Willy Brandt - Berliner Ausgabe: Außen- und Deutschlandpolitik

Cover
Titel
Ein Volk der guten Nachbarn. Außen- und Deutschlandpolitik 1966-1974


Autor(en)
Brandt, Willy; bearb. v. Fank Fischer
Reihe
Berliner Ausgabe 6
Erschienen
Anzahl Seiten
677 S.
Preis
€ 27,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Bange, Historisches Seminar, Universität Mannheim

Das Bemerkenswerteste am neuen Band der Berliner Willy-Brandt-Ausgabe könnte sein Titel sein. Denn überraschender Weise kommt ausgerechnet dieser lang erwartete Band, der sich mit den Jahren der Neuen Ostpolitik beschäftigt, ohne jede Referenz zu jener Politik aus, mit der Willy Brandts Name wohl auf immer assoziiert werden wird.

Dies verwundert zunächst, hat aber durchaus programmatischen Anspruch, und die Hauptperson selbst würde es wahrscheinlich sogar gefreut haben. Schließlich hatte der Außenminister der Großen (1966-1969) und der Kanzler der sozial-liberalen Koalition (1969-1974) die von ihm maßgeblich mitinitiierte Neuorientierung westdeutscher Ostpolitik immer als Teil seiner eigenen, umfassenderen Vorstellungen von einem neuen, freiheitlichen, friedlicheren, stabileren, sozialeren, ja sozialdemokratischeren Europa verstanden. Und genau deshalb gehören die in dem anzuzeigenden Editionsband abgebildeten Ideen und Konzepte Willy Brandts zur Deutschland- und Außenpolitik, zur West- und Ostpolitik, zur Europapolitik, letztlich auch zum (weitgehend gescheiterten) Export der hier entwickelten Ansätze zur friedlichen Lösung von Konflikten durch langfristige Transformationsstrategien in einen Gesamtzusammenhang. Herausgeber und Bearbeiter haben dies erkannt – und für ihren Mut, mit der vorgelegten Selektion von Dokumenten dem Sog der Erwartungen widerstanden zu haben, gebührt ihnen Anerkennung.

Der Band enthält 93 Dokumente unterschiedlicher Provenienz, denen eine knapp neunzigseitige Einführung des Bearbeiters vorangesetzt wurde. In gut einem Viertel der Dokumente spiegelt sich die Arbeit Brandts als Außenminister der ersten Großen Koalition. Auch hier haben die Editoren Augenmerk bewiesen, denn schließlich wurden in diesen Jahren entscheidende Gleise für die neue Bonner Ostpolitik gelegt, die von der sozial-liberalen Koalition bald darauf mit oft atemberaubender Geschwindigkeit befahren werden konnten. Das sich gerade in diesen Jahren nicht nur thematisch, sondern auch räumlich stetig verbreiternde Wirkungsspektrum Brandts spiegelt sich auch in der Herkunft der Dokumente.

Sehr viel mehr als in anderen Bänden der Reihe, die stark aus den Beständen des Willy-Brandt-Archivs schöpfen, wurde hier auf (in diesem Sinne) fremde Quellenbestände zurückgegriffen. Dabei vermitteln die Dokumente aus den Archiven von Berthold Beitz, Olof Palme und Helmut Schmidt besondere Einsichten über die Rückkopplung von Willy Brandts Ost- und Deutschlandpolitik in Partei, Gesellschaft und im Netzwerk (west-)europäischer Sozialdemokraten. Darüber hinaus wurde auf SPD-Parteiakten (4 Dokumente), auf das Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (3), auf Bundestagsprotokolle (8), auf den SPD-Pressemitteilungen, auf Akten des US-Nationalarchivs (16) und Artikel und Interviews (14, davon 8 allein aus dem SPIEGEL) zurückgegriffen. Ein guter Teil der ausgewählten Texte stammt also aus überregionalen Medien oder ist – wie die Bundestagsprotokolle – anderweitig gut zugänglich. Viele der Dokumente sind in der Tat so interessant, dass sie bereits in anderen Quelleneditionen abgedruckt wurden. Dies gilt insbesondere für die „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“, in der allein 14 der hier präsentierten Dokumente aus der Zeit der sozialliberalen Koalition abgedruckt worden sind, sowie die „Dokumente zur Deutschlandpolitik“. Manches amerikanische Dokument zur Korrespondenz zwischen Nixon und Brandt dürfte sich auch in dem für 2006 angekündigten Deutschland-Band der „Foreign Relations of the United States“ wiederfinden. Ob der Anspruch des Bearbeiters, bei zwei Dokumenten (Nr. 33 und 38) die vollständigere Version ediert zu haben, zur Rechtfertigung derartiger Dubletten reicht, mag jede/r Leser/in selbst entscheiden. Wie auch in den vorangegangenen Bänden hätte man sich auch hier ein leserfreundlicheres Layout gewünscht, so zum Beispiel Fuß- statt Endnoten (was das Lesen des wertvollen und umfangreichen Anmerkungsapparates deutlich erleichtern würde) oder statt der spröden Auflistung der Dokumente jeweils eine kurze Zusammenfassung des Inhalts, gerne auch mit Archivangaben (die der Benutzer so erst mühsam in den Dokumenten selbst suchen muss).

