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Titel
Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus


Autor(en)
Aly, Götz
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: S. Fischer
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Spoerer, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Hohenheim

Vor knapp zehn Jahren erregte ein junger amerikanischer Soziologe großes Aufsehen in der deutschen Öffentlichkeit, als er behauptete, mit dem "eliminatorischen Antisemitismus" der Deutschen den Stein der Weisen zur Erklärung des Holocausts gefunden zu haben.1 Gut aussehend, smart und zuvorkommend auftretend sah Daniel Goldhagen höflich lächelnd zu, wie sich seine Talk Show-Kontrahenten – Professoren, Feuilletonchefs und sonstige Bedenkenträger – haspelnd und stotternd in Widersprüche verwickelten.

Vor dem Hintergrund von Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Rückbau des Sozialstaats wirft nun der Politologe Götz Aly seine Thesen in den Ring und stellt Goldhagen vom Kopf auf die Füße. Argumentierte Goldhagen rein ideologisch, so ist der Antisemitismus bei Aly nur noch notwendige, nicht mehr hinreichende Bedingung für die Erklärung des Holocausts (S. 35). War bei Goldhagen der Holocaust das Explanandum, so ist es bei Aly darüber hinaus gleich der ganze Nationalsozialismus, oder doch zumindest sein Erfolg.2 Programmatisch verkündet Aly ganz am Ende seines Buches: "Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen." (S. 362) Es ist die Verquickung von Holocaust und Wohlfahrtsstaatsprinzip, die so viele aus dem politisch linken Lager, dem Aly ursprünglich entstammt, gegen ihn und seine Thesen aufbringen. Dazu kommt, dass sich Aly in seinem Buch, in seinen öffentlichen Auftritten wie auch in diversen Feuilletonbeiträgen und Interviews ganz anders gibt als der smarte Goldhagen. Konnte dieser (in Abmilderung seiner ursprünglichen These) seinem deutschen Publikum versichern, dass es heute nicht mehr antisemitisch sei, so hält Aly uns den Spiegel vor: Eure Großeltern haben sich von der nationalsozialistischen Wohlfahrtsdiktatur bestechen lassen, und ihr habt sie beerbt.

Alys Thesen sind in der Tat unbequem. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Insbesondere aus den Erfahrungen der "Heimatfront" im Ersten Weltkrieg war sich das NS-Regime der Bedeutung des materiellen Lebensstandards für die Herrschaftssicherung bewusst. Es betrieb daher eine zunächst nationale, dann internationale Umverteilungspolitik zugunsten der breiten Masse der Bevölkerung, wodurch sich das Regime die Zustimmung des Volkes erkaufte. Zu seiner materiellen Befriedung trugen – in aufsteigender Reihenfolge des individuellen Opferbeitrags – bei: die Oberschichten in Deutschland, das nichtjüdische Ausland im deutschen Machtbereich, die Juden im deutschen Machtbereich. Der Antisemitismus kommt also insoweit ins Spiel, als er Konsens – und nicht nur in Deutschland – über das letzte Glied der Ausbeutungskette herstellt. Gleichwohl reichte die Beute aus Kriegszügen und Völkermord nicht aus, die sozialpolitischen Versprechen dauerhaft einzulösen. Das nationalsozialistische Deutschland stand daher auch schon auf dem Höhepunkt seiner Macht vor der Alternative, den finanzpolitischen Offenbarungseid zu leisten oder den Krieg immer weiter zu treiben.

Alys Erklärungsansatz ist also im Grunde ein politökonomischer, dessen Logik an das Medianwählermodell erinnert (S. 37).3 Seine Analyse stützt sich auf die im Prinzip richtige Überlegung, dass sich die Güterströme zur Bestechung der einfachen Deutschen ganz überwiegend in finanziellen Gegenströmen abbilden müssen. Daher hat er vor allem Akten des Reichsfinanzministeriums, der Reichsbank und der deutschen Besatzungsorgane eingesehen.

