: Tag der Befreiung?. Das Kriegsende in Ostdeutschland. Berlin 2005 : Propyläen Verlag, ISBN 3-549-07245-7 389 S. € 24,00

Thadden, Rudolf von; Kaudelka, Steffen (Hrsg.): Erinnerung und Geschichte. 60 Jahre nach dem 8. Mai 1945. Göttingen 2006 : Wallstein Verlag, ISBN 3-8353-0049-0 160 S. € 14,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd-A. Rusinek, Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die beiden hier vorzustellenden Bücher lassen unterschiedliche Deutungen erwarten, gehören aber mehr zusammen, als Autoren und Herausgebern vermutlich bewusst ist: Hubertus Knabes Buch über das Kriegsende in Ostdeutschland, das keine „Befreiung“ gewesen sei, sondern Fortsetzung, teils sogar Intensivierung des Terrors unter anderer politischer Farbe; Rudolf von Thaddens und Stefan Kaudelkas Konferenzband „60 Jahre nach dem 8. Mai 1945“, worin Angehörige unterschiedlicher Generationen aus verschiedenen Ländern nach dem Charakter des Kriegsendes fragen.

Knabe, wissenschaftlicher Direktor der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, stellt den Staatssicherheitsdienst in den Mittelpunkt seiner Forschungen zur DDR, denn ohne Stasi sei die DDR nicht zu verstehen. Es ist Knabes Grundgedanke, dass im Osten Deutschlands eine Linie von den politisch gewollten Exzess-Taten der Roten Armee (S. 63) über die politische Logik von Genickschuss, Vergewaltigung, Vernehmungsterror, Folter und Verschwinden zur Stasi-geprägten DDR-Realität bis 1989 geführt habe (S. 37, S. 39). Die Annahme von Liberalisierungen lässt er nicht gelten. Wenn in der DDR unaufhörlich von der „Befreiung“ 1945 die Rede war, so sei dies gezielte Desinformation und Verharmlosung des Terrors der Roten Armee gewesen; wer auf westdeutscher Seite in diesen Chor einstimmte, habe sich mitschuldig gemacht (S. 349).

Knabes Monographie „Tag der Befreiung?“ ist den Opfern der sowjetischen Gewaltherrschaft gewidmet. Begonnen habe diese unter dem Symboldatum des 20. Oktober 1944, als die Rote Armee das ostpreußische Nemmersdorf einnahm und die Bewohnerschaft massakrierte; geendet habe sie am Symboldatum des 9. November 1989 (S. 352). Flüchtlinge, Kinder, Erwachsene, Alte, Männer und Frauen, deutsche Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, auch die überlebenden „Fremdarbeiter“ aus der Sowjetunion, die tatsächlichen oder nur imaginierten politischen Abweichler – die Darstellung ihrer Schicksale in Kapiteln mit allen quälenden Details beendet Knabe jeweils mit der politischen Moral, dass es für die betrachtete Gruppe keinerlei Anlass gab, sich „befreit“ zu fühlen.

Knabes Buch besitzt zwei Ebenen, die dem Autor gleich wichtig sind: die minutiöse Darstellung des Terrors gegen die Deutschen im Osten und die Auseinandersetzung mit dem linksliberalen „common sense“ der Intellektuellen in der Bundesrepublik, entstanden Ende der 1960er-Jahre. Knabes Vorwurf: In der Bundesrepublik habe man die Realität des Terrors wenn nicht akzeptiert, so doch ausgeblendet, die Wirklichkeit in DDR und Ostblock verfälscht und damit Schuld auf sich geladen. Wirklichkeitsausblendungen hätten mit der Unterstellung funktioniert, deutsche Hinweise auf Verbrechen der Roten Armee sollten immer nur von eigenen deutschen Verbrechen ablenken. Knabe nimmt eine ganze Reihe von Standard-Argumenten aufs Korn. Mochte man für den Westen von „Mitläuferfabriken“ sprechen, so habe es im sowjetischen Einflussbereich „Kriegsverbrecherfabriken“ gegeben (S. 118). Die Auffassung westdeutscher Historiker und Publizisten, wonach im Gegensatz zu den nationalsozialistischen Lagern in den sowjetischen keine Vernichtungsabsicht geherrscht habe, bewertet Knabe als feinsinnige Relativierung, die auf den Zynismus hinauslaufe, zehntausendfachen Mord in diesen Lagern als „bestenfalls fahrlässige Tötung“ hinstellen zu können (S. 318 f.). Zu solchen Relativierungen zähle auch die Bevorzugung des Begriffs „Internierungslager“ für die „sowjetischen Konzentrationslager“ (S. 221).

