N. Grochowina: Indifferenz und Dissens in der Graftschaft Ostfriesland

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Titel
Indifferenz und Dissens in der Grafschaft Ostfriesland im 16. und 17. Jahrhundert.


Autor(en)
Grochowina, Nicole
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
499 S.
Preis
€ 74,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Ohlidal, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Nicole Grochowina nimmt in ihrer Untersuchung, einer gekürzten Version ihrer 2001 an der Universität Hamburg angenommenen Dissertation, die in den 1990er-Jahren am Paradigma der Konfessionalisierung geäußerte Kritik auf, die für eine Ergänzung der als zu stark staatsorientiert verstandenen Perspektive durch mikrohistorische Ansätze plädierte. Sie möchte mit einer kulturhistorisch-religionssoziologisch ausgerichteten Untersuchung der Phänomene „Indifferenz” und „Dissens”, die das Alltagsleben der reformierten und der lutherischen Gemeinden in Ostfriesland im 16. und 17. Jahrhundert prägten, einen Beitrag zu einer „religiösen Erfahrungsgeschichte der Konfessionalisierung”1 und damit letztlich auch zur Frage nach der Entstehung konfessioneller Identität leisten.

Grochowina geht zunächst auf die theoretischen Grundlagen ihrer Arbeit und ihr Verständnis von Indifferenz und Dissens in der Frühen Neuzeit ein, wobei sie sich besonders auf Thomas Luckmanns Konzept von Religion als einer der Privatisierung und der Vermittlung unterliegenden Sozialform bezieht.2 Ihre anregenden und differenzierten Ausführungen zum Verständnis der Indifferenz, die bis zum 18. Jahrhundert keineswegs pejorativ besetzt war, gipfeln in der These, dass Indifferenz nur dort existieren konnte, „wo konfessionelle Identität geschaffen und gesichert werden sollte, gleichzeitig aber ein Überangebot an oder zumindest Wahlmöglichkeiten zwischen konfessionellen und nicht-konfessionellen Gruppierungen bestanden“ (S. 60). Grochowina unterscheidet zwischen drei Kategorien von Indifferenten: erstens Personen, die zwar de jure einer der herrschenden Konfessionen angehörten, bei denen aber die Unterscheidungsmerkmale der Konfessionen für die Gestaltung der eigenen individuellen Religiosität ohne Bedeutung waren; zweitens Menschen, die Mitglied einer Gemeinde waren, die sich aber vom Abendmahl fernhielten und dadurch auffällig wurden; und drittens Personen, die als Gemeindemitglieder galten und die entsprechenden Riten vollzogen, dabei jedoch Indifferenz dissimulierten.

Der Dissens erfasst dagegen jene Gruppen, die von der vorherrschenden institutionalisierten Konfession abwichen: Das Dissidententum konnte an eine Führungspersönlichkeit gebunden und damit temporär begrenzt sein – oder es konnte sich über einen längeren Zeitraum verfestigen, wenn es gelang, eine auf gelebter Tradition und Erinnerung basierende kollektive Identität auszuprägen. Bei der Klärung des Verhältnisses zwischen Indifferenz und Dissens macht Grochowina auf Gemeinsamkeiten aufmerksam, die von der Forschung bisher nicht recht wahrgenommen worden seien: Zum einen verweist sie auf empirische Befunde, so etwa auf die Tatsache, dass sich Indifferenz in Ostfriesland verstärkt in jenen Gebieten fand, in denen sich auch Täufergruppen angesiedelt hatten, zum anderen auf gemeinsame strukturelle Merkmale wie Verfolgungsdruck oder Widerstand gegen Disziplinierungsversuche.

Die begriffliche Strukturierung von Indifferenz und Dissens nimmt im Prinzip bereits in der theoretischen Einführung zahlreiche Ergebnisse der nun folgenden Fallstudie vorweg, die nach einer Schilderung der ostfriesischen Rahmenbedingungen zunächst getrennt Indifferenz und Dissens in der Grafschaft erläutert, bevor sie sich dem Umgang mit diesen Phänomenen im 16. und anschließend im 17. Jahrhundert zuwendet. Leider machen die sehr kleinteilige und dadurch unübersichtliche Gliederung der Arbeit sowie der Verzicht auf die Formulierung von Zwischenergebnissen es dem Leser unnötig schwer, Grochowinas Gedankengang zu folgen.