Für die Rezension gliedere ich seine Argumentationskette in vier Thesen, die im Folgenden einzeln untersucht werden:

1. Der Holocaust war "der konsequenteste Massenraubmord der modernen Geschichte" (S. 318), der dazu diente, den NS-Staat, seine Volksgenossen und ausländische Kollaborateure zu bereichern.

2. Die Ausbeutungspolitik gegenüber dem Ausland führte dazu, dass es weit mehr zur Finanzierung des Krieges beitrug als das Deutsche Reich selbst.

3. Innerhalb des Deutschen Reichs bewirkte eine gezielte Umverteilungspolitik eine Entlastung der unteren Schichten zu Lasten der Wohlhabenden, wodurch sich das Regime die Zustimmung der Mehrheit des deutschen Volkes erkaufte.

4. Die aggressive Dynamik des Nationalsozialismus entstand aus einem sozialpolitischen Versprechen ("Volksstaat", "nationaler Sozialismus"), das allenfalls bei einem Endsieg (auf dem europäischen Kontinent) finanziell einlösbar gewesen wäre.

Zur ersten These: War der Holocaust ein "Massenraubmord", also nicht einfach "nur" ein Massenmord? Hinsichtlich dieses Punkts ist erstaunlich, dass Aly nirgends in seinem Buch (mit Ausnahme der Fußnoten, vgl. insb. S. 420) auf sein Buch über die "Endlösung" verweist.4 Hier konnte Aly m.E. überzeugend ausarbeiten, dass die Entscheidung zum Genozid an den Juden (statt Vertreibung oder Aussiedlung) aus lokalen wirtschaftlichen Problemen resultierte, für deren Lösung man diejenige ethnische Gruppe ermordete, deren Erhalt in der perversen nationalsozialistischen Rassenhierarchie am wenigsten wünschenswert war. Im Gegensatz zur Einschätzung von Hans-Ulrich Wehler scheint mir diese These sehr gut zu dem jetzt vorgelegten Erklärungsansatz zu passen.5 Im hier zu besprechenden Buch kann Aly für viele andere Orte und Zeitpunkte im Reich und im besetzten Europa eine Übereinstimmung von für die Deutschen bedrohlichen wirtschaftlichen Engpässen und dem Beginn von Ausplünderungs-, Deportations- oder Mordaktionen nachweisen. Ereignisse, die zeitlich übereinstimmen, müssen nicht zwingend kausal verknüpft sein. Doch hier erscheint mir die von Aly zusammengetragene Evidenz zumindest plausibel.

Seine Formulierung vom "Massenraubmord" ist in ihrer historiografischen Tragweite kaum zu unterschätzen, unterstellt sie doch, dass das Mordmotiv in erster Linie Raub war. Implizit ergibt sich daraus, dass der Antisemitismus nicht primär die Ursache war, sondern, ganz ähnlich wie in seinem Buch über die "Endlösung", lediglich die Auswahl der zu beraubenden und zu ermordenden Gruppe determinierte. Die weitere Forschung wird zeigen müssen, ob diese Ökonomisierung der Erklärung des Holocausts durch Aly Bestand hat – daran vorbeikommen wird sie nicht.

Die zweite These – das Ausland zahlte mehr für Deutschlands Krieg als die Deutschen selbst – lässt sich klar widerlegen. Land für Land berechnet Aly den finanziellen Beitrag des Auslands an der deutschen Kriegsfinanzierung. Für sich genommen stellen diese Ausführungen eine profunde Analyse der Kriegsfinanzierungstechnik dar. Insbesondere kann Aly überzeugend und ausführlicher als bisher darlegen, wie die Deutschen mittels Reichskreditkassenscheinen, künstlichen Wechselkursgefällen und anderen Instrumenten dafür sorgten, dass ihre Soldaten die besetzten Länder leer kaufen konnten, und zwar zu Lasten der ausländischen öffentlichen Kassen.6 Während dies in den besetzten Gebieten die Inflation anheizte, konnte das Tempo der Geldentwertung im Reich dadurch deutlich verringert werden.

