös den Luftkrieg über Freiburg im Ersten Weltkrieg, auch wenn die im Titel avisierte Verbindung von Krieg und Wissenschaft eher unterbelichtet bleibt. W. Siemann hingegen greift in seinem ausführlichen Beitrag neuere kulturgeschichtliche Ansätze auf, indem er am Beispiel ausgewählter Parlamentsgebäude in den USA, Großbritannien, der Schweiz, Österreich und Deutschland verdeutlicht, wie Architektur als Form politischer Symbolik und Inszenierung von Herrschaft - sei es als nationalistische Selbstvergewisserung oder als Abbild von Demokratie - fungiert und zugleich eine Form des kollektiven historischen Gedächtnisses bildet.

Das zweite Kapitel wendet sich der Wissenschaft und ihren Institutionen zu. Die Spannbreite der Themen reicht dabei vom politischen Professorentum in Jena am Anfang des 19. Jahrhunderts (K. Ries), über die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft in den 1920er-Jahren (S. Flachowsky/P. Nötzoldt) und die Wissenschaftspolitik an der Berliner Universität in der NS-Zeit (C. Jahr) bis zur Frage nach der Kompatibilität europäischer Wissenschaftssysteme aus historischer Perspektive (M. Middell). Auch in diesem Abschnitt finden sich interessante Thesen. So argumentiert Ries anhand seines Fallbeispiels und basierend auf seiner noch unveröffentlichten Dissertation, dass die alten universitären Korporationen ein Reformpotential nach 1800 darstellten und das politische Professorentum - man denke hier für Jena an Fichte und Luden - einen durchaus eigenständigen Beitrag beim Übergang in die "Moderne" zu leisten imstande war. Universitätspolitik ist auch das Thema von C. Jahr, der mit dem zwischen 1937 und 1942 als Rektor der Berliner Universität amtierenden Willy Hoppe einen nationalsozialistischen Historiker der "zweiten Reihe" in den Blick nimmt und dabei der generellen Frage nach der Rolle fachlich unbedeutender Wissenschaftler in der Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus nach geht. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass eben nicht nur "herausragende" Rektoren wie Theodor Mayer und Martin Heidegger oder Wissenschaftler, die direkt einen Beitrag zur Rassen- und Ausrottungspolitik leisteten, die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik legitimierten und durchsetzten, sondern eben auch die Masse der blassen und unspektakulären Wissenschaftler einen gewichtigen Beitrag zur "Gleichschaltung" der Universitäten und Instrumentalisierung der Wissenschaft leistete. Middels Untersuchung der nationalen Differenzen in der Universitätsorganisation in Europa vor 1914 offenbart, dass universitäre Reformen stets in Hinsicht auf wechselnde Raumbezüge erfolgten, d.h. mittels einer flexiblen Anpassungsstrategie an regionale, nationale, europäische und internationale Herausforderungen und Konkurrenzen reagierten. Dieses "Spiel mit den (räumlichen) Maßstäben" führte zu unterschiedlichen Zeiten zu differenten Verknüpfungen, gleichwohl, so die These, erlaubte diese Technik nicht nur eine Verbindung des universalen und gesellschaftsorientierenden Anspruchs von Wissenschaft mit ihrem Engagement für nationale und politische Interessen, sondern garantierte darüber hinaus - bis heute - trotz ihrer pfadabhängigen Entwicklung internationale Kompatibilität und Durchlässigkeit.

