F.-R. Erkens (Hg.): Karl der Grosse und das Erbe der Kulturen

Titel
Karl der Große und das Erbe der Kulturen. Akten des 8. Symposiums des Mediävistenverbandes Leipzig 15.-18. März 1999


Herausgeber
Erkens, Franz-Reiner
Erschienen
Berlin 2001: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 50,11
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Suchan, Monika

An der Wende eines neuen Millenniums lässt eine Gesellschaft den Blick zurückschweifen zu den Wurzeln der eigenen Kultur und damit der eigenen Identität. Dies hat nicht zuletzt die Erinnerung an Karl den Großen gezeigt, die sich in den 1990er Jahren auf verschiedenen Ebenen des historischen Bewusstseins nicht nur einem elitären Kreis von Fachleuten, sondern einem breiten Publikum in den Vordergrund gedrängt hat. Ausstellungen, Vorträge und andere Veranstaltungen über die Epoche des fränkischen Reiches der Karolinger geben in einer Zeit, in der sich die Gestalt und Gestaltung Europas mehr denn je als Aufgabe stellt, Gelegenheit, die Gegenwart durch einen intensivierten Blick zurück in die entfernte Vergangenheit zu verstehen.

Auch der Mediävistenverband hat diese Herausforderung angenommen und im März 1999 in Leipzig eine Tagung mit dem Titel "Karl der Große und das Erbe der Kulturen" veranstaltet, deren Beiträge jetzt als Publikation vorliegen. Die Struktur des Sammelbandes orientiert sich im wesentlichen an den Sektionen des Leipziger Symposiums: Der erste Teil umfasst Person und Herrschaft Karls des Großen; ausgespart bleibt dabei im Kern der eigentliche Anlass des Symposiums, die Kaiserkrönung Karls am Weihnachtstag des Jahres 800, die sich an der Wende zum 3. Jahrtausend zum 1200. Mal jährte. In einem zweiten Abschnitt wird die Epoche des 9. Jahrhunderts thematisiert, d.h. des unmittelbaren Erbes und der Erben. Der dritte Teil vereinigt verschiedene Aspekte der Rezeption des Karolingers und zeichnet damit Herrscherbilder Karls in Historiographie und Kunst des Mittelalters nach. Die Beiträge der vierten Sektion über das Bild von Karl dem Großen seit der Renaissance bis in die Moderne sind separat in der Zeitschrift des Mediävistenverbandes (Mediävistik 4,2, 1999) erschienen.

Die als Bezug genommene Aktualität der Erinnerung an Karl legt die Frage nahe, welche Schwerpunkte gesetzt werden, ja gesetzt werden müssen und können, um die historische Thematik in der Gegenwart fruchtbar zu machen, nicht zuletzt in Anbetracht der 'Konkurrenz' paralleler Unternehmungen. Zu nennen ist hier in erster Linie das Ausstellungsprojekt "799: Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn", das sich nur weniger Monate später, im Sommer 1999, in Paderborn anschloss und wie die Leipziger Tagung die Kaiserkrönung Karls als Anlass und thematischen Schwerpunkt setzte.1 Denn das Treffen zwischen Papst und Frankenkönig an der Pader bildete wahrscheinlich eine wesentliche Etappe der Vorbereitung jenes für die abendländische Geschichte weichenstellenden Ereignisses.

Dem Leipziger Unternehmen hätte eine Profilierung gut getan, die über das bloße Faktum der Erinnerung an die Kaiserkrönung vor mehr als einem Jahrtausend hinausreicht. Im knappen Vorwort des Tagungsleiters und Herausgebers Franz-Reiner Erkens vermisst man entsprechende Leitlinien umso nachhaltiger, ein Eindruck, der sich mit dem Blick auf die inhaltliche Zusammenstellung der einzelnen Sektionsbeiträge bestätigt. Am geschlossensten und prägnantesten erscheint noch der erste Abschnitt, "Karl der Große und seine Zeit", als dessen Schwerpunkte lapidar der "Kaiser" und seine "Herrschaft" (S. IX) angegeben werden. Hier hätte es sich vielleicht angeboten, konsequent zu verfolgen, was Rudolf Schieffer in seinem Eröffnungsvortrag als ein nicht nur für Karl den Großen, sondern für jede historische Figur zentrales methodisches Problem aufgezeigt hat: jenes "der Diskrepanz zwischen eigenem Wollen und tatsächlichen Wirkungen" (S. 4). Intentionen und Pläne von Persönlichkeiten der Vergangenheit seien in der Regel nicht unmittelbar durch die Quellen erfassbar. Es erhebe sich hier gerade für das Mittelalter - auf das diese 'Regel' in herausragender Weise zutrifft - die Frage, ob für die Zeitgenossen bzw. in dieser Epoche Politikentwürfe überhaupt entwickelbar gewesen seien. In der Geschichtswissenschaft werde zu oft der einfache und damit vereinfachende Schluss von Fakten auf Motive bzw. Pläne vollzogen. Dafür seien Karl der Große und die mit seinem Wirken in erster Linie verbundene herrschaftliche Expansion exemplarisch.