Wenn Aly jedoch behauptet, "mindestens zwei Drittel der deutschen Kriegseinnahmen [seien] aus ausländischen und 'fremdrassigen' Ressourcen aufgebracht" (S. 326) worden, so beruht das schlicht auf einem Denkfehler, worauf bereits der englische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze aufmerksam gemacht hat.7 Während Aly nämlich die Lasten des Auslands einigermaßen plausibel zusammenrechnet, addiert er für Deutschland lediglich die Steuerzahlungen. Doch über die "geräuschlose" Kriegsfinanzierung gingen fast die gesamten monetären Ersparnisse der Deutschen an den Staat. Diese Ersparnisse stiegen rapide an, weil der Staat auf der einen Seite die Haushalte finanziell großzügig bedachte und auf der anderen nicht genügend Konsumgüter bereitstellen konnte. Viele Deutsche konnten oder wollten ihr Geld nicht ausgeben, so dass sich die Ersparnisse – am 30.9.1944 über 189 Mrd. RM 8 – bis zur und spätestens in der Währungsreform von 1948 im Nichts auflösten. All dies wird bei Aly ausführlich und korrekt beschrieben – um so merkwürdiger, dass er nicht einmal diskutiert, diese riesige Teilenteignung der Deutschen in seine Berechnungen zur Kriegsfinanzierung mit einzubeziehen, sondern sie als "virtuelle Kriegsschulden" (S. 339) abtut.

In seiner Replik auf Tooze behauptet Aly, dass "die Frage, wie hoch die Kriegslasten für die Deutschen nach 1945 wirklich waren, [...] uninteressant"9 sei. Dies zeigt, dass Aly Tooze' Punkt nicht verstanden hat oder nicht verstehen will. Aly selbst zeigt an vielen Stellen, dass die deutsche Bevölkerung sehr wohl um ihre Ersparnisse fürchtete und ihr Vermögen schon früh durch "Flucht in die Sachwerte" umschichten wollte, um es vor der denkbaren Enteignung durch den Fiskus zu schützen (z.B. S. 84f., 93, 336f.). Genau deswegen musste der nationalsozialistische Staat durch entsprechende Maßnahmen den Kapitalmarkt und den Immobilienmarkt einfrieren. Es ist somit Tooze uneingeschränkt zuzustimmen, dass die inländische Verschuldung in die Rechnung mit einzubeziehen ist und Aly hier einen kapitalen Denkfehler begangen hat. Natürlich bleibt die Erkenntnis, dass Deutschland das von ihm kontrollierte Ausland in hohem Umfang zur Kriegsfinanzierung heranzog. Doch dies hat die Forschung schon lange vor Aly überzeugend herausgearbeitet.10

In diesem Zusammenhang überrascht im Übrigen, dass Aly lediglich die Steuern, Sozialabgaben und Heimatüberweisungen ausländischer Arbeiter dem Anteil des Auslands an der Kriegsfinanzierung zuschlägt, nicht jedoch die – zumeist erzwungene – Arbeitsleistung selbst (S. 187ff.). Das Kapitel über Zwangsarbeit ist so wenig sorgfältig gearbeitet, dass man sich nicht vorstellen kann, dass Aly das im Literaturverzeichnis (in alter Auflage) aufgeführte Standardbuch von Ulrich Herbert oder andere Darstellungen ausgewertet haben kann. Genauso wenig hat Aly die Berechnungen von Thomas Kuczynski berücksichtigt, die, wie man auch immer inhaltlich zu ihnen stehen mag, als Diskussionsgrundlage ganz zentral für Alys Thema sind.11

