J. Cornwell: Forschen für den Führer

Cover
Titel
Forschen für den Führer. Deutsche Naturwissenschaftler und der Zweite Weltkrieg


Autor(en)
Cornwell, John
Erschienen
Bergisch Gladbach 2004: Verlagsgruppe Lübbe
Anzahl Seiten
576 S
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Schultze, Brandenburg

Auch sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bestehen noch viele offene Fragen nach den Ursachen und dem Ursprung des Dritten Reiches und des Krieges. John Cornwell knüpft an diesen Umstand an und versucht in seinem neuesten Buch einer der dabei wichtigsten Fragen eine Antwort zu geben: Warum und wie wurden die bis 1933 “unumstrittenen Stars” der deutschen und internationalen “Wissenschaftsszene”, die nicht vertrieben wurden, zu ”Knechten der Macht” oder ”Handlangern des Teufels”, die die technologische und wissenschaftliche Basis für Hitlers verbrecherischen Staat und den wahnsinnigen Krieg erst ermöglichten respektive ihn mit am laufen erhielten?

John Cornwell nennt seine Einleitung programmatisch ”Die Deutschen verstehen” (S. 11-30); diese untergliedert sich in die Abschnitte ”Die Deutschen verstehen” (S. 11-13), ”Deutsche Wissenschaft” (S. 13-18), ”Wissenschaft unter Hitler” (S. 18-24), ”Wissenschaft und das Gewissen des Einzelnen” (S. 24-26), ”Ethik und Wissenschaft” (S. 26-29) und ”Wissenschaft und Demokratie (S. 29-30). Damit ist auch im groben der Fahrplan von Cornwells Gedanken und Absichten dargelegt. Der Autor beginnt seine Darlegungen aus erinnerungsgeschichtlicher Perspektive, indem er über seine frühen Kindheitserlebnisse im Großbritannien zur Zeit des Zweiten Weltkrieges erzählt. Besonders die V1 und V2 blieben ihm in besonderer Erinnerung. Ein Manko ist, dass die genaue Intension des Autors unklar bleibt und er sie der Interpretation durch den Leser überlässt. Unter dem Aspekt ”Wissenschaft unter Hitler” wirft Cornwell die sehr gewichtige Frage auf: ”Waren sie nun eher Deutsche, die sich typisch deutsch verhielten, oder Wissenschaftler in Deutschland, die sich wie typische Wissenschaftler verhielten?” (S. 19): Dies ist eine der Gretchenfragen, die auf dem Weg hin zur Bearbeitung eines solchen Themas wie eine Falle liegen. So verwundert es denn auch nicht, dass Conwell die Frage ob ein ”vergifteter Baum gute Früchte tragen kann” (S. 23) zu einem Leitthema des Buches erhebt. Am Ende der Einleitung gewinnt man unweigerlich den Eindruck, dass es John Cornwell weniger darum ging die Deutschen ”zu verstehen” als vielmehr sich selbst (und das Erlebte) zu verstehen.

Dem Titel des Buches Rechnung tragend, ist es von Cornwell konsequent nun zu Beginn des I. Teils auf Hitlers wissenschaftliche Bildung und sein wissenschaftliches Weltbild einzugehen (”Hitler als Wissenschaftler”, S. 33). Hitlers Wissenschaftsverständnis wird als ”verzerrt, unterentwickelt und zutiefst rassistisch” eingeschätzt, was im Grunde ja seit langem bekannt ist. Nur war seine Einstellung der Technik – also den Resultaten der Wissenschaft – gegenüber bei weitem nicht so unterentwickelt. Die geschickte Nutzung und Instrumentalisierung des Automobils und des Flugzeugs, u. a. zur Legitimierung und Überhöhung der Herrschaft, seien hier nur genannt.

Nach diesen Darstellungen geht Cornwell zur Beschreibung der Situation der Wissenschaften in Deutschland der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts über (ab S. 53). In den Jahren bis zur Machtübertragung auf die Nazis war Deutschland in der Tat das internationale Mekka der Wissenschaften – trotz Erstem Weltkrieg und Wirtschaftskrisen. Besonders in Physik, Mathematik, den Ingenieurwissenschaften und auch der Chemie war man Welt führend. Wann also fand der Umschwung der deutschen Wissenschaft zur schrecklichen Kriegswissenschaft statt? Nach Cornwells Darstellung gewinnt man den Eindruck, dass die Vertreibung aus dem Paradies der unbedarften, zivilen Wissenschaft mit Fritz Haber beginnen soll. Nach der Ausführlichen Beschreibung und Wertung seines Lebens und Werkes und anderer Giftgas-Wissenschaftler, geht Cornwell in den nächsten beiden Unterkapiteln zur Darstellung von Rassenhygiene, Eugenik und Psychiatrie über, die offenbar der Autor nun auch zu den Naturwissenschaften zählt (S. 79-116); praktisch der Beginn der Proto-Führer-Forschung.

