Titel
Dresdner Maiaufstand und Reichsverfassung 1849. Revolutionäres Nachbeben oder demokratische politische Kultur?


Herausgeber
Schattkowsky, Martina; unter Mitarb. von Uwe John
Reihe
Schriften zur sächsischen Landesgeschichte 1
Erschienen
Anzahl Seiten
209 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Becker, Frank

Schon seit längerem wird von der Forschung zur Französischen Revolution betont, daß sich dieses epochale Ereignis auch und vor allem mit einem Umbruch der politischen Kultur verbunden habe. Zwischen 1789 und 1799 seien in Frankreich jene politischen Vorstellungen, Verhaltensmuster und Rituale erprobt worden, die für die politische Moderne insgesamt kennzeichnend werden sollten. Diese Sichtweise legte auch neue Fragen an die deutsche Revolution von 1848/49 nahe: Sind hier ebenfalls Veränderungen in der politischen Kultur ausgelöst worden? Bilden diese Veränderungen möglicherweise sogar einen wichtigen Ertrag der Revolution, der die These von ihrem Scheitern relativiert, eine These, die bisher sehr einseitig die Ebene von Staat und Verfassung dominant setzte?

Veränderungen der politischen Kultur sind empirisch zu fassen, indem die Vorstellungswelt der Menschen und die hiervon abgeleiteten Verhaltensweisen untersucht werden. Auswirkungen der Revolution, die sich auf diesem Feld sicherlich primär als Partizipationsansprüche und -praktiken definieren lassen, müßten gerade dort bemerkbar werden, wo die Bevölkerung regelrecht aufgefordert war, jenseits behördlicher Vorgaben ihren politischen Willen zu artikulieren. In der Reichsverfassungskampagne vom Frühjahr 1849 war eine solche Situation gegeben. Der Beginn der Revolution lag immerhin bereits ein ganzes Jahr zurück, so daß es plausibel erscheint, schon ein recht nachhaltiges Einwirken der neuen Normen auf das Bewußtsein der Menschen anzunehmen. Und der spezifische Anlaß, bei dem es gerade darum ging, den sich beschleunigenden Machtverlust der demokratisch legitimierten Einrichtungen aufzuhalten, bildete einen denkbar geeigneten Rahmen für die Demonstration politischer Teilhabe.

An dieser Stelle setzt der von Martina Schattkowsky herausgegebene Sammelband an, der aus einem Kolloquium des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden vom Mai 1999 hervorgegangen ist. Der Band benutzt die Reichsverfassungskampagne und die Auseinandersetzungen in ihrem Umfeld als Gradmesser für den Entwicklungsstand einer demokratischen politischen Kultur in Deutschland. Im Zentrum steht dabei Sachsen, das ebenso wie Baden und die bayerische Pfalz im Frühjahr 1849 zum Schauplatz bewaffneter Aufstände wurde. Um die für Sachsen ermittelten Befunde besser konturieren zu können, werden zum Vergleich aber auch noch andere Regionen des näheren - Thüringen, Sachsen-Anhalt - und weiteren - Württemberg, Ostfriesland - Umlands herangezogen. Daß das Hauptaugenmerk damit der deutschen Provinz gehört, ein Umstand, der die ältere Revolutionsforschung darin bestärkte, die gesamte Verfassungskampagne zu einem “revolutionären Nachbeben” ohne klares Sozialprofil und eindeutige politische Programmatik zu verharmlosen, kommt den Intentionen des Bandes entgegen, der sich gerade nicht mit den Metropolen, sondern mit der ‘durchschnittlichen’ Bevölkerung befassen will.