Kommen wir zum dritten und zentralen Punkt für die These von "Hitlers Volksstaat". Aly breitet in aller anekdotischen Ausführlichkeit aus, wie stark die deutsche Bevölkerung vom Raub an den Juden und der Ausplünderung der besetzten Gebiete profitiert habe. Dies ist unzweifelhaft richtig. Seine Behauptung jedoch, dass es dadurch zu einer Verringerung der materiellen Ungleichheit in Deutschland gekommen sei, kann er nicht stichhaltig belegen. Zumindest für die 1930er-Jahre hat schon die ältere Forschung auf Basis der primären Einkommensverteilung eine Umverteilung von unten nach oben festgestellt (und nicht umgekehrt, wie Aly behauptet), was sich auf Basis der sekundären Einkommensverteilung bestätigen lässt.12 Während Aly einige von der NS-Propaganda groß gefeierte soziale Wohltaten des Regimes herausstellt, ignoriert er dem widersprechende Forschungsergebnisse völlig. So findet sich im selben Heft des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte, das er an anderer Stelle zitiert, ein Artikel von Jörg Baten und Andrea Wagner, in dem auf die absolute und im Vergleich zum Ausland auch relative Verschlechterung des Gesundheitsumfeldes in Deutschland hingewiesen wird, was zu einer erhöhten Sterblichkeit, gerade auch bei Kindern, führte.13 Dies sind sehr wichtige Ergebnisse, denn sie belegen an Hand des Lebensstandards, dass die NS-Sozialpolitik eben nicht das Los der Unterschichten besserte. Dies steht in Tradition zu Autoren wie Tim Mason und Rüdiger Hachtmann, die eine Verschlechterung des materiellen Lebensstandards feststellten, ohne dies jedoch "hart" belegen zu können.14 Der drastische Rückgang des sozialen Wohnungsbaus, die schleichende Verschlechterung der ärztlichen Versorgung, der Rückgang der Konsumgüterqualität und Versorgungsengpässe bei Nahrungsmitteln, all dies sind Phänomene der Vorkriegszeit, die Aly nicht oder bestenfalls beiläufig erwähnt.

Auch für die Kriegszeit ist Alys These unzureichend belegt. In der Hauptsache gründet sich seine These der stärkeren finanziellen Heranziehung der vermögenden Schichten auf erstens die Erhöhung des Körperschaftsteuersatzes bzw. die Gewinnabschöpfung und auf zweitens die Ablösung der Hauszinssteuer 1943 (S. 77ff.). Obwohl er an anderen Stellen gerne Dietrich Eichholtz’ „Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft“ zitiert, scheint Aly dort den Nachweis übersehen zu haben, dass die Vorsteuergewinne der Unternehmen zumindest bis 1942/43 viel stärker anstiegen, als durch höhere Körperschaftsteuersätze und Kriegsgewinnsteuern abgeschöpft werden konnte. Im Bundesarchiv lagern große Bestände mit Preisprüfungsberichten, die bis in das Jahr 1943 hinein belegen, dass viele, auch kleine Unternehmen trotz der Steuererhöhungen riesige Gewinnzuwächse erzielten.15 Die kurz vor Kriegsende durchgeführten drastischen Steuererhöhungen dürften für die Unternehmen, die sich zu diesem Zeitpunkt längst keine Illusionen mehr über die Kaufkraft der Reichsmark machten und in Sachwerte flüchteten, allenfalls noch buchhalterische Bedeutung gehabt haben.

Die Hauszinssteuer betraf Besitzer von Wohneigentum, das vor Juli 1918 geschaffen worden war. Sie war eine Art Lastenausgleich, mit der die von der Inflation relativ begünstigten Hausbesitzer den sozialen Wohnungsbau finanzieren sollten. Schon 1932, als der Fiskus dringend Einnahmen benötigte, wurde den Hausbesitzern eine Ablösung angeboten, d.h. sie konnten sich durch eine einmalige Zahlung ganz von der Steuerlast befreien. Etwas Ähnliches geschah 1943, nur dass den Hausbesitzern nicht die Alternative gelassen wurde, auf die Ablösung zu verzichten. Zu diesem Zeitpunkt bedeutete dies für die betroffenen Hausbesitzer einerseits eine Vermögensmehrung, da die Steuer bis dahin im Hauspreis kapitalisiert war, also den Wert minderte, andererseits eine Verschlechterung der Liquidität. Diesen komplexen Vorgang so darzustellen, dass die Hausbesitzer in besonders großem Umfang zur Kriegsfinanzierung herangezogen worden seien (vgl. auch S. 37), ist reichlich überzogen und unterstreicht einmal mehr, dass Alys Thesenfreudigkeit mit einer stupenden Unkenntnis der einschlägigen Fachliteratur, in diesem Fall der gründlichen und ausgewogenen Darstellung von Karl-Christian Führer, einhergeht.16

