T. Buchner: Möglichkeiten von Zunft

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Titel
Möglichkeiten von Zunft. Wiener und Amsterdamer Zünfte im Vergleich (17.–18. Jahrhundert)


Autor(en)
Buchner, Thomas
Reihe
Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 43
Erschienen
Anzahl Seiten
251 S.
Preis
€ 11,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philip R. Hoffmann, Fachbereich Geschichte / SFB 485 "Norm und Symbol" Universität Konstanz

Die vormoderne und vor allem die frühneuzeitliche Zunft gehörte lange Zeit zu den Ladenhütern der historischen Forschung, haftete ihr doch der Ruf an, in überkommenen Strukturen erstarrt zu sein, unfähig sich Prozessen der Modernisierung anzupassen. Zudem interessierte sich die „neue Handwerksgeschichte“ (Abel u.a.) aufgrund ihrer quantitativ-wirtschaftshistorischen Ausrichtung kaum für institutionelle Fragestellungen. Nun lässt sich jedoch seit einigen Jahren ein wiedererwachtes Interesse an den Zünften beobachten. Vor allem Josef Ehmer und Heinz-Gerhard Haupt haben, internationale Trends aufgreifend, programmatische Aufsätze vorgelegt, in denen traditionelle Deutungen über das frühneuzeitliche Zunftwesen revidiert und Forschungsperspektiven entwickelt werden, die diese Thematik an neuere sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze anschließt.1 Bisher fehlte es aber an Untersuchungen, die diese Anregungen aufgreifen und in quellengesättigte Forschung umsetzen. Dies leistet nunmehr die Salzburger Dissertation Monographie von Thomas Buchner. Schon allein durch ihre europäisch-komparatistische Ausrichtung setzt diese Untersuchung Maßstäbe.

Der Titel ist Programm: Dem Autor geht es darum, durch den Vergleich zweier recht unterschiedlich gestalteter Zunftsysteme die vielfältigen Möglichkeiten dessen, was „Zunft“ in der Vormoderne bedeuten konnte, aufzuzeigen und damit die Chancen offenzulegen, die sich daraus für eine erneuerte Zunftforschung jenseits der klassischen Zuschreibungen und Vorurteile über das frühneuzeitliche Zunftwesen als traditionalistisch, vorkapitalistisch, innovations- und modernisierungsfeindlich ergeben. Wie Buchner in der Einleitung deutlich macht, waren Zünfte nicht ein festgefügter institutioneller Rahmen, der das Leben und Denken der Handwerker in umfassender Weise prägte, sondern vielmehr variabel ausgestaltete Handlungsräume, innerhalb derer die verschiedenen Akteure, vor allem die Zunfthandwerker selbst, Probleme und Konflikte bearbeiten konnten. Das Verhältnis von städtischer Wirtschaft, Zünften und Obrigkeiten ist nach Buchner als offen und variabel zu denken, und zwar sowohl im Zeitverlauf als auch im Vergleich zwischen unterschiedlichen Gewerben, Städten und Regionen.

Die von Buchner betonte Vielgestaltigkeit der „Möglichkeiten von Zunft“ schlägt sich auch in der Vielfalt der Problemstellungen nieder, anhand derer die Amsterdamer und Wiener Zunftsysteme während des 17. und 18. Jahrhunderts verglichen werden: In den einzelnen Kapiteln wird untersucht, wie, von wem und zu welchem Zweck im Rahmen der Zünfte Texte, meist Supplikationen, verfasst wurden, welche Stellung den Zünften im städtischen Umfeld zukam, welche soziale und rechtliche Reichweite sie auch über die Stadtmauern hinaus besaßen und wie sich ihr Verhältnis zur Obrigkeit gestaltete. Beschrieben werden weiterhin die Arbeitsorganisation und die wirtschaftlichen Austauschbeziehungen in den untersuchten Gewerben (Fleischhauer, Schneider, Gold- und Silberschmiede, Maurer und Steinmetze). Ausführlich wird den Grenzen und „Grauzonen“ der Zünfte nachgegangen: den Aufnahme- und Zugangsbedingungen, der Rolle von Fremdheit, dem Verhältnis zu nicht-zünftigen Handwerkern („Störern“) sowie der Stellung von Frauen, Gesellen und Lehrlingen – und damit von Gruppen, die im Rahmen der Zünfte oftmals einen prekären Status besaßen. Schließlich werden die Verhältnisse innerhalb der Zünfte analysiert, vor allem die Formen innerzünftiger Entscheidungsfindung und die Position der formalen Zunfteliten.2

Auf alle inhaltlichen Aspekte kann hier nicht eingegangen werden, zumal man zu einigen Themenbereichen nur in begrenztem Maße etwas Neues erfährt. Dies trifft vor allem auf diejenigen zu, die in den letzten Jahren im Fokus der Handwerksgeschichte standen, so etwa Frauenarbeit, Gesellen und Lehrlinge. Hingegen wird manche interessante Fragestellung, bei der man sich eine vertiefende Auseinandersetzung gewünscht hätte, nur angerissen. Auch wäre es gerade für die Diskussion über „neue Wege der Zunftgeschichte“ wünschenswert gewesen, wenn der Autor stärker konzeptionelle Probleme diskutiert hätte und auf neuere geschichtswissenschaftliche Forschungsdebatten wie etwa zu Identität und Alterität, Inklusion/Exklusion/(Des-)Integration, zu Medialität, Ritualen und symbolischer Kommunikation eingegangen wäre, um so die vielfältigen, bisher aber kaum genutzten Möglichkeiten, die das Thema Zünfte gerade für die neuere Kulturgeschichte besitzt, auszuloten. Gleichwohl bietet die Untersuchung eine Menge an wichtigen, oftmals auch überraschenden Ergebnissen und vielfältige Anregungen für weitere Forschungen zum vormodernen europäischen Zunftwesen.