In Teil II ”Die Neue Physik (1918-1933)” (S. 117-154) geht es um deutsche Physik nach dem ersten Weltkrieg und darum, wie es der deutschen Wissenschaft gelang zu überleben. Hier zeigt Cornwell, wie der späteren nationalsozialistischen Forschung der Boden quasi bereitet wurde. Dieser Teil des Buches ist dem Autor am besten gelungen: Die Beschreibung der revolutionären neuen Physik sowie ihrer Implikationen und der ”Kampf” neophober, antisemitischer Physiker gegen die neuen Kräfte wissenschaftsliebender Denker ist sehr ausgewogen und inhaltlich kenntnisreich dargestellt. Das tägliche soziale und wirtschaftliche persönliche Erleben in der Realität der Weimarer Republik beeinflusste auch die wissenschaftliche Elite virulent. Das Verlangen nach klaren Verhältnissen trieb langsam aber unaufhörlich die Forscher in eine Bereitschaft einem ”Führer” in eine bessere Zeit zu folgen.

Mit dem Machtantritt der Nazis allerdings wurde alles viel schlimmer: Nazi-Fanatismus, Willfährigkeit und Unterdrückung waren die nun vorherrschenden Aspekte, die Cornwell im III. Teil beschreibt für die Zeit zwischen 1933 und 1939 (S. 155-240). Es ist John Cornwell gelungen überzeugend darzustellen, wie die Nationalsozialisten sofort Druck auf sämtliche Wissenschaften ausübten, sie ”arisierten” und versuchten sämtliche Zweige der Wissenschaft in den Dienst ihrer Ideologie zu pressen (inklusive der apriori apoltischen Mathematik). Mit der Entfernung sämtlicher jüdischer Mitarbeiter erlitt die deutsche Wissenschaft (und nicht nur sie) einen nicht zu verschmerzenden Verlust. Exemplarisch greift Cornwell Ingenieure und Raketenforscher als ”Stars der Szene” und ihren faustischen Pakt mit dem Militär heraus.

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges geht Cornwell zur Schilderung der ”Wissenschaft der Vernichtung und Verteidigung (1939-1943)” über (S. 241-343). Durch das ganze Buch zieht sich als ein Faden die Atomforschung, die hier die erste Hälfte des Kapitels einnimmt. Viel Neues hat der Autor hierüber nicht zu berichten. Die Schilderung des Kernspaltungstaumels sowie der wichtigsten Protagonisten stehen im Vordergrund. Eine der wichtigsten Aussagen des Buches formuliert der Autor in diesem Zusammenhang durch den Vergleich mit den Wissenschaften der westlichen Alliierten: Hitler und die Nazis im allgemeinen waren an Forschung, Wissenschaft und Technik im Rahmen ihrer Welteroberungspläne interessiert aber viel zu chauvinistisch und zu dumm ihre Möglichkeiten und Potenziale zu erfassen. Dies ist die politische und nicht technische oder wissenschaftliche Geschichte der deutschen Wissenschaften. John Cornwell ist ein Vielschreiber und daher bleibt ihm für tiefgehende Recherchen – seine Quellenarbeit lässt viel von wissenschaftlicher Intensität und der nötigen Kritik missen - sicher kaum Zeit. Somit finden sich auch sehr viele Fehler in dem Buch; speziell in diesem Teil. Meines Erachtens wäre Cornwell besser beraten gewesen die Unterkapitel ”Kriegsmaschinen”, ”Radar” und ”Verschlüsselung” einfach wegzulassen, denn durch die vielen fachlichen Fehler und die sehr tendenzielle Auswahl und Darstellungsweise der Beispiele verschenkt er sich viel zu viel.

Ähnlich verhält es sich im V. Teil, wenn es um die ”Nationalsozialistische Atombombe (1941-45)” geht (S. 343-386). Hingegen erfährt das dunkle Kapitel der Menschenversuche und der Massenvernichtung im nächsten Teil (S. 387-440) eine angemessene Darstellung.

Die letzten beiden Teile des Buches drehen sich um die Folgen deutscher Wissenschaft und die Zeit nach 1945. Viele der alten Meister des Todes waren für die neuen Herren einfach unersetzbar und arbeiteten weiter. Somit gibt es zum Forschen für den Führer nicht nur eine Vorgeschichte sondern auch ein Nachspiel bis in die Gegenwart hinein: Vom Kalten Krieg bis zum so genannten Krieg gegen den Terrorismus befindet sich die Naturwissenschaft permanent auf dem Kriegspfad – ein Phänomen das schändlicherweise auch moderne Demokratien nicht abzustellen in der Lage sind. Mit der Einbeziehung der gegenwärtigen politischen Situation überspannt Cornwell den Bogen aber allzu sehr. Es macht keine Freude sich durch seine moralischen und ethischen Ergüsse zu quälen, die zudem oft naiv sind. Die aus seinen Sophismen geforderte Integrität des Wissenschaftlers ist ein wahres Wolkenkuckucksheim. Wissenschaftler werden in der Integrität kein Allheilmittel dagegen finden können die Erfindung des Verderbens zu ersinnen oder nicht zu erkennen , dass niemand unersetzbar ist. Zu einer wachsenden Verständigung zwischen Großbritannien und Deutschland hat John Cornwell hierdurch wenig beigetragen. Fazit: Eine gute und lesenswerte Darstellung nur für die deutsche Physik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neue Gedanken oder Erkenntnisse sucht man hier jedoch vergebens. Die Geschichte der deutschen Naturwissenschaft harrt noch immer ihrer komplexen Darstellung.

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