Der Sammelband „Erinnerung und Geschichte“ enthält Vorträge und Podiumsstatements einer im April 2005 vom „Berlin-Brandenburgischen Institut für Deutsch-Französische Zusammenarbeit in Europa“ veranstalteten Tagung. Angehörige der Zeitzeugengeneration begegneten auf diesem Forum in Genshagen jüngeren Forschern und Entscheidungsträgern. (Die männliche Form ist insofern angebracht, als sich unter den insgesamt 21 Beiträgern lediglich eine Frau findet.)

Einem einleitenden Referat von Reinhart Koselleck folgen drei Vortragsblöcke: Erinnerung an den 8. Mai in Ost- und Westdeutschland, Erinnerungen der europäischen Nachbarn, schließlich das Kriegsende in der Erinnerung von Zeitzeugen. Außerdem werden zwei Podiumsdiskussionen dokumentiert: über das Ende des Kalten Krieges und die Einigung Europas sowie über den 8. Mai 1945, 1985 und 2005. Podiumsteilnehmer waren unter anderem Egon Bahr, Marc Ferro, Rudolf von Thadden, Michael Werner, Adam Krzemiński und Richard von Weizsäcker.

Die Beiträge sollen ein tiefenscharfes Bild unterschiedlicher, teils geradezu kriegerisch verfeindeter Erinnerungsparteien geben und fragen, ob und wie sich diese konträren Erinnerungen in eine gemeinsame europäische Geschichte einbringen lassen. „Besiegt oder befreit?“ – im semantischen Kampf um diese Prädikate sieht Edgar Wolfrum, der Erinnerungskonkurrenzen und -inszenierungen in Bundesrepublik und DDR untersucht, beide Male Ideologie am Werk. Wer vom „Tag der Befreiung“ spreche, erkläre alle Befreiten zu Opfern (S. 32). Untergang, Befreiung, Abrechnung, Vertreibung seien Moralbegriffe, bei denen der Historiker an seine Grenzen stoße (S. 31). Wolfrum formuliert gleich mehrfach Positionen, die Sprechern der mittleren Generation, nennen wir sie „1968er“, kaum über die Lippen gekommen wären: Die Bundesrepublik habe die Chance des demokratischen Neuanfangs genutzt (S. 25); es gebe nur wenige Staaten auf der Welt, die so umfassend aus der Vergangenheit gelernt hätten wie die Bundesrepublik (S. 32). Über die Systemstabilisierung und Systemkosmetik des 8.-Mai-Gedenkens in der DDR referiert Fritz Klein, der wie andere Beiträger auch in Zehnjahresschritten vorgeht (1955, 1965, ...) und dabei die DDR-Geschichtswissenschaft besonders im Auge behält.

In Frankreich, so Marc Ferro, gab es den 8. Mai 1945 als helles Symboldatum nicht. Zum Ende des Sommers 1944 habe es dort eine Explosion der Freude gegeben, aber mit dem Kriegsende in Europa sei in Frankreich eine Atmosphäre geistigen Bürgerkriegs zwischen ehemaligen Angehörigen der Résistance und Kollaborateuren entstanden (S. 53). Die Kommunisten wollten den Hitler-Stalin-Pakt vergessen machen und Vichy-Aktivisten ihre Kollaboration. Dementsprechend sei auch die Verfolgungsgeschichte der französischen Juden ausgeblendet worden (S. 59).

Alle Beiträge über das Kriegsende außerhalb Deutschlands präsentieren Düsternis. Robert Traba fragt, ob der „8. Mai“ für Polen Ende des Martyriums eines von den Nationalsozialisten besetzten und verwüsteten Landes oder Anfang einer kommunistischen Gewaltherrschaft gewesen sei, und vertritt den Standpunkt, beides sei zutreffend. Traba präsentiert eine Typologie der etwa 17.500 polnischen Gedenk-Orte, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern – so Denkmäler der Dankbarkeit, des Heldentums, des Martyriums (S. 74). Michael Wieck, geboren 1928, war 1945 in Königsberg geblieben. Was dem Kriegsende folgte, sei die schwerste Zeit seines Lebens gewesen (S. 131). Als „Geltungsjude“ war er von den Nationalsozialisten gehetzt worden, nach Kriegsende fand er sich in einem sowjetischen Lager wieder. Ähnlich wie der Pole Robert Traba in seinem Vortrag weist der Lette Grigorijs Krupnikovs in der ersten Podiumsdiskussion auf den 8. Mai 1945 als Scharnier zwischen zwei Okkupationen hin. Er fordert für die sowjetischen Verbrechen der zweiten Okkupation „eine Art zweites Nürnberg“, um juristisch ans Licht zu bringen, was in der Sowjetunion mit den Letten geschah (S. 109).