Im Übrigen arbeitet Aly zwar überzeugend heraus, dass die Familien in der Heimat von den Feldpostpaketen ihrer Männer, Brüder und Väter profitierten. Aber er stellt noch nicht einmal die Frage, ob dies nicht Angehörigen der Oberschicht in proportional noch größerem Umfang gelungen sein könnte – die endemische Korruption im Dritten Reich ist schließlich hinlänglich erforscht, und Korruption vergrößert bekanntlich die Ungleichheit.17 Für die Alysche Bestechungsthese wäre es streng genommen gar nicht nötig, eine Abnahme der Ungleichheit festzustellen, wenn es nur der Mehrheit der Deutschen besser gegangen wäre. Aber dies war eindeutig nicht der Fall. Trotz des Raubs an jüdischem und ausländischem Vermögen ging im Krieg die Versorgung mit Konsumgütern deutlich zurück – sie erreichte im Übrigen niemals während des NS-Regimes den Wert von 1928.18 Dies spiegelte sich auch in den rapide steigenden Schwarzmarktpreisen wider.19 Stattdessen die offiziellen Darstellungen, die einen "geringfügigen Anstieg der Lebenshaltungskosten im Krieg" (S. 71) suggerierten, unkommentiert zu übernehmen, ist irreführend. Überhaupt erweckt Alys Darstellung zuweilen den Eindruck, dass er Geldillusion unterliegt – oder sie zumindest bei den Lesern unterstellt, denen er mitteilt, "im allgemeinen [habe] die übergroße, damals noch ziemlich knapp bemittelte Mehrheit der Deutschen im Krieg über mehr Geld als in den letzten Friedensjahren" (S. 327) verfügt, ohne auf den starken Verfall der Kaufkraft hinzuweisen. Seine dritte These lässt sich also für die 1930er-Jahre klar widerlegen, und für die 1940er-Jahre hat er keine Evidenz, die seine These stützt. Hier ist Aly allzu bereitwillig der NS-Propaganda auf den Leim gegangen.

Die Tatsache, dass Alys Thesen 2 und 3 klar widerlegbar sind, tangiert nicht zwingend seine vierte These von der Dynamik des Regimes (die im Übrigen, wiederum unausgesprochen, an Mason anknüpft). Denn während er in der Einschätzung der Relationen falsch liegt, so kann doch einerseits an der Tatsache der Ausplünderung des Auslands und der Juden sowie andererseits in dem Versuch der materiellen Befriedung des eigenen Volks kaum ein Zweifel bestehen. Alys Synthese dieser beiden Tatbestände ergibt in der Tat eine zwingend wirkende Dynamik, die seiner – unausgesprochenen – Ökonomisierung der Erklärung des NS-Regimes wie auch des Holocausts ein empirisches Fundament gibt. Auch hieran wird sich die zukünftige Forschung abarbeiten müssen.