Während die ausgewählten Dokumente so von erhellender Relevanz sind, trägt die umfangreiche Einführung des Bearbeiters Frank Fischer dem Stand neuester internationaler Forschung oft nur ungenügend Rechnung. Viele der hier präsentierten Dokumente widersprechen dem überkommenen Stereotypen verhafteten Einleitungsteil. So macht sich Willy Brandt in Dok. 22 über die harmlos ausgefallenen Störversuche lustig, die DDR-Grenzer und sowjetische Soldaten angesichts der Abhaltung der Bundespräsidentenwahl im März 1969 in Berlin vornahmen. Statt „heftiger Störungen“ – wie es der von Fischer übernommene publizistische Mythos will – bestand deren Höhepunkt in der Beschlagnahmung einer Kleinlasterladung von Koppelleder (das die Ostpropaganda triumphierend als Beweis für militärische Produktion in Westberlin verkaufte). Die Umstände dieser letzten Berlinkrise sind ausgerechnet in Berliner Archiven bestens dokumentiert und mittlerweile auch historiografisch (im selben Verlag) kritisch analysiert worden.1 Die im Westen so genannte „Ulbricht-Doktrin“ ist in der internationalen Historiografie längst als „Gomulka-Doktrin“ entlarvt worden2 und selbst Brandt vermutete schon bald darauf (in Dok. 6), dass die sowjetischen Unterstützung dafür mehr dem Blockzusammenhalt als dem eigentlichen Streitthema – der Verhinderung diplomatischer Beziehungen zu Bonn – galt. Dass die Ostpolitik der Großen Koalition von 1967 bis 1969 festgefahren blieb, gehört dabei genauso ins Reich der Mythen wie das angebliche Desinteresse der sowjetischen Führung am „Signal von Reykjavik“ der NATO, und auch die angebliche Absurdität sowjetischer Vorwürfe über eine unangemessene Involvierung der Bundesrepublik im Prager Frühling bedarf einer gewissen Revision.3 Ähnlich steht es um die seit langem etablierte „Wahrheit“, dass Kanzler und Außenminister der Großen Koalition nicht nur persönlich, sondern auch deutschland- und ostpolitisch nicht miteinander konnten. Statt dem Druck ihrer Parteien und Berater nachzugeben, vereinbarten Brandt und Kiesinger im April 1969, diesen Themenbereich möglichst umfassend aus dem Sommerwahlkampf herauszuhalten, um das gemeinsam Erreichte nicht zu gefährden.4 Auch die Rolle Ulbrichts wird in der tradierten und eigentlich längst revidierten Gussform wiederholt. Statt einen deutsch-deutschen Dialog im Keim zu ersticken (wie es die westliche Fehlperzeption sah), hatte Ulbricht aber mit Hilfe des berühmten Briefwechsels und eines auch substantiell angereicherten Entwurfs für einen Gesamtdeutschen Vertrag 1967 eigentlich beabsichtigt, mit Bonn und dort insbesondere der SPD ins Gespräch zu kommen. Die damit verknüpfte Türöffner-Funktion zur Beeinflussung des westdeutschen „Proletariats“ misslang gründlich – vor allem, weil die „Freunde“ aus Moskau sich eine eigenständige Deutschlandpolitik der DDR verbaten und die entsprechenden Passagen aus dem Vertragsentwurf entfernen ließen.5 Besonders offensichtlich wird der Widerspruch zwischen Analyse- und Dokumententeil, wenn Fischer abschließend urteilt, dass Brandts Ostpolitik den Zusammenbruch der kommunistischen Regimes keineswegs beabsichtigte, sondern nur akzidentell und unbeabsichtigt dazu beigetragen habe. Brandt selbst machte seinen Willen zur direkten oder indirekten „Einwirkung“ auf die Gesellschaften in Zentral- und Osteuropa sogar öffentlich, wenn er etwa (SPIEGEL-Interview vom November 1968, Dok. 19) – kurz nach dem Schock der Prager Ereignisse – über das räsonierte, „was die Sozialdemokratismus“ nennen. Die Mittel für diese Einwirkung zum Zwecke der Transformation – sowohl der kommunistischen Gesellschaftsordnung als auch des Ost-West-Konfliktes – sah Brandt wohl in den von ihm durchgängig benutzten Begriffen Realität, Kommunikation und Kultur kodifiziert. Wer sich seiner Sache so sicher war wie Brandt, konnte einer zunehmenden Öffnung zwischen Ost und West – die ja zugleich auch eine Multiplikation der gegenseitigen Einflüsse bedingte – jedenfalls selbstbewusst und zuversichtlich entgegenblicken.