Das dritte Kapitel behandelt Disziplinen und ihre Geschichte. E. J. Engstroms Analyse der öffentlichen Debatten im Kaiserreich um und gegen die Psychiatrie und der Expansionsbestrebungen der universitären Psychiatrie am Beispiel ausgewählter Polikliniken sowie M. Ashs Auseinandersetzung mit der These Shulamit Volkovs zur Erklärung des relativ hohen Anteils jüdischer Wissenschaftlicher in Deutschland vor 1933 präsentieren interessante Aspekte einschlägiger Forschungen beider Autoren. So argumentiert Ash, dass Gründe für die Prominenz jüdischer Wissenschaftler - bezogen auf die Psychologie und die Sozialwissenschaften - in der nur teilweisen Institutionalisierung und Professionalisierung dieser Disziplinen, in der Säkularisierung und Modernisierung des deutschen Judentums sowie in dessen zunehmender Identifizierung mit Kultur und Staat durch die adaptive Transformation der deutschen Philosophie und der Teilhabe an der Rationalisierung und Technisierung der sozialen Welt zu finden seien. Er plädiert daher für einen breit angelegten Ansatz, der die Spezifiken lokaler akademischer und disziplinärer Kulturen einerseits und die Verflechtung von universitärer und außeruniversitärer Forschung andererseits berücksichtigt. In ihrer quellengesättigten Studie über die Ideologisierung der Slavistik an der Humboldt-Universität in den Jahren 1950/51 untersucht M.-L. Bott einen spezifischen Aspekt der ostdeutschen Hochschulreform im Bereich des Studiums. Sie zeigt die Komplexität des Prozesses, durch den sich mit der Einführung des obligatorischen Unterrichts der russischen Sprache und Literatur die Slavistik von einer akademischen Nischendisziplin zu einem Massenfach mit ideologischer Ausrichtung wandelte. Den Abschluss dieses Kapitels bildet der Aufsatz von H.-J. Rheinberger, der mit der "historischen Epistemologie" Gaston Bachelards einen Vertreter der konzeptualistischen Richtung der kritischen Auseinandersetzung der Phänomenologie Edmund Husserls vorstellt. Er demonstriert, dass Bachelards Epistemologie um zwei Kernpunkte, um den Wissenschaftler und seine Objekte sowie um die Wissenschaft als sozialen Prozess kreist. Aus unterschiedlicher Perspektive, der des Wissenschaftlers und der des Wissenschaftsprozesses, nimmt sie daher eine zweidimensionale Form an, nämlich als "Psychologie des wissenschaftlichen Geistes" einerseits, als "Praxeologie der wissenschaftlichen Arbeit" (S. 298) andererseits.

Das vierte und letzte Kapitel befasst sich mit wissenschaftlichen Grenzgängern. Behandelt werden hier der Historiker Alfred Dove als Berater Friedrich Althoffs (H. Cymorek), der Physiker Philipp Lenard (D. Hoffmann), Max Planck (E. Henning), der Biologe Georg Melchers (M. Schüring), die Philosophin und Wissenschaftshistorikerin Anneliese Mayer (A. Vogt) und die Historikerin Hedwig Hintze (P. T. Walther). Inwieweit einige der untersuchten Personen wirklich als Grenzgänger oder eher Außenseiter oder einfach Vernachlässigte einer Wissenschaftsgeschichte, die noch allzu oft im Banne der "Giganten" steht, zu bezeichnen sind, sei dahingestellt; interessante und nicht selten - wie etwa der Hitlerbesuch Plancks belegt - umstrittene Persönlichkeiten waren sie jedenfalls und die Bemühungen, sie dem Vergessen zu entreißen - und sei es auch im Sinne der Kritik wie im Fall des nationalsozialistischen Wissenschaftlers Lenard -, verdienen alle Anerkennung.

Aus gutem Grund haben die Herausgeber auf eine Begründung der Gliederung und der Zuordnung der Beiträge verzichtet. Was nach der Lektüre bleibt, ist zweierlei: Zum einen bieten die Beiträge für den neugierigen Geist viel Interessantes, zum Teil Neues und auch Überraschendes. Inwieweit der Band zur Fundgrube wird, hängt letztlich vom Erwartungshorizont und dem spezifischen Interesse des Lesers ab. Zum anderen rückt er das Werk Rüdiger vom Bruchs, das mit dieser Festschrift eine schöne und angemessene Würdigung erfährt, ins Zentrum, und dem Rezensent bleibt nur, sich den Herausgebern anzuschließen und dem Jubilar auch in Zukunft wissenschaftliche Neugier und Schaffenskraft zu wünschen.

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