Die Thesen Goldhagens interessiert heute nur noch die Rezeptionsforschung. Was bleibt von Alys "Volksstaat"? Obwohl Aly in seinem Hauptanliegen scheitert, das NS-Regime als umverteilende Wohlfahrtsdiktatur zu beschreiben, wird von seinem Buch mehr bleiben als von Goldhagens "willing executioners", weil er die NS-Forschung in zweierlei Hinsicht mindestens zu kritischer Gegenrede inspirieren wird, meines Erachtens auch weiterbringt. Zum einen ist ihm mit der Beschreibung der Ausbeutung der besetzten Gebiete durch das Deutsche Reich und seine Soldaten ein großer Wurf gelungen. So detailliert ist die Funktionsweise der Reichskreditkassenscheine noch nicht beschrieben worden, und die Bedeutung der Feldpostpakete für die materielle Versorgung der Bevölkerung im Reich erkannt zu haben, ist, wenn wir Alys Zahlen Glauben schenken dürfen, tatsächlich ein Verdienst. Aly hat darüber hinaus in viel stärkerem Maße, als dies bisher geschehen ist, darauf verwiesen, dass eben nicht nur Industrieunternehmen, Banken und Versicherungen von Krieg und Holocaust profitierten, sondern auch die "kleinen Volksgenossen". Zum anderen ergibt das Zusammenspiel des Versuchs, die Heimatfront durch materielle Bestechung ruhig zu halten und die dafür erforderliche Forcierung der Ausplünderung des Auslands und der europäischen Juden eine Dynamik, die sehr plausibel wirkt. Die Erklärung der Radikalisierung nicht nur des NS-Regimes sondern der ganzen deutschen Gesellschaft bedarf daher nicht des Rekurrierens auf angeblich spezifisch deutsche Dispositionen, sondern wird, wenn man so will, "rationalisiert".

Wenn Aly hier stehen geblieben wäre, hätte er ein bedeutendes Buch geschrieben. Doch die Provokation, die in der Überspitzung seiner Thesen zum "Volksstaat" liegt, basiert auf gravierenden handwerklichen Fehlern, die sich – bei wohlmeinender Interpretation – nur aus einem gewissen Autismus gegenüber der Forschung erklären lassen. Spätestens im Oberseminar lernen angehende Historiker, dass fleißiges Quellensammeln nicht alles ist, mag der Entdeckerstolz auch noch groß sein. Die Einbettung der eigenen Ergebnisse in den Forschungsstand ist eben kein langweiliges akademisches Ritual, sondern dient der Selbstreflexion und -bescheidung. Wir alle sind nur Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen.20