Diese ‘durchschnittliche’ Bevölkerung setzte sich sehr wohl auch dort, wo es nicht zu bewaffneten Aufständen kam, mit Nachdruck für die Gültigkeit der Paulskirchenverfassung von 1848 ein, wie Dieter Langewiesche am Beispiel von Württemberg und Ostfriesland aufzeigt. In Württemberg war sogar der Sonderfall gegeben, daß der König die Verfassung zunächst zurückwies, dann aber einlenkte, als Kammer, Bürgerwehren und Volksmassen gemeinsam gegen ihn Front machten. Damit stellte sich in Württemberg der Konsens wieder her, der für das revolutionäre Geschehen seit dem März 1848 bestimmend gewesen war: Liberale wie Demokraten begnügten sich mit der Konstitutionalisierung der Monarchie, und der König akzeptierte seine neue Rolle als “als eine Art Präsident mit Erbberechtigung” (S.19). Fortan fühlten sich die fortschrittlichen Kräfte dazu berufen, auch in anderen Ländern, die die Verfassung nicht anerkannten, einen Umschwung der Verhältnisse herbeizuführen. Die bekannte Reutlinger Pfingstversammlung wollte dieses Ziel mit militärischen Mitteln erreichen. Die Truppen der verfassungstreuen Länder sollten im Verbund mit Volkswehren den Verfassungsgegnern Paroli bieten. Die Aussichtslosigkeit eines solchen Unternehmens angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse ließ diese Pläne ebenso scheitern wie das Fehlen einer zentralen Führung: Die nationalen Institutionen in Frankfurt waren längst in Auflösung begriffen.- In Ostfriesland gelang es den liberalen und demokratischen Kräften nicht, den König in Hannover noch einmal umzustimmen. Dennoch ist bemerkenswert, wie zahlreich die Initiativen waren, mit denen große Teile der Bevölkerung auf dieses Ziel hinwirkten. Es gab Aufrufe von politischen Vereinen, von Wahlmännern, kommunalen Gremien und Bürgermeistern, und zahlreiche Deputationen wurden in die Landeshauptstadt entsandt. Phasenweise “schien sich Ostfriesland in eine einzige große Volksversammlung zu verwandeln” (S.24). Daß diese Aktivitäten letztlich ohne greifbares Ergebnis blieben, so wieder Langewiesches Fazit, war auf das Fehlen einer Bündelung, einer zentralen Lenkung zurückzuführen - wie es ohnehin das Dilemma der revolutionären Kräfte des Jahres 1849 war, daß sie sich in der Provinz verzettelten, während die Gegenrevolution nicht nur von einer nationalen, sondern sogar internationalen Kooperation profitierte.

Auch in Dresden, so das Fazit des Beitrags von Jens Flöter, der den Leser in gedrängter Form über Vorgeschichte und Geschichte der Revolution in Sachsen informiert, fehlte den Aufständischen jede Unterstützung von außen. Als entscheidend für die Durchsetzung der konservativen Kräfte erwies sich aber auch, daß jene Teile der regulären Truppen, die als unzuverlässig galten, rechtzeitig an die Zentralgewalt für den Kampf gegen Dänemark überstellt worden waren; die restlichen Verbände blieben standhaft. So konnte den Revolutionären nicht gelingen, was oft ihren Erfolg ermöglicht hatte: fürstliche Truppen zum Überlaufen zu bewegen.– Einen ganz anderen methodischen Zugriff wählt Hartmut Zwahr, indem er drei sogenannte “Egodokumente” von Personen, die in den Dresdner Maiaufstand involviert waren, auf die dort zum Ausdruck kommenden Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Revolution hin befragt. Ein liberaler Wirtschaftsbürger befürchtet in einem Brief an seinen Bruder vor allem Geschäftsschädigungen, ein republikanischer Arzt vergleicht sein Schicksal in einem Gefängnistagebuch mit demjenigen Robert Blums, ein demokratischer Zigarrenarbeiter gibt im Polizeiverhör zu Protokoll, daß er vor allem das Land Sachsen gegen die Invasion preußischer Truppen habe schützen wollen. So bemerkenswert diese Selbstzeugnisse sind, so wenig ist Zwahr jedoch zuzustimmen, wenn er in einer Schlußbemerkung auf die grundsätzliche Überlegenheit von mikro- gegenüber makrohistorischen Untersuchungen hinweist. Schon seine eigenen Quellen machen die Problematik der Mikrohistorie mehr als deutlich: Alle Äußerungen sind in höchstem Maße kontextabhängig. Zwischen den Brüdern aus der Unternehmerfamilie können sich spezifische Dialogformen und Themenwahlen etabliert haben, die in anderen Kommunikationszusammenhängen möglicherweise keine Rolle spielen; in einem Gefängnistagebuch, das konfisziert werden könnte, spart man heikle politische Fragen aus; gegenüber der Polizei wird in der Regel nur das zu Protokoll gegeben, was zur Entlastung beiträgt. Auch das Wissen um diese kommunikativen Zwänge bringt den Historiker letztlich nicht weiter: Man kann nicht das “Interesse” einfach abziehen, und eine authentische Wahrnehmung bleibt zurück. In dieser Weise zwischen den Zeilen lesen zu wollen, öffnet nur der Spekulation Tür und Tor. Erst der Vergleich mit anderen Quellen aus anderen Äußerungszusammenhängen kann durchgängige und damit relativ kontextunabhängige Deutungsmuster sichtbar machen. Die Mikrohistorie bleibt auf die Makroanalyse angewiesen.