Innerhalb der historischen Mediävistik versucht man diesem methodischen Dilemma bereits zu begegnen, indem nach dem konkreten Handeln, dem Verhalten des Herrschers gegenüber bestimmten politischen Kräften bzw. in spezifischen Situationszusammenhängen, der 'Herrschaftspraxis', gefragt wird. Auch innerhalb des Tagungsbandes hat etwa Brigitte Kasten mit ihrem Beitrag über "Lokale Mittelgewalten" explizit die "Herrschaftspraxis der Karolinger" thematisiert. In Anknüpfung an ihre Habilitationsschrift 2 untersucht sie die Maßnahmen Karls zur Durchsetzung karolingischer Herrschaft im Regnum Aquitanien. Sie konstatiert ein schrittweises Vorgehen; die Beziehungen zum aquitanischen Adel wurden von Seiten des Königtums "offen" und flexibel gestaltet, indem dieser in ein Geflecht persönlicher Bindungen sowohl zum Gesamtherrscher als auch zu dessen Sohn eingebunden wurde. Demnach ließe sich weniger der zielgerichtete Aufbau quasi moderner bürokratisch-staatsrechtlicher Strukturen denn ein auf Flexibilität ausgerichtetes Management persönlicher Beziehungsgeflechte durch die Karolinger festmachen.

Franz Staab führt in seinem Beitrag über "Knabenvasallität in der Familie Karls des Großen" vor, wie die Karolinger innerhalb der Dynastie ein politisches Gleichgewicht herzustellen und damit die Gefahr potentieller Ansprüche auf größere Anteile an der Regierung durch die Mitglieder der eigenen Familie zu minimieren versuchten. Indem Karl etwa den eigenen Enkel als Vasallen annahm, entzog er möglichen dynastisch begründeten Herrschaftsansprüchen von dessen Seite den Boden. Dies gilt auch und gerade für Herzog Tassilo von Bayern, wie Karl ein Enkel Karl Martells; die vasallitische Beziehung der beiden Vettern ist in der Forschung bisher aus der anachronistischen Perspektive der Staatsbildung, die Entmachtung des Vetters somit auch als 'Prozess' begriffen worden.
Lutz E. von Padberg greift mit der "Spannung von Gentilismus und christlichem Universalitätsideal" ein Kernproblem der Kulturbildung in der Epoche des Überganges von der Spätantike zum Frühmittelalter auf und zeigt die Konsequenzen für die Herrschaftsbildung im Karlsreich, die sich aus der im Christentum begründeten universalen Zuständigkeit Gottes für alle Menschen gegenüber der gentilen Zersplitterung der Gottheiten ergaben. Deutlich wird das Bemühen Karls, den christlichen und den christianisierten Glauben als politisches Instrument karolingischer Machtausübung zu nutzen, indem der König als irdischer Repräsentant Christi auftrat und als solcher jedem Glaubensgenossen eine eidliche Treueverpflichtung abverlangte. Unentschieden erscheint dabei das Erkenntnisproblem des Schlusses von 'Fakten' auf 'Motive', inwiefern es sich also bei den skizzierten Maßnahmen Karls um politische Konzepte oder rein intuitive Maßnahmen zur eigenen Machtsicherung handelte.

Disparat in thematischer Reichweite, Methode und Fragestellungen erscheinen die weiteren Beiträge dieses ersten Abschnittes - was leider auch auf den gesamten zweiten zu "Karls Erbe und Erben" zutrifft. Daher seien nur einige Beiträge herausgegriffen. Egon Boshof setzt sich mit der von Nikolaus Staubach vertretenen These auseinander, Karl der Kahle habe die Nachfolge des Großvaters Karl als politisches Programm in seiner Regierung umzusetzen versucht. 3 In einer methodischen Auseinandersetzung mit den relevanten Quellen kann Boshof plausibel machen, dass das Handeln des Enkels in erster Linie in den unmittelbaren Erfordernissen einer konkreten Situation und damit in machtpolitischen Bedingtheiten verankert war; lediglich ein 'herkömmliches' Familien- bzw. Dynastie-Bewusstsein, kaum jedoch eine spezielle 'Karlstradition' ist erkennbar.