Anmerkungen:
1 Goldhagen, Daniel J., Hitler's Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, London 1996.
2 Aly, Götz, Wie die Nazis ihr Volk kauften, in: Die Zeit 15/2005 (28.04.2005), (http://zeus.zeit.de/text/2005/15/Erwiderung_Wehler; Zugriff am 5.5.2005).
3 Vgl. zum Medianwählermodell z.B. Blankart, Charles B., Öffentliche Finanzen in der Demokratie. Eine Einführung in die Finanzwissenschaft, München 2003, S. 114-116. Seine Logik lässt sich ohne weiteres auf Diktaturen übertragen.
4 Aly, Götz, "Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995*.
5 Wehler, Hans-Ulrich, Engstirniger Materialismus, in: Der Spiegel 14/2005 (04.04.2005) (http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,349320,00.html; Zugriff am 5.5.2005).
6 Im Grundsatz bereits beschrieben bei: Boelcke, Willi A., Die Kosten von Hitlers Krieg. Kriegsfinanzierung und finanzielles Kriegserbe in Deutschland 1933-1948, Paderborn 1985*, S. 108f.
7 Tooze, J. Adam, Einfach verkalkuliert, in: taz Magazin Nr. 7613 (12.03.2005) (http://www.taz.de/pt/2005/03/12/a0289.nf/text.ges,1; Zugriff am 5.5.2005).
8 Deutsche Bundesbank (Hg.), Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876-1975, Frankfurt am Main 1976*, S. 18.
9 Aly, Götz, Nicht falsch, sondern anders gerechnet, in: taz Nr. 7615 (15.03.2005), S. 17 (http://www.taz.de/pt/2005/03/15/a0190.nf/textdruck; Zugriff am 5.5.2005). An anderer Stelle spielt Aly diesen zentralen Kritikpunkt als "eher marginal" herunter: Aly, Götz, Wie die Nazis ihr Volk kauften, in: Die Zeit 15/2005 (28.04.2005) (http://zeus.zeit.de/text/2005/15/Erwiderung_Wehler; Zugriff am 5.5.2005).
10 Boelcke, Willi A., Kosten von Hitlers Krieg. Kriegsfinanzierung und finanzielles Kriegserbe in Deutschland 1933-1948, Paderborn 1985; Buchheim, Christoph, Die besetzten Länder im Dienste der deutschen Kriegswirtschaft. Ein Bericht der Forschungsstelle für Wehrwirtschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986), S. 117-145.
11 Herbert, Ulrich, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999 (Erstaufl. 1985*); Spoerer, Mark, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Dritten Reich und im besetzten Europa 1939-1945, Stuttgart 2001, insb. S. 151-166; Kuczynski, Thomas, Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im "Dritten Reich" auf der Basis der damals erzielten zusätzlichen Einnahmen und Gewinne, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 15,2 (2000), S. 15-63.
12 Vgl. Petzina, Dietmar, Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, Wiesbaden 1977, S. 121f.; Dumke, Rolf, Income Inequality and Industrialization in Germany, 1850-1913: Images, Trends and Causes of Historical Inequality, in: Research in Economic History 11 (1988), S. 1-47, hier zum Zeitraum 1925-1938 S. 10-19; Spoerer, Mark, Demontage eines Mythos? Zu der Kontroverse über das nationalsozialistische "Wirtschaftswunder", in: Geschichte und Gesellschaft (erscheint demnächst). Aly ist dieser Aufsatz schon seit längerem bekannt.
13 Baten, Jörg; Wagner, Andrea, Mangelernährung, Krankheit und Sterblichkeit im NS-Wirtschaftsaufschwung (1933-1937), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2003, Heft 1, S. 99-123; Andrea Wagner hat dies in einem weiteren Artikel ausgeführt: Wagner, Andrea, Ein Human Development Index für Deutschland. Die Entwicklung des Lebensstandards von 1920 bis 1960, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2003, Nr. 2, S. 171-199, insb. S. 191, Tab. A-11.
14 Mason, Timothy W., Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft: Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975*; Hachtmann, Rüdiger, Lebenshaltungskosten und Reallöhne während des "Dritten Reichs", in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 75 (1988), S. 32-73.
15 Eichholtz, Dietrich, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945, Bd. II: 1941-1943, Berlin 1985*, S. 513-569; Spoerer, Mark, Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925-1941, Stuttgart 1996; Bundesarchiv, R 2/5235-5245, 5541-5549.
16 Vgl. Führer, Karl C., Mieter, Hausbesitzer, Staat und Wohnungsmarkt. Wohnungsmangel und Wohnungszwangswirtschaft in Deutschland 1914-1960, Stuttgart 1995, S. 226-230; vgl. ferner Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen, Praxisfragen zum Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz, Berlin 2003, S. 53.
17 Bajohr, Frank, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt am Main 2001.
18 Vgl. Spoerer, Mark, Demontage eines Mythos; Tooze, Adam, Doch falsch gerechnet – weil falsch gedacht, in: taz Nr. 7616 (16.03.2005), S. 16 (http://www.taz.de/pt/2005/03/16/a0205.nf/textdruck; Zugriff am 5.5.2005).
19 Boelcke, Willi A., Der Schwarzmarkt 1945-1948. Vom Überleben nach dem Kriege, Braunschweig 1986, S. 9-31.
20 Alys Diskussion des Forschungsstands erschöpft sich auf knapp drei Druckseiten (S. 39, 41-43), wo er anderen Forschern folgendes attestiert: "verlieren sich [...] im Lokalen", "akademisch-selbstgenügsame[s] Herumgestochere", "affirmativ", "befangen", "steril", "Blindheit".

Anmerkung: Werke, die sich bei Aly im Literaturverzeichnis befinden, sind mit * markiert.

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