Reinhart Kosellecks Aufsatz „Der 8. Mai zwischen Erinnerung und Geschichte“ (S. 13-22) ist einer der letzten publizierten Texte aus seiner Feder. Koselleck (1923–2006) unterscheidet programmatisch zwischen Primär-Erinnerungen, Sekundär-Erinnerungen und den Aufgaben einer kritischen Geschichtswissenschaft. Die Primär-Erinnerung, mit der er durchweg Erinnerung an Schrecknisse meint, sei in den Leib geschrieben oder gebrannt; sie sei nicht kommunizierbar. Das zwischen überlebenden Juden und einstigen deutschen „Volksgenossen“ nach 1945 vorherrschende Schweigen sei die angemessenere Form der Erinnerung gewesen, als über nicht vermittelbare Erfahrungen zu reden, aber nichts zu sagen. Hier kommt Koselleck seinem alten Kollegen Hermann Lübbe ein Stück entgegen.

Mit der alle Weggefährten des Kriegsgeschehens umfassenden Primär-Erinnerung ist es nicht getan, wenn wir etwas über den Krieg wissen wollen. Mit dem Hinweis auf ihre Nichtvermittelbarkeit hat Koselleck ohnehin einen hermeneutischen Riegel vorgeschoben. In einem Erkenntnisakt, der die Ebene von Primär-Erinnerungen übersteigt, ohne ihnen jedoch ihre menschliche Dignität zu nehmen, differenziert Koselleck den Begriff „Opfer“: Die Opfer, „die die Deutschen im Zweiten Weltkrieg erbracht hatten“ (die Deutschen wohlgemerkt, nicht Wehrmacht oder SS), seien „vorerst aktive Opfer“ gewesen, „gedacht fürs Vaterland“, umgekommen in einer „selbstverschuldeten Katastrophe“, wogegen es sich bei den ermordeten Juden, Slawen, russischen Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern, den gefallenen Soldaten der Kriegsgegner um „passiv erlittene Opfer“ gehandelt habe (S. 17f.).

Was Koselleck auf der Ebene der subjektiven Primär-Erinnerung gestattet – unterschiedslos zu trauern und zu leiden, gleichviel, ob der Verlust den Ehemann betraf, der in der Waffen-SS umgekommen war, den als Panzerfahrer verheizten 16-jährigen Sohn, das in irgendeinem Ghetto zugrunde gegangene kleine Mädchen –, sieht er auf der Ebene von Geschichtskultur und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung als Ideologie. Einmal mehr artikuliert Koselleck hier seinen Zorn, die Inschrift in der Berliner Neuen Wache („Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“) sei eine Halbwahrheit, „schlimmer vielleicht als eine Lüge“ (S. 17).

Egon Bahr sagte bei einer Podiumsdiskussion, die der Band dokumentiert, 60 Jahre Kriegsende sei das letzte runde Datum, an dem noch Zeitzeugen versammelt seien. Koselleck fügt hinzu, mit dem Abtreten der Trägergeneration von Primär-Erinnerungen verändere sich die „gesamte Erinnerungslandschaft“, denn nun würden die Sekundär-Erinnerungen ihren Platz einnehmen (S. 14). Darunter versteht er erlernte Wissensbestände über Erinnerungen und Erfahrungen jener Menschen, deren Eigenerfahrungen „gerade nicht erlernbar sind“. Damit sei der Schritt von der einmaligen Primärerinnerung zur medial vermittelbaren Gedächtnisleistung vollzogen (S. 14). Man könnte diesen für Koselleck so wichtigen Unterschied an einem 1925 und einem 1975 geborenen VVN-Mitglied deutlich machen.