Abschließend sei ein kleiner Aus- und Rückblick auf den Stand der Berliner Willy-Brandt-Ausgabe erlaubt. Mit der vorliegenden Publikation sind nun acht der auf insgesamt zehn Bände angelegten Edition erschienen. Dabei ist, das lässt sich bereits jetzt sagen, ein weiter und vor allem durchgehender Bogen von den Anfängen Brandts in Lübeck, über seine Jahre im Exil und in Berlin bis zum Außenminister und Kanzler der Bundesrepublik und die Zeit des Unruhestandes bis 1982 gelungen, die den Zugang zu diesem außerordentlich komplexen Menschen und Politiker für zukünftige Generationen von Historikern/innen sehr erleichtert. Die Fortschreibung bis 1992 und der Band „Dritte Welt und Sozialistische Internationale“ stehen noch aus. Angesichts der historiografischen Diskussion über die Außenpolitik der oppositionellen SPD in den 1980er-Jahren bis zur Wendezeit und der unterschiedlichen Interpretationen von Brandts Traum einer „Sozialdemokratisierung Europas“ darf man auch diesen Bänden mit Spannung entgegensehen.

Anmerkungen:
1 Vgl. die täglichen Berichte der Berliner Polizei in LA Berlin, Senatskanzlei, Rep 002-13606. Dazu auch: Niedhart, Gottfried; Bange, Oliver, Die „Relikte der Nachkriegszeit” beseitigen. Ostpolitik in der zweiten außenpolitischen Formationsphase der Bundesrepublik Deutschland im Übergang von den Sechziger- zu den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 415-448.
2 Dazu besonders aufschlussreich die ostdeutschen und polnischen Protokolle des Außenministertreffens des Warschauer Paktes in Warschau am 9./10.2.1967. SAPMO: DY30/3396. AAN: KC PZPR, XI A/248. Neben diversen Publikationen von Mieczyslaw Tomala und Douglas Selvage zuletzt: Jarzabek, Wanda, Doktryna Ulbrichta czy doctryna Gomulki? Polska a koordynacja polityki bloku wschodniego wobec Ostpolitik w latach 1966-1967, in: Dzieje Najnowsze 37,3 (2005), S. 19-45.
3 Dazu besonders interessant die zwischen Brandt und Rusk abgesprochene „special role” der Westdeutschen in der ČSSR, dokumentiert in: Foreign Relations of the United States, 1964-1968, Bd. XV (Germany and Berlin), sowie Band XVII (Eastern Europe), Washington 1996 und 1999. Weitere Belege finden sich in den National Security Files der Lyndon B. Johnson-Library.
4 Geradezu abschließend der Brief Brandts an Kiesinger, 18.9.1969. AdsD: WBA, A7, 13. Zum neuesten Stand der Kiesinger-Forschung: Buchstab, Günter; Gassert, Philipp; Lang, Peter Thaddäus (Hgg.), Kurt Georg Kiesinger 1904-1988. Von Ebingen ins Kanzleramt, Freiburg 2005.
5 Kaiser, Monika , Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997.

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