Wilhelm Busse wendet die Perspektive des Sammelbandes und fragt nach der 'karolingischen' Reform König Alfreds, die vor allem in der englischen Forschung wie auch im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit ohne erkennbare kritische Distanz vertreten wird. Pointiert und methodisch überzeugend, argumentiert Busse, dass Alfred persönlich an der Konzeption und Umsetzung gar nicht beteiligt gewesen sein kann. Es fehlten dem König nicht nur Zeit und Gelegenheit, sondern eine Tätigkeit als Gelehrter und 'Programmat' hätte zutiefst den Anforderungen an einen frühmittelalterlichen König widersprochen. Den Ausschlag für eine Umsetzung von Reformen auf der Insel nach kontinentalem Vorbild dürfte zudem von 'außen', vor allem von Seiten des Papstes erfolgt sein.

Die thematische Weite des Spektrums von "Rezeption und Wirkungen" steht jener der vorangegangenen Abschnitte nicht nach, lässt in seinen einzelnen Beispielen aber insgesamt recht deutlich werden, dass Karl der Große, wie bereits in jüngerer Zeit erneut in einem eigenen Band zusammengetragen worden, ein "vielberufener Vorfahr" 4 gewesen ist, der in zahlreichen literarischen Genres für ganz unterschiedliche erzählerische Motive wie Intentionen herhalten musste. Dorothea Walz etwa zeigt, wie verschiedene Erzähltraditionen im Kloster auf der Reichenau in der Darstellung Karls als "verhinderter Seefahrer" zusammengeführt worden sind; sie dienten dazu, den Besitz der Abtei an einer wertvollen Heiligblutreliquie zu erklären und damit in einen universalen heilsgeschichtlichen Kontext einzuordnen. Bernd Schütte führt vor, wie "Karl der Große in der Historiographie der Ottonen- und Salierzeit" bereits als Erinnerungsschablone benutzt worden ist, um ganz 'pragmatisch' zeitgebundene, von der historischen Figur weitgehend unabhängige Darstellungsabsichten zu verfolgen, beispielsweise die Herrschaft des Saliers Konrad II. zu legitimieren. "Das Bild Karls des Großen in der politischen Lyrik" des Spätmittelalters ist nach Stefan Hohmann das eines gerechten Richters und vorbildlichen Herrschers. Kerstin Wiese schließlich macht plausibel, das der berühmte Karlsschrein weniger reichspolitische Deutungen der Herrschaft des Karolingers zum Ausdruck bringt; vielmehr haben die dargestellten Könige und Kaiser eine Memorialfunktion, an die Wohltäter der Kirche zu erinnern und damit zugleich das Geschichtsbewusstsein der Kirche als 'Institution' zu prägen.

Ein Urteil über den Band als Ganzen würde vielleicht zu Recht den Erwartungen am Ende der Rezensionslektüre, weniger jedoch diesem Buch entsprechen, das sich vor allem durch eine Heterogenität auszeichnet. Wer sich der karolingischen Vergangenheit Europas nähern will, sollte eine Blick hineinwerfen, weil ihm ansonsten lesenwerte und anregende Einsichten einzelner Beiträge verborgen blieben.

Anmerkungen
1 Zur Paderborner Ausstellung ist eine dreibändige Publikation erschienen: 799: Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. Bd. 1 und 2: Katalog der Ausstellung Paderborn 1999, Bd. 3: Beiträge zum Katalog, hg. v. C. Stiegemann - M. Wemhoff, Mainz 1999.
2 B. Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit (= Schriften der MGH 44) Hannover 1997.
3 N. Staubach, Das Herrscherbild Karls des Kahlen. Formen und Funktionen monarchischer Repräsentation im Mittelalter, 1. Teil, Phil. Diss. Münster 1982; ders., Rex christianus. Hofkultur und Herrschaftspropaganda im Reich Karls des Kahlen, Teil 2: Die Grundlegung der "religion royale", Köln - Weimar - Wien 1993.
4 Karl der Große als vielberufener Vorfahr. Sein Bild in der Kunst der Fürsten, Kirchen und Städte, hg. v. L. E. Saurma-Jeltsch (= Schriften des Historischen Museums 19), Sigmaringen 1994.

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