Koselleck misstraut beiden Erinnerungsformen – die primäre sei nicht diskursfähig, nicht zu verifizieren und zu falsifizieren, die sekundäre Erinnerung nicht missbrauchssicher. Primäre Erinnerung sei authentisch, aber nicht kommunizierbar; sekundäre Erinnerung sei kommunizierbar, aber nicht authentisch. Der Ausweg bestehe darin, Geschichtswissenschaft an die Spitze der Pyramide von Vergangenheitserkenntnis zu stellen. Geschichtswissenschaft habe „immer ideologiekritisch zu verfahren“; Geschichtswissenschaft sei kein Gedenken der Opfer, Gedenken der Opfer keine Geschichtswissenschaft. Koselleck mahnt zu interpretatorischer Behutsamkeit, warnt vor einem Kampf der kritischen Geschichtswissenschaft gegen Primär-Erinnerungen und verbannt – gegen den Zeitgeist gerichtet – Erinnerung als Erkenntniskategorie aus dem Arkanbereich der kritisch-geschichtswissenschaftlichen Hermeneutik.

Grundgedanken dieses Vortrags von 2005 hatte Koselleck bereits 1999 im Zusammenhang der damaligen Berliner Denkmalstreitigkeiten entwickelt.1 Seinerzeit hatte er drei Formen von Erinnerung beschrieben: geschichtswissenschaftliches Erklären, moralisches Urteilen, religiös-christliche Sühne. Die religiöse Dimension spielt in Kosellecks Reflexionen von 2005 nun keine Rolle mehr; wo er 1999 von gleichrangiger Unzulänglichkeit dreier Erinnerungsformen gesprochen hatte, erkannte er 2005 der Geschichtswissenschaft in kritischer Wendung gegen das Erinnerungsparadigma ein Erkenntnisprivileg zu.

Vergleicht man die beiden vorgestellten Bände, so überrascht die Größe der Schnittmenge. Hubertus Knabes Darstellung ist immer auch 1968er-„bashing“; Angehörige dieser diskursbeherrschenden Generation sind in dem Sammelband „Erinnerung und Geschichte“ gar nicht erst vertreten. Ihre engagierte kritische Wissenschaft wird von Knabe nicht akzeptiert und findet bei von Thadden und Kaudelka keinen Platz. Wenn Koselleck sozusagen testamentarisch verfügte, Geschichtswissenschaft habe „kritisch“ zu sein, dann meinte er damit nicht etwa in politischem Sinne „engagierte“ Geschichtswissenschaft – diese hätte er gar nicht als Wissenschaft anerkannt, sondern einem von den Termini „Erinnerung“ und „Betroffenheit“ beherrschten Begriffsfeld zugeordnet.

Knabe schreibt, er habe sein Buchmanuskript zunächst beiseite legen wollen, nachdem er von einer NPD-Veranstaltung über die „Befreiungslüge“ erfuhr – es sei aber kein wissenschaftliches Argument und keines gegen die Wahrheit, dass gleiche Sachverhalte von unerwünschter Seite ebenfalls herausgestellt würden (S. 351). Koselleck hätte dieser Auffassung ohne Zweifel zugestimmt. Was in dem Sammelband ausgeführt wird – etwa von Traba über den politischen Totenkult in Polen nach 1945, von Tych über Krieg und Befreiung in Polen, von Wieck über Königsberg, von Krupnikov über die Sowjets in Lettland –, kann von Knabes scharfer Kommunismuskritik gar nicht übertroffen werden.

In den letzten Jahren ist eine Reihe von Monographien mit Themen erschienen, wie sie Knabe und eine Reihe von Beiträgern in „Erinnerung und Geschichte“ behandeln. Viele dieser Bücher, die in teils kalkulierter Provokation an der „political correctness“ kratzen, entstanden nicht im universitären Betrieb oder wurden dort heftig bekämpft. Genannt seien Knabes eigene Arbeit über die Kraken-Ausgriffe der Stasi auf SDS und 1968er-Bewegung2, Jörg Friedrichs Buch über den alliierten Luftkrieg3 und die von Enzensberger herausgegebenen Aufzeichnungen einer Anonyma über das Leid der Frauen 1945 im russisch besetzten Berlin.4 Was sich darin abzeichnet, wird man in einigen Jahren wohl als tendenzielle Entsozialdemokratisierung des „outillage mental“ in der deutschen Zeitgeschichtsforschung beschreiben.

Anmerkungen:
1 Koselleck, Reinhart, Die Diskontinuität der Erinnerung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), S. 213-222.
2 Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999.
3 Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, Berlin 2002.
4 Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945, Frankfurt am Main 2003 (rezensiert von Constanze Jaiser: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-138>).

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