Anhand zweier Punkte sollen abschließend wesentliche Unterschiede skizziert werden, die Buchner zwischen dem Amsterdamer und dem Wiener Zunftsystem herausarbeiten konnte. In Amsterdam waren die Zünfte im städtischen Leben vergleichsweise wenig präsent und für den einzelnen Handwerker weniger im Arbeitsalltag, sondern eher an den „Rändern der Handwerkerexistenz“ erfahrbar (S. 190), vor allem über das gut ausgebaute System der Hilfskassen sowie bei Begräbnissen. Formen innerzünftiger Kommunikation und Interaktion waren nur schwach ausgeprägt: Zunftversammlungen spielten kaum eine Rolle; Rituale und Formen symbolischer Kommunikation, in denen sich die Zünfte als Kollektivzusammenhang konstituierten und inszenierten, gab es abgesehen von Begräbnissen kaum. Anders in Wien: hier war das zünftische Zusammenleben gerade auch in seinen symbolisch-ritualisierten Formen sehr viel stärker ausgeprägt, in den regelmäßig stattfindenden Zunftversammlungen formierte sich eine zünftische Öffentlichkeit. Diese fungierten denn auch als wichtige Orte der gemeinsamen Entscheidungsfindung und des zunftinternen Konfliktmanagements. Zudem konnten hier die einfachen Zunftmitglieder auf das Gebaren der Zunftvorsteher Einfluss nehmen und diese kontrollieren. In Amsterdam waren letztere dagegen sehr viel unabhängiger von zünftischen Kontexten. So konnten sie etwa die Produktion von Texten, vor allem von Supplikationen, die im Namen der jeweiligen Zunft ausgestellt wurden, weitgehend monopolisieren (S. 31ff.).

Die Wiener und Amsterdamer Zünfte zeichneten sich zweitens durch unterschiedliche „Kulturen der Abgrenzung und Unterscheidung“ aus (S. 140). So wurden in Amsterdam an die Aufnahme in die Zunft wesentlich geringere Anforderungen geknüpft als in Wien, wo die dafür relevanten Kriterien auf die Lebensführung als ganze ausgerichtet waren und die Aufnahme deutlich als Schwelle markiert war. Jedoch bildeten diese Kriterien kein fixes und zwingendes Normengefüge, sondern es handelte sich um situativ gehandhabte, kulturelle Ressourcen, die vor allem auf die Begründung der Ablehnung bzw. des Ausschlusses unliebsamer Personen ausgerichtet waren. (S. 128f.) In beiden Städten spielte, wenn auch in unterschiedlicher Weise, die Kategorie der Fremdheit eine wichtige Rolle, vor allem für die Deutung und Markierung sozialer und kultureller Grenzen der Zunft sowie zur Konstruktion von Gegenbildern zum ehrsamen bürgerlichen Meister, die dann gerade in Auseinandersetzungen mit nicht-zünftigen Handwerkern genutzt werden konnte (S. 129ff.). Dabei war jedoch die Tendenz zur Abgrenzung vom Landhandwerk und zur Ausgrenzung der sogenannten „Störer“ in Wien wesentlich ausgeprägter als in Amsterdam. Jedoch wurden auch in Wien im auffälligen Kontrast zu den Rhetoriken der Diffamierung und Ausgrenzung die „Störer“ von den Zunfthandwerkern oftmals geduldet, und es existierten vielfältige Beziehungen zwischen beiden Gruppen. Da sich im Alltag die Grenzen zwischen zünftigem und nicht-zünftigem Bereich häufig verwischten, bestand eine wesentliche Funktion dieser Rhetoriken darin, das „zu unterscheiden, was schwer zu unterscheiden war“ (S. 162), um so die Vorrangstellung der Zunfthandwerker im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereich abzusichern.

Anmerkungen:
1 Ehmer, Josef, Traditionelles Denken und neue Fragestellungen zur Geschichte von Handwerk und Zunft, in: Lenger, Friedrich (Hg.), Handwerk, Hausindustrie und die historische Schule der Nationalökonomie. Wissenschafts- und gewerbliche Perspektiven, Bielefeld 1998, S. 19-77; Haupt, Heinz-Gerhard, Neue Wege zur Geschichte der Zünfte in Europa, in: ders. (Hg.), Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich, Göttingen 2002, S. 9-38.
2 Angesichts der zentralen Bedeutung, die den zunftinternen Strukturen gerade auch für das Verständnis vieler anderer Punkte wie etwa der Produktion von Texten im zünftischen Kontext zukommt, ist es dem Rezensenten nicht recht einsichtig gewesen, warum auf diesen Themenkomplex erst ganz am Schluss eingegangen wird.