Deutungsmuster des revolutionären Geschehens stehen auch in Manfred Hettlings (leider sehr holperig geschriebenem) Aufsatz über den Totenkult für Robert Blum im Vordergrund. Die Art und Weise, in der Blum nach seiner Erschießung stilisiert wird, die Gestalt, die der Totenkult um den ermordeten Demokraten und Paulskirchen-Parlamentarier annimmt, ist für Hettling der Ort einer “gesellschaftlichen Selbstverständigung” über die “Legitimation von Herrschaftsveränderung” (S.85). Diese Selbstverständigung fällt in der Hauptsache so aus, daß die - für eine revolutionäre Gesinnung konstitutive - Bereitschaft zur Zerstörung des Vorhandenen zugunsten der gewaltsamen Schaffung eines radikal Neuen nicht befürwortet wird; im Blumkult werden Deutungsmuster sichtbar, die erklären, warum sogar die sächsischen Aufständischen vom Mai 1949 stärker in die Revolution ‘hineingeschlittert’ sind, als daß sie wirkliche Revolutionäre gewesen wären. Grundlegende Disposition ist vielmehr der Attentismus, das hoffnungsfrohe Warten auf die gewünschte Gesellschaftsordnung, die sich fast zwangsläufig eines Tages herstellen wird. Blum ist der Märtyrer dieser neuen Ordnung, für die er sein Blut vergossen hat wie Christus für jene Ordnung, die mit dem Jüngsten Gericht anheben soll. Die Analogie zur christlichen Eschatologie macht aus dem Demokraten aus kleinen Verhältnissen, aus dem ‘Mann des Volkes’ den Messias einer egalitären Republik der Zukunft.- So wichtig Hettlings Fragestellung zweifellos ist, so sehr auch der Ansatz überzeugt, die Blum-Hagiographie als Medium revolutionärer Selbstreflexion zu interpretieren, so bleibt doch die Gelenkstelle zwischen Deutungs- und Handlungsebene, wie in vielen vergleichbar ansetzenden Studien, auch hier die offenkundige Schwachstelle der gesamten Darstellung. Wenige Zitate genügen Hettling hier, um Evidenzen zu behaupten, die wohl nur der “geneigteste” Leser nachzuvollziehen bereit ist.

