H. Timmermann; W.D. Gruner (Hg.): Demokratie und Diktatur in Europa

Cover
Titel
Demokratie und Diktatur in Europa. Geschichte und Wechsel der politischen Systeme im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Timmermann, Heiner; Gruner, Wolf D.
Reihe
Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen 95
Erschienen
Anzahl Seiten
644 S.
Preis
DM 184,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alisch, Steffen

Die Veranstaltungen des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Europäischen Akademie Otzenhausen sind seit langem als wichtige Foren interdisziplinärer internationaler Forschung zu Problemen insbesondere der europäischen Politik in Geschichte und Gegenwart bekannt. Für den vorliegenden Sammelband wurden im Wesentlichen überarbeitete Beiträge aus verschiedenen wissenschaftlichen Kolloquien der zweiten Hälfte der 90er Jahre ausgewählt (genaueres erfährt der Leser nicht). Die 31 Aufsätze spiegeln die ganze inhaltliche und methodische Vielfalt der bei diesen Veranstaltungen vorgetragenen Überlegungen wider.

Die bunte Mischung ost- und westeuropäischer Autoren verdeutlicht, dass die Europäische Akademie ihren Namen keineswegs zu Unrecht trägt. Der wahrscheinlich unvermeidbare Preis solcher Breite und Toleranz besteht in beträchtlichen Qualitätsunterschieden zwischen den einzelnen Beiträgen. Etwas störend wirkt auch, dass der ohnehin weit gesteckte Rahmen (Europa im 20. Jahrhundert) zeitlich noch deutlich überschritten wird.

Den ersten Teil des Buches bilden begriffsgeschichtliche Reflexionen. Neben Demokratie und Diktatur werden u.a. Totalitarismus, Militarismus und Faschismus analysiert. Im zweiten Abschnitt werden die Ergebnisse „intertemporaler und internationaler Vergleiche“ vorgestellt. Das Spektrum reicht von der Untersuchung baltischer Diktaturen in der Zwischenkriegszeit (Lainova Radka) und dreier mitteleuropäischer Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg (Eva Brocklova) bis hin zur Analyse von „Geschichtsmythen als Voraussetzung für totalitäre Staatsideologie“ (Bernd Rill). Auch Ernst Noltes nur allzu bekannte Thesen über einen „kausalen Nexus“ zwischen „Gulag“ und „Auschwitz“ kann man noch einmal nachlesen.

Der weitaus umfangreichste Teil des Bandes behandelt Entwicklungen in einzelnen Staaten. In einem zentralen Beitrag analysieren Günther Heydemann und Christopher Beckmann anhand der beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts Möglichkeiten und Grenzen des historischen Diktaturenvergleichs. Dabei dürften weder „die Untaten des ‚Dritten Reiches‘ durch den Hinweis auf die Verbrechen des SED-Staates relativiert, noch letztere mit Blick auf die NS-Verbrechen bagatellisiert werden.“ (S. 370) Die Autoren ziehen bezüglich der Anwendung ihres komparatistischen Ansatzes bei der Analyse von Nationalsozialismus und SED-Staat zu Recht ein zurückhaltendes Fazit: Die eigentliche Nagelprobe stehe mit der empirischen Umsetzung der Methode in konkreten Forschungsprojekten noch bevor. Allerdings sei deutlich geworden, „dass mit Hilfe eines komparatistischen Ansatzes politische Zielsetzungen, totalitäre Herrschaftsansprüche und –techniken sowie spezifisches Verhalten von Betroffenen unter beiden deutschen Diktaturen eingehender verdeutlicht werden können als bisher.“ (S. 414)

Der ausführlichste Beitrag des vorgestellten Buches behandelt das Regime von Vichy (Roland Höhne). Drei Aufsätze analysieren die stalinistische Diktatur in der Sowjetunion (Detlef Jena und Alexei Filitov) bzw. deren Ende (Hans Wassmund). Thema der Länderstudien sind jedoch keineswegs nur Diktaturen, daneben wird u.a. auch auf Probleme der „ältesten Demokratie der Welt“ eingegangen (Stuart Parkes zum politischen System Großbritanniens; Ian King zu Fragen des schottisch-englischen Verhältnisses).

Die beiden für den Rezensenten anregendsten Aufsätze stammen aus der Feder deutscher Wissenschaftler. Michael Salewski untersucht in seinem spannenden Essay die Science-Fiction-Literatur insbesondere des frühen 20. Jahrhunderts. Nahezu das gesamte Genre sei seit Ende des 19. Jahrhunderts von totalitärem Gedankengut geprägt gewesen. Die wirklich gefährlichen Diktaturentwürfe stammten dabei nicht von George Orwell oder seinem Vorgänger Evgenij Zamjatin, da die von ihnen in Literatur verwandelten Alpträume alles andere als attraktiv wirkten. Viele andere Schriftsteller hätten dagegen aus naiver Überzeugung heraus rassistische und totalitäre Verhältnisse erwartungsfroh antizipiert. Aldous Huxley z.B. propagierte in seiner „brave new world“ letztlich eine „somatische“ Diktatur, er selbst endete glücklich im Somarausch. Wie groß indes der literarische Einfluss auf die Entstehung des Totalitarismus in Europa gewesen sei, lasse sich nur schwer quantifizieren.

Hannelore Horn legt eine stringente Analyse der Wirkung scheindemokratischer Attribute auf die Reform- und Transformationsfähigkeit kommunistischer Diktaturen vor. Die sowjetischen Machthaber versuchten sich einerseits als „Diktatur des Proletariats“, andererseits mit scheinpluralistischen (inklusive Harmonieideologie und –rhetorik) und scheinföderalistischen Mitteln zu legitimieren. „Alle kommunistisch-totalitären Diktaturen verbindet daher prinzipiell nicht nur ein ideologisch vorgegebener umfassender gesellschaftlicher Transformationsanspruch mit all seinen bekannten macht- und gesellschaftspolitischen Attributen, sondern auch ihr Charakter als diktatorisch regulierte Scheindemokratien oder umgekehrt als demokratisch verschleierte totalitäre Diktaturen.“ (S. 238) In den einzelnen Ostblockstaaten sei die Wirkung der „scheindemokratischen Kapazitäten“ sehr ambivalent gewesen. Letztlich hätten diese trotz der belastenden Folgen für die Entwicklung einer weit akzeptierten demokratischen Kultur jedoch die (mit Ausnahme Rumäniens) weitgehend friedlich verlaufende Transformation von der Diktatur zur Demokratie befördert. Wenn das keine List der Vernunft ist ...

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