Zu Recht betont Grochowina bei der Untersuchung der Aspekte, die sich auf Indifferenz und Dissens in Ostfriesland fördernd auswirkten, das dauerhaft geringe Durchsetzungsvermögen der Landesherrschaft und benennt die diesem zugrunde liegenden strukturellen Schwächen wie die Häuptlingsherrlichkeiten oder das fehlende landesherrliche Patronatsrecht. Auch die Tatsache, dass Ostfriesland nicht über ein funktionierendes Schulwesen verfügte, wird in ihrer Bedeutung für die konfessionelle Entwicklung gewürdigt. Als externen Faktor erwähnt Grochowina die Flüchtlingswelle aus den Niederlanden, mit der ebenfalls verstärkt Dissens und Indifferenz in die Grafschaft Ostfriesland kamen.

Für den Umgang mit Dissens und Indifferenz im 16. Jahrhundert konstatiert Grochowina eine Doppelstrategie, die aus parallel auftretenden Verfolgungen und Gesprächsangeboten bestand, ohne allerdings Resultat einer durchdachten politischen Strategie zu sein. Im 17. Jahrhundert änderte sich das Verhältnis zwischen Verfolgung und Gespräch: Während die Täufer wegen ihrer wirtschaftlichen Potenz von der Landesherrschaft allmählich anerkannt wurden, versuchte man verstärkt gegen die Indifferenz vorzugehen, ohne aber durchschlagende Erfolge verbuchen zu können. Grochowina regt für die künftige Forschung an, “in weiteren Regionalstudien zu ergründen, ob das Verhältnis von Dissens und Indifferenz ein zwingendes war” (S. 409). Indifferenz und Dissens sieht sie dabei als “künftig feste Kategorien” (S. 409) an, die bei der Erforschung von territorialer Konfessionalisierung immer zu berücksichtigen seien.

Ob diese Variation des Konfessionalisierungsparadigmas tragfähig ist, scheint der Rezensentin aber zumindest fraglich zu sein. Zum einen ist es erstaunlich, dass Grochowina von einem sehr strikten, geradezu modellhaften Verständnis von Konfessionalisierung und Konfession ausgeht, wie es wohl nicht einmal in den Anfängen von den ‚Erfindern‘ des Paradigmas, Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling, vertreten worden ist. Hierdurch werden unnötig Fronten eröffnet, die ein differenzierterer Gebrauch des Konfessionalisierungsbegriffs gar nicht erst entstehen ließe. Denn ob die von Grochowina als ‚indifferent‘ bezeichneten Personengruppen in ähnlicher Weise nicht auch in den Kernterritorien der Konfessionalisierung im Reich auszumachen wären, ist zumindest nicht von vorneherein auszuschließen. Weiter hätte es vermutlich zur besseren Gewichtung der in der Studie aufgezeigten Phänomene beigetragen, wenn Grochowina stärker komparatistisch gearbeitet hätte. Es ist selbstverständlich, dass in einer Dissertation keine umfassenden, aus archivalischen Quellen erarbeiteten Vergleiche quer durch Europa geleistet werden können. Trotzdem wäre der über die Region hinausreichende Erkenntnisgewinn vermutlich größer gewesen, wenn Grochowina sich bei der Suche nach vergleichbaren Regionen nicht auf Oldenburg und Jever beschränkt hätte. Als Hintergrundfolie, vor der sich die Entwicklungen in Ostfriesland besser einordnen lassen, wäre zumindest ein Blick auf die Niederlande erhellend gewesen – von einer multikonfessionellen und über deutschsprachige Literatur gut erschließbaren Region wie Siebenbürgen einmal ganz zu schweigen. So bleibt festzuhalten, dass das Buch sicherlich einen wichtigen Beitrag zur ostfriesischen Landesgeschichte liefert, aber den durch die inspirierende Einleitung geweckten Erwartungen kaum gerecht wird.

Anmerkungen:
1 Holzem, Andreas, Die Konfessionsgesellschaft. Christenleben zwischen staatlichem Bekenntniszwang und religiöser Heilshoffnung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999), S. 53-85, hier S. 72.
2 Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991.