Während die beiden Aufsätze von Josef Matzerath und Frank Möller weitere Akteure des revolutionären Geschehens in den Blick nehmen - die “andere Seite” bei den Kämpfen in Dresden, den Königlichen Hof, sowie die Zentralgewalt in Frankfurt - , zielen die Beiträge von Werner Greiling und Rüdiger Hachtmann ähnlich wie die Studie von Langewiesche auf die politisch-kulturelle Entwicklung in verschiedenen deutschen Ländern ab. Dabei stellt Greiling für Thüringen eine hohe, durchaus mit Württemberg und Ostfriesland vergleichbare Mobilisierung der Bevölkerung fest, was umso bemerkenswerter ist, als die thüringischen Regierungen die Verfassung von vornherein angenommen hatten; in den anhaltischen Staaten, so die Analyse von Hachtmann, lag insofern eine atypische Situation vor, als die Länderverfassungen fortschrittlicher waren als der Paulskirchenentwurf, so daß sich die Demokraten naturgemäß bei dessen vorbehaltloser Unterstützung schwer taten. Für Mitteldeutschland gilt aber insgesamt, daß schon während der Revolutionsjahre jene Dispositionen geschaffen wurden, die diese Territorien in den Folgejahrzehnten zur Keimzelle vieler progressiver politischer Konzepte machten.

Diesen Folgejahrzehnten ist auch der Beitrag von Christian Jansen über die bürgerliche Linke in Sachsen gewidmet, der den Band beschließt. Sachsen hatte sich schon bei den Wahlen zum Paulskirchenparlament als Hochburg der Demokraten erwiesen. Die meisten dieser Demokraten traten 1849 nicht endgültig von der politischen Bühne ab, sondern kehrten in den sächsischen Landtag zurück, wo sie sich einen verbissenen Kampf mit der Reaktionsregierung lieferten. Diese fortgesetzte Präsenz macht es möglich, eine regelrechte Fallstudie zur Weiterentwicklung der politischen Ideen und Optionen im demokratischen Lager durchzuführen. Jansen orientiert sich dabei an den Marksteinen des sächsischen Verfassungskonflikts von 1849/50, der Schleswig-Holstein-Krise von 1863/64 und des preußisch-deutschen Krieges von 1866. Dabei wird deutlich, wie unterschiedlich die Wege sein konnten, die von den Vertretern der Linken nach 1849 eingeschlagen wurden: Einige verblieben im linksliberal-demokratischen Kontext, andere ordneten sich der entstehenden Sozialdemokratie zu, wieder andere gehörten zu den Gründervätern des Nationalliberalismus. Vor allem der letztere Befund verdient Beachtung. Wurde der Schwenk zum Nationalliberalismus tatsächlich nur durch die Parole “Zuerst die Einheit, dann die Freiheit” motiviert, wie Jansen andeutet? Die ideenhistorischen Wege, die von demokratischen zu nationalliberalen Positionen führten, sind verwickelter gewesen - und stellen zweifellos noch eine Herausforderung für genauere diskursanalytische und begriffsgeschichtliche Studien dar.

Insgesamt kann dem Band bescheinigt werden, ein wichtiges Thema der Revolutionsforschung aufgegriffen und vertieft zu haben. Die Auswirkungen der Revolution auf die politische Kultur in Deutschland sind bisher nur unzureichend erforscht worden, und der empirische Nachweis von massiven Veränderungen in diesem Bereich könnte in der Tat die immer noch beliebte These vom vollständigen Scheitern der Revolution einschränken. Hätten die Ereignisse von 1848/49 tatsächlich eine Fundamentalpolitisierung der Bevölkerung ausgelöst, dann müßte das Gewicht der Paulskirche für die deutsche Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertts insgesamt viel höher veranschlagt werden. Möglicherweise würde auch Bismarcks Stern ein wenig sinken, dessen Beitrag zur Realisierung des Nationalstaats vor dem Hintergrund des vollständigen Versagens der Paulskirche immer besonders hell gestrahlt hatte. Die Beiträge des Bandes können natürlich nur den Weg weisen, den umfangreichere Forschungen noch beschreiten müssen. Einigen von ihnen gelingt dies bereits in sehr anregender Weise, andere verlieren die Leitfrage des Bandes leider auch wieder aus den Augen, indem sie sich weitgehend auf handbuchartige Überblicke über Ereignisketten beschränken. Grundsätzlich zu beklagen ist die hohe Zahl der Druckfehler, die eine sorgfältigere Redaktion hätte vermeiden müssen.

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